Ich habe eine Warteschlangen-Phobie. Freiwillig stelle ich mich nirgends an. Und unfreiwillig auch nicht. Ich erinnere mich an einen Besuch auf dem Münchner Oktoberfest – in einer Zeit, als nur die Gangster Masken trugen und die Söderteska für eine schwedische Provinz gehalten wurde. Die vielen Fahrgeschäfte lockten und mein kleiner Sohn wollte unbedingt da hinein. Doch überall Warteschlangen: vor dem Riesenrad, dem Twister, dem Looping, selbst am Kassenhäuschen des Autoscooters. Das einzige Fahrgeschäft ohne Schlange war ein Flohzirkus. Da stand kein Mensch an. Außer uns. Tim wollte nicht hinein, musste aber. Der Nachwuchs erholte sich nur schwer nörgelnd von dieser Schlangenvermeidungsstrategie und reagiert bis heute traumatisiert auf das Wort Flohzirkus. Erst sehr viel später hat er begriffen, wie lehrreich der Besuch war. Er weiß jetzt beispielsweise, nach welchem Vorbild die Bundes-Pressekonferenz organisiert ist.
Es sind harte Zeiten für Schlangen-Muffel. In China fällt das Jahr der Schlange auf 2025, zumindest in Bayern haben wir es vorgezogen. Gestern überall Corona-Schlangen. Vor Aldi, vor Lidl, vor OBI. Schon von Ferne zu sehen. Ich bin mit Sabines kleinem Fiat abgedreht, wie eine Gazelle vor einer mit Krokodilen verseuchten Wasserstelle. Am Wochenende gibt’s deshalb bei uns Dosenfutter. Irgendwas mit Thunfisch. Immer noch besser als Schlange. Und gesünder. DDR-Sozialisierte erinnern sich an die Warteschlange vor der Konsum-Filiale, wenn es Südfrüchte gab. Bundesbürger erinnern sich eher an Disneyland, denn auch da bezahlte man Geld für den ganzen Tag Schlange stehen.
Mit einem Unterschied: Für Disney grübelten über 100 wissenschaftlich beschlagene Wartespezialisten. In einem umfangreichen Programm wurde ein Schlangenentertainmentprogramm entwickelt. So nannte man das mathematisch und psychologisch optimierte Wartesystem. Mit Schlangenentertainment hätte die DDR vermutlich noch zehn Jahre länger durchgehalten. Ich empfehle auch der herrschenden Söderteska, sich Gedanken zu machen. Man könnte beispielsweise Leinwände aufstellen und kurze Filmchen zeigen, wie Markus Söder die bayrische Verfassungsmedaille in Gold überreicht wird. Da kommt doch gleich gute Laune auf in der Schlange.
Ordentliche Schlangen zum Plündern gebildet
In Großbritannien geht ja schon länger das Gerücht, Patriotismus stehe in der Schlange. Als dort das hungernde Volk im Krieg für Essensrationen anstehen musste, wurde das Bild von tadellos wartenden Menschen politisch aufgeladen – und zu einem britischen Symbol für Anstand, Fair Play und Demokratie verklärt. Nach der Beförderung des Nichtstuns zur Heldentat hat die Bundesregierung also noch Luft nach unten; die weltrettende Dimension des Schlangestehens muss endlich ins rechte Licht gerückt werden, man denke nur an die Impfschlange.
Die Briten haben das inzwischen so verinnerlicht, dass die Hooligans 2011 während Straßenunruhen ordentliche Schlangen zum Plündern bildeten. Immer der Reihe nach versorgte sich einer nach dem anderen mit Elektrogeräten, auch ein beschädigter Geldautomat wurde diszipliniert geleert. Angesichts dieses Beispiels bin ich bereit, meine Schlangenaversion für den folgenden Fall zurückzustellen: Sollte sich irgendwo mal eine Schlange bilden, an deren Ende man der Antifa gepflegt eins auf die Zwölf geben kann, bin ich bereit, eine Wartezeit von bis zu 15 Minuten in Kauf zu nehmen.
Prinzipiell empfehle ich den im Westen aufgewachsenen Lesern von Achgut.com das polnische Brettspiel Kolejka, um sich auf den Stand unserer östlichen Landsleute zu bringen. Spielbeschreibung:
„Einkaufen in leeren Läden – Jeder Spieler erhält einen Einkaufszettel und versucht, die nötigen Waren zu ergattern, indem er seine Spielfiguren in den Warteschlangen vor den diversen Läden einreiht. Nach der (knappen) Warenlieferung beginnt die Drängelphase, an deren Ende nur die ersten in der Schlange Waren nach Hause tragen können. Es gewinnt, wer zuerst alle Waren seines Einkaufszettels erstanden hat.”
Für den Fall einer Eurokrise kann das Spiel dann noch um eine Trainings-Einheit in einer britischen Geldautomatenschlange ergänzt werden.
Beschäftigungsmotor Schlange
Schon im Jahr 2016, Gott habe es selig, verbrachte die deutsche Nation 57.000 Jahre beim Schlangestehen an Supermarktkassen und dergleichen, auf den Einzelnen umgerechnet etwa 30 Tage des Lebens. Doch da geht noch was. Die Warteschlange dürfte sich in den nächsten Jahren zu einem echten Beschäftigungsmotor entwickeln und den Autobahnstau mühelos als Kernbranche des deutschen Wohlstandes überholen. Auch ungelernte Kräfte haben eine große Chance als professionelle Schlangesteher, also als jemand, der für einen anderen in der Schlange steht, der gerade keine Zeit hat (oder andernorts eine Schlange wahrnehmen muss).
In Großbritannien wurde bereits vorgeschlagen, aktuelle Kenntnisse im Schlangestehen zum Bestandteil des Einbürgerungstests für Migranten zu machen. In der Sowjetunion hießen die Schlangenprofis „Tramitadoren“, arbeiteten im Schichtdienst und bei jedem Wetter. In Italien heißen sie „Codista“ und es hat sich ein Mindestlohn von etwa 10 Euro eingebürgert. In Deutschland muss gewerbsmäßiges Schlangestehen selbstverständlich versteuert werden und unterliegt der Sozialversicherungspflicht. Aus Gründen der Schlangengerechtigkeit sollten die Finanzbehörden jedoch schnell eine Gesetzeslücke schließen: Wer selbst Schlange steht, erzielt einen geldwerten Vorteil und sollte diesen ebenfalls versteuern müssen. Hilfsweise ist für das Nicht-Schlangestehen Vergnügungssteuer zu erheben.
Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.