Das Kompromat ist ein ursprünglich aus dem Jargon des sowjetischen Geheimdienstes KGB stammender Begriff für kompromittierendes Material, meist über einen Politiker oder eine andere Person des öffentlichen Lebens. Allerdings gibt es Kompromat nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch im Westen. Besonders vor Wahlkämpfen werden kleine schmutzige Geheimnisse hervorgeholt oder erfunden, mittlerweile sogar in deutschen Landen, was ich prinzipiell als unterhaltsames Phänomen begrüße.
Dabei keimt in mir stets der Gedanke an die eigene Vergangenheit auf, deren Details ich nicht unbedingt mit der Weltöffentlichkeit teilen möchte. In meinem Fall kommt strafverschärfend hinzu, dass ich gewisse Vorkommnisse auch noch aufgeschrieben habe, die sich aber zum Glück der digitalen Auswertung entziehen.
So schrieb ich lange Jahre für das Reisemagazin Globo, das längst der Pleite anheimgefallen ist und dessen Inhalte sich deshalb niemals digital niederschlagen konnten. Andernfalls stünde ich jetzt echt im Regen respektive einem veritablen Shitstorm, weil ich dort reihenweise zweifelhafte Aufenthalte fern der Heimat postulierte. Schließlich gelten Reisen, besonders solche nach Mallorca, inzwischen als mörderischer Egoismus, der über Leichen geht und sozusagen Nachbars Oma oder Opa opfert für einen Eimer Sangria am Ballermann.
Wer schon immer einen Dünkel pflegte, hat jetzt endlich einen astreinen Grund, ihn auch noch moralisch zu überhöhen. Kaum tauscht der Arbeiter, dessen Integrität in alternativen Kreisen ansonsten sakrosankt ist, seinen Blaumann gegen eine Badehose und ein TUI-T-Shirt nebst Adidas-Sandaletten ein, wird er zum sofortigen Abschuss freigegeben. „Wie kann man nur so blöd sein! Wie Lemminge ziehen sie dahin! Nichts bekommen sie mit vom fremden Land, stumpfsinnig bräunen sie die seelenlosen Körper“, beschrieb schon vor 25 Jahren der Soziologe Christoph Henning in Die Zeit die alljährliche Touristenschelte der gebildeten Kreise, die inneren Frieden von einer Urschrei-Therapie in Bolivien mit nach Hause brachten, wie einst Kolumbus und seine Mannen die Syphilis.
Die Verachtung der "Massen" gehört zum festen Repertoire jener astreinen Individualisten, die in Wahrheit nix anderes sind als die Wegbereiter derselben. Pikanterweise fungieren gerade Alternativtouristen überall in der Welt als Vorhut des sogenannten Massentourismus. Erst kommen die Hippies und die Aussteiger, dann folgen die Schickis und die Aufsteiger. Schlussendlich sind alle da, und dann sieht die sensible Vorhut nicht mehr grün, sondern rot.
Die Masse sind immer die Anderen
Das Wort „Masse“ wird meist in Kombinationen wie Massenkonsum, Massentourismus oder Massenwahn gebraucht. Solche Begriffe sind geradezu ideal, weil sie niemand, der einigermaßen bei Trost ist, auf sich selbst bezieht. Die Masse sind immer die Anderen, und die dürfen daher in jeder Weise beschimpft werden. Dabei versteht sich von selbst, dass die Beschimpfungen von einer tadellosen, vorbildlich lebenden Minorität ausgesprochen werden, vorbildlich geimpft, maskiert und desinfiziert.
