Dirk Maxeiner / 18.07.2021 / 06:00 / Foto: Pixabay / 58 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke

Vor mehr als einer halben Milliarde Jahren trennten sich Pflanzen und Tiere. Beweglichkeit hieß die Antwort auf Mangelsituationen. Das ist es, was die Lockdown-und Klima-Fanatiker so stört. Ihr Ideal ist der Bürger als Topfpflanze, der einmal am Tag gegossen wird.

Ich habe die letzte Woche aus der Froschperspektive wahrgenommen. Im Schilf auf der Terrasse eines darin verankerten Hausbootes schlug ich die Zeit tot. Das einzige zivilisatorische Hilfsmittel bestand aus einer Sprühflasche mit Autan, wahlweise Anti-Brumm Forte. Von Insektensterben konnte in der von mir gewählten brandenburgischen Einsiedelei keine Rede sein. Zeitlich kann man sich hier ganz weit und gelassen zurücklehnen, die letzte wesentliche Veränderung spielte sich am Ende der letzten Eiszeit ab. In den ersten Wärmephasen taute der Dauerfrostboden auf wie ein Magnum-Schokoladeneis hinter der Autoscheibe, es war allerdings niemand da, den das erschrecken konnte. Die noch verbliebenen Toteisblöcke schmolzen und die meisten der brandenburgischen Seen entstanden. Dies führte zu einem merklichen Steigen der Immobilienpreise, weshalb ich mich mit dem vorübergehenden Aufenthalt auf einem Hausboot bescheiden muss. Dafür wird aber allerhand geboten, insbesondere Flugvorführungen. Wer glaubt, ein reisefreudiges Virus dem Regiment der europäischen Flugsicherung unterstellen zu können, sollte mal eine Weile zuschauen, dann ist er kuriert.

Besonders beeindruckt haben mich die Schwalben, die in den Bäumen am Ufer scharenweise ihr Lager aufgeschlagen hatten. Charakteristisch für die Schwalben ist ihre Anpassung an den Nahrungserwerb in der Luft: Sie erbeuten vor allem Fluginsekten, sind also total auf meiner Seite, warum jeder Bauersmann Schwalbennester auch gerne in seinem Stall toleriert.

Die Flughöhe der Insekten erhöht sich bei gutem Wetter übrigens durch die aufsteigenden warmen Luftmassen. Da die Insektenbrut aus eigener Kraft meist nur in Bodennähe rumflattert, kann man aus der Flughöhe der Schwalben auf die Flughöhe ihrer Beute und damit auf Tiefdruck (schlechtes Wetter) oder Hochdruck (gutes Wetter) schließen. Diese Vorhersage von Schwalbe.com ersetzt Wetter.com und Wetter.de mühelos. An einem Tag flogen sie besonders tief und hielten meinen Bauch für einen festen Teil der Topografie, vermutlich eine eiszeitliche Endmoräne. Jedenfalls errichteten sie mit unglaublichen Flugmanövern so eine Art Iron-Dome über meinem Revue-Körper. Am nächsten Tag schüttete es wie aus Paulaner-Fässern beim Oktoberfest.

Schwalben können kopfüber, zickzack und vermutlich auch rückwärts fliegen, jedenfalls sind sie dem gemeinen deutschen Lufttaxi ein paar Äonen voraus. Auf meiner Terrasse dösend, komme ich zu dem Schluss, sie sollten sofort an die Börse gehen und sich um den deutschen Innovationspreis bewerben. Den werden sie aber wahrscheinlich nicht bekommen, weil Schwalben nicht elektrisch fliegen, sondern Verbrenner sind, was Geistesgrößen wie VW-Chef Herbert Diess nachdenklich stimmen sollte, aber wahrscheinlich nicht wird, weil sie glauben, übers Wasser gehen oder selbst fliegen zu können. Deshalb sei ihnen gesagt: Es wird nix mit dem kohlenstofffreien Europa, die Schwalben machen jedenfalls nicht mit, man müsste ja in der Luft elektrische Ladestationen errichten. Wobei die EU-Kommission sich von derart kleinlichen Bedenken noch nie hat beeindrucken lassen

Schnatternde Gänse- und Enten-Formationen

Auf dem Rücken liegen fördert die politische Beobachtungsgabe überhaupt in vielfacher Hinsicht. So kreuzten immer wieder schnatternde Gänse- und Enten-Formationen den Luftraum. Dabei gibt es für die Tiere offensichtlich zwei Vorgaben. Erstens: Nutze den Auftrieb, den der Flügelschlag eines vor dir fliegenden Vogels verursacht. Zweitens: Nimm dabei eine Position ein, von der aus du ungestört nach vorn blicken kannst. Das ist beispielsweise genau die Verhaltensweise, die Robert Habeck im Windschatten von Annalena Baerbock beherzigt.

