Ich leide gemeinsam mit dem Hund meines Nachbarn unter präseniler Schlaflosigkeit, wir sind immer früh ausgeschlafen. Neulich morgens um sechs, beim aushilfsweise Gassi-Gehen, treffen wir auf einen Haufen Sperrmüll. Ganz unten ragt ein Speichenrad heraus. Ich erspähe es unter einem Bett, Stilepoche frühes Hertie, verschiedenen Lagen alter und leerer Weinflaschen, Lampen, Matratzen und einem Plattenspieler. Eine nähere Untersuchung ergibt Hinweise auf ein seltenes Stück. Es handelt sich um ein Klappfahrrad mit Hilfsmotor und Rollenantrieb, Marke Garelli, Modell Mosquito, Baujahr 1967, damals beim Versandhaus Neckermann für 299 Mark im Katalog bestellbar.
Das weiß ich so genau, weil ich ein solches Gefährt zur Konfirmation geschenkt bekam. Besser gesagt: Alle haben gesammelt, damit ich mir eines bestellen konnte. Ich war damals schon ziemlich groß und noch ziemlich dünn und sah sehr lustig auf diesem motorisierten Klappfahrrad aus. In der Kleinstadt, in der ich aufwuchs, kannte mich jeder und sie nannten mich "der rasende Strich".
Also so ein Erinnerungsstück kann man doch nicht einfach auf der Strasse liegen lassen. Beim Versuch das Mofa herauszuziehen, kommt eine benachbarte Schrankwand ins Rutschen und begräbt mich unter lautem Getöse. Der mir anvertraute Vierbeiner kläfft obendrauf wie ein Lawinenhund, er findet das neue Spiel klasse. Binnen kurzer Zeit gehen trotz der frühen Stunde sämtliche Fensterläden auf. Ich wusele mich aus dem Müll und tue so als sei nichts gewesen. (Ist doch ganz normal, dass man im Halbschlaf mal in eine Schrankwand läuft).
Mit Schrankwänden kenne ich mich aus
Mit Schrankwänden und alten Einrichtungegegenständen kenne ich mich ohnehin aus. Eine meiner liebsten Freizeit-Beschäftigungen ist ein Besuch im Augsburger Sozialkaufhaus. Das ist ein Projekt der Arbeitshilfe 2000 e.V., alle Erträge kommen zu 100 Prozent dem gemeinnützig ankerkannten Verein mit seinen Hilfeleistungen zugute. Da gibts Mutters alte Küche, 70er-Jahre Couches mit braunem Cord, Haushaltsgeräte, auf denen noch "Braun" draufsteht, Schlafzimmer, die ganze Familiengeschichten erzählen könnten. Aber auch Kleidung, Textilien, Bücher, einfach alles. Freundliche Menschen, von denen die meisten eine Krise in ihrem Leben zu meistern hatten, schmeißen den Laden – und zwar zack, zack.
Es ist eine Freude da zuzusehen und herum zu stöbern. Jedesmal schleppe ich etwas Nützliches, Schräges oder Nostalgisches nachhause. Das letzte mal eine gepolsterte Wäschetruhe mit riesig geblümtem Plastiküberzug und goldenen Beinen aus den 60er-Jahren. Die bekam von meiner Frau allerdings Hausverbot (ich lauere derzeit noch auf eine Gelegenheit es zu unterlaufen).
Das Sozialkaufhaus ist mein persönliches Fantasia-Land. Das Kunden-Spektrum reicht vom Hipster-Pärchen bis zur syrischen Großfamilie, vom Innenarchitekten bis zum Hilfsarbeiter. Wenn ich das so beobachte, dann kommt mir der Gedanke, dass hier nicht nur altes Zeug recycelt wird, sondern auch was Neues ensteht, nämlich gegenseitiger Respekt. Warum geht das bloß im kleinen so gut und im großen so schlecht?
Doch zurück zu meinem morgendlichen Encounter. Peinlich war die Sache da mitten im Sperrmüll ja längst, ich hab das Mofa deshalb trotz zahlloser finsterer Blicke mitgeschleppt. Zuhause habe ich meine Trophäe sorgsam zerlegt. Dann wurden in Italien Ersatzteile beschafft, Teile neu lackiert und verchromt, alles wieder zusammengebaut, neue Papiere beschafft. Kurzum: Das Mofa steht da wie ein Neues und ist inzwischen so teuer wie zwei Neue. Das mit dem Stehen ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn ich fahre natürlich nicht mit dem Mofa, dafür ist es doch viel zu schade.