Paul wohnt gegenüber. Paul ist mein Freund, obwohl wir uns selten sehen. Wir kommunizieren im Regelfall durch eine dicke Hecke, die zwischen seiner Hütte und meiner Terrasse wächst. Wenn ich rüber rufe „Alles klar Paul?“ dann bohrt sich eine winselnde Nase durch das Gestrüpp und ich lege kurz meine Hand darauf. Paul vertraut mir blind. Es handelt sich bei Paul um einen schwarzweiß gemaserten Deutsch-Kurzhaar, ich selbst bin ein grauer Deutsch-Kurzhaar
Bei Wikipedia heißt es über den Deutsch-Kurzhaar:
„Er lässt sich leicht abrichten und ist zudem ein anhänglicher Begleithund. Er passt sich gut an das Leben in der Familie an und ist bei richtigem Umgang freundlich zu Kindern, jedoch benötigt er viel Bewegung und entsprechende Aufgaben.Geeignete Beschäftigungen sind alle Formen der Nasenarbeit, wie Fährtenarbeit und Apportiertraining.“
Meine Frau findet das ziemlich treffend. So gehört es zu meinen Aufgaben einmal in der Woche bei Aldi und Lidl die Sonderangebote zu apportieren. Meine Nasen- und Fährtenarbeit sagt mir beispielsweise für kommende Woche, dass es Rinder-Sauerbraten, Pulled Pork, Frescobaldi 2015 Toscana und Ariel „3 in 1 Pods“ gibt.
Vielleicht verstehen Paul und ich uns deshalb so gut. Pulled Pork ist auch eher was für Paul – Chappi ist auf Dauer langweilig. Vielleicht verstehen wir uns aber auch, weil wir beide ausgesprochene Stadtbewohner sind. Unsere Häuschen stehen wie eine Insel mitten in der großen Stadt. Sie ist im Laufe der Zeit einfach darum herum gewachsen. Hecken und ein paar Efeu-bewachsene Mauern schirmen uns ein wenig von den Blicken der Passanten ab. Als Stadtbewohner wird man zwangsläufig zu einem akustischen Wesen, weil es ständig was zu hören gibt.
In meiner unmittelbaren Nachbarschaft, residieren drei Kirchen, eine moderne Betonversion, eine klassische und eine mit Zwiebelturm – wir sind in Bayern. Eine davon läutet immer, oder schlägt die Viertelstunde, weil die verschiedenen Konfessionen offenbar jeweils eigene Vorstellungen über die Uhrzeit haben. Besonders die mit dem Zwiebelturm, die zeigt aus irgendeinem Grund die Ortszeit von Los Angeles an. Das gibt meiner Wohnlage ein internationales Flair.
Wenn nix mehr bimmelt, wird er unruhig
Das ständige Gebimmel hat etwas kontemplativ Beruhigendes, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Es entspannt mich so ähnlich wie einen Bauern, der auf der Alm das Geläut seiner Kühe hört und weiß – es ist alles in Ordnung. Wenn nix mehr bimmelt, wird er unruhig. Ergänzt wird der christliche Soundtrack durch das Tatütata der Polizeistation, die auch gleich um die Ecke liegt. Mein in Jahren geschulter Eindruck ist folgender: Bei kleineren Karambolagen fahren Sie ganz gelassen los, bei Diebstahl machen Sie das Blaulicht an, bei Körperveletzungen kommt die Polizeisirene hinzu. Anhand der Frequenz der Einsätze habe ich einen sehr genauen Überblick über die örtlichen Aktivitäten von Kriminellen und Rasern. Sagen wir mal so: Es ist nicht weniger geworden.
Bei Paul löst die Polizeisirene sofort einen Nachahmungseffekt aus. Er fängt dann an zu heulen, wie ein Wolf. Und das hört dann der Schnauzer drei Häuser weiter – und fängt ebenfalls an zu jaulen. Den Schnauzer wiederum hört ein Schäferhund in den weiter entfernten Wohnblocks, worauf auch der anfängt, den Mond anzubeten. Da es sich um eine akustische Signalübertragung handelt, vollzieht sich das Ganze in Schallgeschwindigkeit. Die Botschaft wandert dann in einer Signalkette von Augsburg nach München und womöglich weiter bis Rom oder Barcelona. So funktionierten früher Signaltürme. Als ich neulich in Barcelona einen Hund heulen hörte, sagte ich sofort zu meiner Frau: „Jetzt hat in Augsburg einer eingebrochen“.
