Dirk Maxeiner / 24.12.2017 / 06:15 / Foto: Bildarchiv Pieterman / 5 / Seite ausdrucken

Der Sonntagsfahrer: Chez Aldi und Lidl

Es machen sich Phänomene der Knappheit bemerkbar. Allerdings nicht an Lebensmitteln, sondern an Parkplätzen. Hinterhältig lauern wartende Konsumenten vor den endlosen Parkreihen der Discounter, um dann erbarmungslos zuzustoßen, sobald sich das Entstehen einer Lücke andeutet. Drinnen wird derweil mit Produkten „Wie aus Omas Küche" geworben, was für eine gewisse Unkenntnis spricht. Unsere heutigen Lebensmittel sind sehr viel unproblematischer als die von Oma. Eine Danksagung zum Festmahl.

Der letzte Besuch beim Discounter vor Weihnachten zählt für mich stets zu den Höhepunkten des Jahres. Es muss einen geheimen Aufruf geben, so eine Art Flashmob, der die Bevölkerung des Landes am Tag vor Heiligabend geschlossen auf die Großparkplätze vor diesen Institutionen treibt. Es machen sich deshalb auch Phänomene der Knappheit bemerkbar. Allerdings meistens nicht an Lebensmitteln, sondern an Parkplätzen. Hinterhältig lauern wartende Konsumenten vor den endlosen Parkreihen, um dann erbarmungslos zuzustoßen, sobald sich das Entstehen einer Lücke andeutet.

Unschuldige Menschen mit ihren bepackten Einkaufswagen werden hinter getönten Scheiben belauert und von Parkplatzgeiern unauffällig verfolgt. Sobald der Betreffende seine Einkäufe ins Fahrzeug geladen hat und ausparken will, stürzen sich gleich mehrere deutsche Automobilisten auf den frei werdenden Parkraum. Da nicht immer Einigkeit darüber herrscht, wer nun der Erste in der Reihe war, entsteht so ein melodisches vorweihnachtliches Hupkonzert. Es ist mir immer wieder eine Freude meine Landsleute beim gemeinsamen weihnachtlichen Musizieren zu beobachten.

Die Romantik steckt eben tief im Teutonen drin, das zeigt auch immer wieder die Verpackung der drinnen angebotenen Waren. Gekonnte Repliken von Omas Einmachglas beispielsweise, mit buntem Tüchlein über dem Deckel. Sie signalisieren besonders erlesene und gesunde Zutaten, direkt vom heimischen Kleinbauern. Der, so die Werbebotschaft, versorgt mit zwei frei laufenden Schweinen und einem Dutzend Hühnern unsere Großstädte. Die mittelschwere Irreführung funktioniert ganz offensichtlich, sonst würde die Werbemasche ja nicht durchgezogen.

Romantik- und Omas-Küche-Gehubere

Sie spricht auch nicht gegen die beim Discounter angebotenen Lebensmittel, die stammen überwiegend aus der modernen industriellen Landwirtschaft, und das ist auch gut so (in diesem Fall passt der Spruch sogar). Nicht gut ist, dass sie ein vollkommen verklärtes Bild der Vergangenheit und von der Ernährung damals verfestigen. Beim nächsten vorgeblichen "Gift der Woche" wird genau dieses Bild von jenen Ideologen wieder bemüht, die uns weismachen wollen, dass das Heil der Menschheit im bäuerlichen Kleinbetrieb liege.

Dabei gibt es noch nicht einmal mehr den Bauern-Nachwuchs, der bereit wäre unter solchen Umständen zu arbeiten. Immer mehr Bauern – egal ob Bio oder nicht – geben auf, weil junge Menschen diese Arbeit nicht mehr machen wollen und sich kein Nachfolger für den Hof findet. Die Großstädter, die vom guten alten Bauernhof träumen, würden es dort nicht einmal zwei Tage aushalten.  Das ganze Romantik- und Omas-Küche-Gehubere stellt die Verhältnisse schlicht auf den Kopf.