Ich war für Globo sehr gerne im Dienste der Massen unterwegs, da es mir den Aufenthalt in fernen Ländern ermöglichte, die ansonsten außerhalb meiner finanziellen Reichweite gelegen hätten. Auf diese Weise geriet ich beipielsweise in einem Etablissement in San Diego in turbulente Ereignisse, die nach heutigen Maßstäben zu meiner sofortigen Demission führen müssten. Ich konnte ja nicht ahnen, dass dereinst "kontaktarmer Urlaub" das Gebot der Zeit sein würde. Ebenso wenig sah ich voraus, dass ich dereinst mit Hilfe einer so ehrenwerten und vorbildlich beleumundeten Institution wie der Achse des Guten die Welt retten würde. Zum moralischen Ausgleich wählte ich damals die Grünen, schrieb aber in Globo Sachen wie diese:
„Mein Körper gehorcht nicht mehr. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, den Mund weit offen und die Augen auch. Mit jedem Zentimeter, den sich der Aufzug öffnet, wird meine Erstarrung größer. Bei den Insassen löst der Anblick meiner hilflosen Person einen Ausbruch von Frohsinn aus: Sie krümmen sich vor Lachen.
Ich traue mich nicht, da reinzudrängeln. Nach unendlich peinlichen Sekunden schließt die Tür endlich wieder. Ich kann hören, wie die herzliche Heiterkeit sich bis in die unteren Stockwerke des Town & Country Hotels fortpflanzt.
Habe ich nun gewacht oder geträumt? Dieser Aufzug war bis zum letzten Platz mit unwirklichen, offensichtlich weiblichen Wesen von blendender Schönheit besetzt. Alle trugen tief ausgeschnittene weiße Badeanzüge mit schwarzen Scherpen. Sie standen auf unendlich langen Beinen und schwarzen Pumps, mit Absätzen von der Höhe des Eiffelturms.
Hat die kalifornische Sonne, die in San Diego ja ziemlich ununterbrochen scheint, außer nachts, aber da bin ich mir auch nicht sicher, meine Sinne bereits verwirrt? Ich drücke nochmal den Aufzugknopf. Ding Dong, die Tür öffnet sich erneut. Der Lift ist schon wieder voll besetzt. Glauben Sie’s oder nicht: Ein weiterer Schub dieser astralen Wesen lächelt mich freundlich an. Ich beschließe, die Treppe zu nehmen.
„Take it easy“, tröstet mich ein kurzbehoster Herr und haut mir von hinten auf die Schulter. Seine Baseball-Kappe weist ihn als Veteran der „SS Saratoga“ aus. Er ist zum Ehemaligen-Treff der Besatzung des US-Flugzeugträgers gereist. Außerdem, so bekundet er unbekümmert, „bin ich seit 41 Jahren mit einer Fregatte verheiratet.“ Carl hat die feindlichen Gewässer bereits erkundet und klärt mich im Verlauf von zehn Stockwerken auf. Erstens: Im Hotel wird an diesem Tag „Misses America“ gewählt. Zweitens: „Misses Americe“ sollte der Kenner nicht mit „Miss America“ verwechseln. Misses America ist nämlich verheiratet. Drittens: Die USA ist ein großes Land mit 51 Staaten. „Fiftyyyooooone“ dehnt Carl die Zahl wie einen Kaugummi, „dieses Land hat 51 Staaten!“ Damit will er mir das volle Ausmaß der Bescherung klar machen: „Nach Beförderungsvorschrift sind das mindestens 5 Aufzüge“.
Carl beschleunigt den Schritt, denn er will auf keinen Fall verpassen, wie die Armada am Hotelpool vor Anker geht. Seine Kameraden sind bereits vollzählig angetreten und bringen die Kameras ungeniert in Gefechtsposition. Gucken ist erlaubt und irgendwie sogar erwünscht.
Hochburg der „Body-Consciousness“
An dieser Stelle unterbreche ich die Erinnerungen und möchte eher unverfänglich weiter berichten: So wie Franzosen Kochrezepte und Deutsche die technischen Daten ihrer Fahrzeuge austauschen, so kreisen die kleinen Gespräche in San Diego gerne um die Diät. Und daran hat sich seit damals nicht wirklich etwas geändert. San Diego ist nämlich die Hochburg der „Body-Consciousness“. Hier sind 200.000 Jogger unterwegs, überall und jederzeit, sozusagen im Schichtdienst. Die größte Abwehrschlacht, die der bessergestellte Teil des amerikanischen Volkes je geführt hat, ist der Kalorie gewidmet. Inzwischen gewann das Virus aber die Oberhand, was bedeutet: Wenn schon sterben, dann bitte schlank und gesund. Jede Kalorie ist eine zuviel.