Ein bisschen anders liegt die Sache mit dem Schwarmverhalten. Dabei bewegen sich Fische, Vögel oder Insekten gemeinsam in eine Richtung. Vorteile der Schwarmbildung ergeben sich bei der Nahrungssuche und im Schutz vor möglichen Fressfeinden, etwa durch kollektive Wachsamkeit. Typische Schwarmtiere sind beispielsweise Heringe, Stare und Wanderheuschrecken. Bei Landsäugetieren wie Schafen oder Elefanten spricht man bei ähnlichem Verhalten von einer Herde, bei höheren Geschwindigkeiten von einer Stampede. Die kommt prinzipiell auch bei der menschlichen Spezies vor, dort aber stets im Namen höherer Moral. Die vorläufig letzte Veranstaltung dieser Art machte während der Corona-Krise alles nieder, was sich ihr in den Weg stellte. Stampeden haben die tückische Eigenschaft, dass man sie sehr leicht auslösen, aber nur sehr schwer wieder einfangen kann.

Dagegen hilft oft nur großräumiges Umfahren der Unfallstelle, sofern man ortskundig ist. Die Enten am Himmel haben es da leichter, sie nehmen die Luftlinie. Die Sängerin Hildegard Knef hat das Prinzip einmal in ein schönes Lied gefasst: „Ich brauch Tapetenwechsel, sprach die Birke". Das Bild ist sogar naturwissenschaftlich korrekt: Vor mehr als einer halben Milliarde Jahren trennten sich Pflanzen und Tiere. Beweglichkeit hieß die Antwort auf Mangelsituationen. Die Mobilität der Tiere koppelte sie von ihrer Umwelt ab und verlockte mit immer weiteren Räumen und Lebensmöglichkeiten. Die Pflanzen blieben als Futterlieferanten am Wegesrand zurück. 

Der Biologe Professor Josef H. Reichholf sagt: „Die Fortbewegung ist eines der großen, durchgängigen Erfolgsprinzipien der Evolution". Auch heute noch erweist sich das evolutionäre Erbe im täglichen Lebenskampf als hilfreich: Die Suche nach einem Schnäppchen im Kaufhaus beendet eine Mangelsituation. Die Fahrt zum Supermarkt dient dem Nahrungserwerb. Und der Flug nach Ibiza ist entwicklungsgeschichtlich dem Aufsuchen eines Balzreviers gleichzusetzen: Hier werden Partnersuche und Fortpflanzung angebahnt.

Die größte und entscheidenste Leistung der Mobilität auf Erden lag und liegt in der Entwicklung zur Individualität. Die Fortbewegung über weite Strecken machte den Menschen im Verlauf seiner Entwicklung zum Jäger und Sammler von Eindrücken und Informationen. Dieses Wissen hat den Grundstein gelegt für die Freiheit des Denkens und des Geistes. Und so dämmert es mir schwerphilosophisch im Schilf: Das ist es, was die Lockdown-Fanatiker so stört. Ihr Ideal ist der Bürger als Topfpflanze, der einmal am Tag gegossen wird.

 

Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

Foto: Pixabay

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Stephan Bujnoch / 18.07.2021

Stabilitas Loci, also die “Ortsbeständigkeit” war die Vorgabe der Kirche im Mittelalter und danach. Fahrendes Volk, darunter auch Handwerker auf der Walz, waren suspekt. Ihnen wurde Curiositas, also Neugier vorgeworfen. Natürlich, wer viele Orte und verschiedene Lebenssituationen gesehen hat, kann vergleichen. Und genau das ist es, was der Obrigkeit gegen den Strich ging. Keine Diskussionen!

Kurt Schrader / 18.07.2021

Lieber Herr Maxeiner, Wieder einer Ihrer wunderbar lebendigen und leicht dahinfließenden Texte, die es in sich haben, und die große Freude machen ein wirklich schöner Sonntagsgruß…. Danke… PS: Man liest (zur Zeit) sonst fast überall nur meinungsstarken Quark - das Klima hat zwar noch nicht die Welt, aber schon die Köpfe gewandelt - und manchem Impfgegner scheint es auch schon schwer zugesetzt zu haben…

Caroline Berthold / 18.07.2021

Einfach nur brilliant! Den letzten Satz hänge ich mir über den Schreibtisch. Tipp an den Fan-Shop: er wäre ein toller Postkartenspruch!

Frances Johnson / 18.07.2021

schwalbe.com ist himmlisch. Wünsche einen schönen Sonntag. P.S. Englische Fußballer können auch Schwalbe. P.S.2 Muss dringend mal ein Buch von Reicholf kaufen, scharfer Beobachter.

Walter Weimar / 18.07.2021

Es geht nicht nur um Mobilität und Individualität. Ich glaube jede Topfpfanze denkt heute mehr als mancher Zeitgenosse.

Wilfried Cremer / 18.07.2021

Seien Sie beruhigt, Herr Maxeiner, das schöne Porzellan-Gesicht der CO2-Verblödung bröckelt. Die äußere Verwirrung kommt von einer inneren Verlogenheit; global ist das genauso.

Bernd Meyer / 18.07.2021

Richard David Precht dürften Sie damit locker überholt haben. Er auf seinem Dreirad und Sie mit Ihrem Nachbrenner.

Franck Royale / 18.07.2021

Ich ergänze: weil die Lockdown-Fanatiker selber verwelkte Topfpflanzen sind. Sie können die Pracht und die Dynamik der Natur nicht ausstehen, es ist für sie schier unerträglich. Und das ist eben bei allen Looser-Sozis so.

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