Für einen strukturierten Tag sorgt ferner die Straßenbahn, die keine zehn Meter entfernt vorbeifährt. Das hört man kaum, man spürt es nur. Man nennt das wohl Körperschall. Klingt wie eine U-Bahn in großer Tiefe. Und strukturiert den Tag. Die erste fährt morgens um halb fünf, die letzte nachts um halb eins. Tagsüber sogar im Fünfminuten-Takt. Wer mir eine Uhr schenkt, macht mir nicht wirklich eine Freude.
Im Sommer, wenn es heiß ist, sind die Gleise weich wie durchgekochte Spagetti und es rumort nur ganz entfernt. Im Winter, wenn der Stahl gefroren ist, dann klingt es, als sei der Mauna Loa neben dem Schlafzimmer ausgebrochen. Sollte ich das Haus mal verkaufen, werde ich es im Sommer tun. Die globale Erwärmung ist auf meiner Seite.
Straßenbahn-Klingeln können ausgesprochen wütend werden
Das moderne Amazon-Unwesen bringt es ferner mit sich, dass immer häufiger ein Auslieferungs-Schnellaster im Wege rumsteht. Dann kann die Straßenbahn nicht weiter. Nun besitzt die kein angenehmes Signalhorn wie ein Lastwagen oder ein Schiff. Nein, sie ist mit einer ziemlich schrillen Klingel ausgestattet – zumindest in Augsburg. Bimbimbim. Das geht ja noch. Aber die Augsburger Straßenbahn-Klingeln können ausgesprochen wütend werden. BIMBIMBIMBIM! Es ist die Hölle. Paul jault dann nicht mehr, er verzieht sich winselnd in seine Hütte. Liebe Autofahrer, vergesst eure Fanfaren und baut euch eine Augsburger Straßenbahnklingel ein. Damit habt ihr ein Überholprestige wie Elias, als er mit seinem feurigen Wagen gen Himmel fuhr.
Sehr hübsch sind im übrigen auch verbale Auseinandersetzungen auf dem Bürgersteig, die Paul und ich meistens ignorieren. Manchmal haben sie aber auch einen gewissen Unterhaltungswert. So wie neulich, als eine junge weibliche Streifenbeamtin aus irgendeinem Grund vor dem Haus einen Betrunkenen gestellt hatte. Es muss sich um eine Zufallsbegegnung gehandelt haben, denn die schmächtige Frau war allein. Dennoch verlangte sie beherzt die Personalien ihres Gegenübers, was dieser mit einer erlesenen Kollektion bayrischer Schimpfworte beantwortete. Er hob drohend die Arme, brauchte sie aber zum Glück um das Gleichgewicht zu halten.
Ich gesellte mich in schlichtender Absicht hinzu und teilte den streitenden Parteien mit, man möge doch den Dialog suchen und auf keinen Fall den Gesprächsfaden abreißen lassen. Der Betrunkene murmelte etwas von „bekloppter Halbdackel“, die Polizistin sagte gar nichts und dachte nur laut. Über ihrem Kopf erschien eine große Sprechblase und in der stand: „Heißt dieser Idiot vielleicht Steinmeier?
Das ganze zog immer mehr Publikum an, doch die angeforderte Verstärkung wollte nicht kommen. Als endlich der Streifenwagen auftauchte, hatte der Missetäter sich im allgemeinen Tohubawohu aus dem Staub gemacht. Die beiden Kollegen entschuldigten sich damit, sich verfahren zu haben, was auf den 100 Metern von der Wache zum Tatort eine echte Leistung darstellt.
Die Polizistin bedachte die beiden daraufhin mit einer Schimpftirade, die sie unmittelbar zuvor von dem Betrunkenen gelernt hatte. Wortgleich. Und auch im Orginaldialekt. Ein echtes Sprachtalent. Die beiden Kollegen hatten was gut zu machen und sprinteten zu Fuss los, um den Unhold doch noch zu schnappen. Sie ließen ihren Streifenwagen mitten auf den Straßenbahnschienen stehen.
Und jetzt kam es, wie es kommen musste: Es entstand ein regelrechter Straßenbahnstau, der nach einiger Zeit in wütendes Geklingel mündete. Daraufhin setzte sich – es war ja inzwischen alles verstopft – auf der Wache ein weiterer Streifenwagen mit Tatütata in Bewegung. Paul begann sofort zu jaulen und zehn Minuten später wussten sie in Barcelona: In Augsburg ist mal wieder die Hölle los.