In chirurgischer Hinsicht ist das übrigens durchaus wörtlich zu nehmen, was damals in San Diego begann, lässt sich längst auch in Europa beobachten. In Kroatien musste ich unlängst feststellen, dass auch dort die Lifting-Industrie zu den Boombranchen gehört, den Rest gab mir ein inzwischen wieder erlaubter Besuch beim Friseur, bei dem einige Herren ihr in der Türkei transplantiertes Haupthaar vorführten und die jeweiligen Erfahrungen austauschten. Corona hin, Corona her. Nichts ist mehr unmöglich, und das Ganze kostet nicht mehr als ein kleiner Unfallschaden bei einem Toyota. Nun ist ja selbst ein künstlicher Hintern so etwas wie ein Facelifting und will daher sorgsam abgewogen sein. Schließlich lassen sich die neuen Gesichtszüge nicht so ohne Weiteres rückgängig machen. In San Diego entschloss ich mich daher seinerzeit zu einer Schönheitsbehandlung light.
L’Auberge del Mar war schon damals ein sehr erlesenes Haus, also gerade gut genug, um mich im Gesundheitstempel einer kleinen Politur zu unterziehen. Sphärische Klänge umfingen mich, eine Mischung aus Harfe, Flöte und Klavier, gewissermaßen die Vertonung eines Interviews mit Robert Habeck. Stattdessen erschien zum Glück ein anderer Robert, ein Hüne von einem Mann. Er könnte mit seinen Händen eine rohe Kartoffel zerdrücken, das ganze übt er aber mit meiner Schultermuskulatur.
Das war nicht nett von ihm
Während ich leichte Schmerzenäußerungen unterdrücke, versuche ich, auf seine Fragen zu antworten. Er spricht von meinem Körper immer in der dritten Person – wie übrigens alle in Kalifornien. Mein Körper tut gerade dies oder jenes. Körper hier, Körper da, Körper hinten, Körper vorne. Mein Körper stand ständig neben mir und schaute mich vorwurfsvoll an. Das war nicht nett von ihm. Ich beschloss heimlich, ihn nach meiner Rückkehr mit einer Schweinshaxe abzustrafen.
„Es sollte Gesetz sein, seinen Körper in Form zu halten“, erklärte mir damals Robert, ich konnte ja nicht ahnen, dass der gute Mann ein Prophet war. Das Virus und der Umgang damit kommen mir vor wie die finale Mutation des Gesundheitswahns – wie weit das dereinst gehen könnte, war für meine Vorstellungskraft aber bedauerlicherweise so unerreichbar wie die Erstplazierte im Misses-America-Wettbewerb.
Stattdessen ölte Robert meine Hände und Füße und schlug sie dann in Frischhaltefolie ein. Dann legte er mir beheizte Pantoffeln und Handschuhe an. Zur Abwechslung kam ich mir vor wie eine Ofenkartoffel. Am Schluss inspizierte er mich mit fachmännischen Kommentaren und das klang so, als sei ich ein alter Gaul und der Veterinär prüfe, ob man mich noch mal verkaufen könne.
Die Konkurrenz war jedenfalls groß. An der Strandpromenade vom Mission Bay wurde es mitunter regelrecht dunkel, wenn ein hochalpiner Muskelberg sich zwischen mich und die Sonne schob. Obwohl die Kalifornier in puncto Body überhaupt keinen Spaß verstehen, kam mitunter doch milder Spott durch, den heute auch niemand mehr wagen würde. So erzählte mir der Direktor des weltberühmten Zoos von San Diego, dass Mimba, der hünenhafte Silberrücken-Gorilla ein paar Tage zuvor ausgebrochen sei. Er gesellte sich dann auf einem Baugerüst zu den muskulös gut gebuildeten Beton-Facharbeitern. Was der Zoochef mit Worten kommentierte, die ihn heute sofort seinen Job kosten würden: „Wir haben Mimba natürlich doch erkannt, er hatte keinen Helm auf“.
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