Heute fallen Sonntagsbraten und Heiligabend-Menü ja gleichsam auf einen Tag, deshalb hier noch einmal, zum Mitschreiben, drei Merksätze, zur Ernährung damals und heute:

  • Durch bessere Hygiene und Ernährung hat sich die Lebenserwartung der Menschen in Europa in den letzten 200 Jahren verdoppelt.
  • Durch Ratten übertragene Krankheiten haben in der Vergangenheit mehr Menschen das Leben gekostet, als alle Kriege und Revolutionen zusammengenommen.
  • Die frohe Botschaft lautet also: Noch nie war die Hygiene besser und die Sicherheit von Lebensmitteln größer heute.

Sehr schöne Schilderungen der hygienischen Zustände in der Vergangenheit finden sich übrigens in Louis-Sébastien Merciers Pariser Nahaufnahmen – Tableau de Paris. 1781 erscheint die erste Lieferung seines Bestsellers, der es auf zwölf Bände mit mehr als tausend Kapiteln bringt. Das porträtierte Paris ist nicht besonders anheimelnd, stattdessen „dampft, röchelt, stinkt und stirbt" an allen Ecken und Enden.

Louis-Sébastien Mercier notierte damals die Alltagssorgen der französischen Hauptstadtbewohner, beispielsweise Kupfer in der Milch und Blei im Wein. Patrick Süsskind schildert in „Das Parfüm“ übrigens ähnliche Zustände.

Die hygienischen Verhältnisse der vergangenen Jahrhunderte sind für uns heute nur noch schwer vorstellbar. Überall landeten Müll und Unrat unkontrolliert in den Gassen oder wurden in die Flüsse gekippt, die gleichzeitig die Trinkwasserleitungen speisten. Durch das Gift von Mutterkornpilzen, mit denen das Getreide verunreinigt war, wurden in den vergangenen Jahrhunderten ganze Landstriche entvölkert. Noch in den Jahren 1943 bis 1947 starben in Russland über 5.000 Menschen an einer Vergiftung mit diesen sogenannten Mykotoxinen (Pilzgifte); einige von ihnen sind bis zu 30.000 mal giftiger als Pflanzenschutzmittel.

Mangelnde Hygiene und Schädlingsplagen

Auch Opas Bauernhof war keineswegs so idyllisch, wie viele es heute vermuten. Die vermeintliche Idylle wurde geprägt durch mangelnde Hygiene und Schädlingsplagen. Durch Ratten übertragene Krankheiten haben mehr Menschen das Leben gekostet, als alle Kriege und Revolutionen zusammengenommen. Weder waren frühere Formen der Tierhaltung grundsätzlich humaner beziehungsweise tiergerechter, noch waren die produzierten Nahrungsmittel gesünder als heutige. Ganz im Gegenteil.

In den Städten wurde das Metzgergewerbe immer mehr zum Problem. Blut, Schmutz und Gestank des Metzgerhandwerkes, Lärm und Wasserverschmutzung machten das Schlachten innerhalb der Stadt zu einem wachsenden Problem. Hinzu kamen Abdecker, Seifensieder, Kerzenmacher, Knochenmüller, Leimsieder, Gerber und andere tierische Abfälle verwertende Gewerbe. Grassierende Viehseuchen und die Entdeckung der Trichinenkrankheit, die sich durch Fleischverzehr auf den Menschen überträgt und häufig tödlich endet, gaben schließlich den Ausschlag, eine staatlich kontrollierte Viehbeschau einzuführen.

Am 1. Januar 1867 wurde in Paris das erste zentrale Schlachthaus in Europa eröffnet. „Es kann so viele Tiere aufnehmen, wie Paris im Laufe mehrerer Tage verzehrt“, begeisterte sich der damalige Stadtpräfekt. Die Verbindung von Mechanisierung und Schlachtung hatte, ausgehend von den gigantischen Schlachthöfen Chicagos, auch in Europa begonnen und brachte die Fleischindustrie hervor. Henry Ford soll die Idee zur Fließbandfertigung von Automobilen angesichts der Schlachthöfe von Chicago gekommen sein.

Das Schlachten am laufenden Band erfreute sich dabei einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung. Gelehrte wie Justus von Liebig propagierten „proteninhaltige Lebensmittel für die Massen". Sozialaktivisten, darunter Friedrich Engels, forderten eine „Demokratisierung des Fleischverzehrs". Politische Revolutionäre waren sich einig: Fleisch sollte nicht mehr Luxusartikel für Adel und gehobenes Bürgertum sein, sondern ein die Gesundheit förderndes Lebensmittel, vor allem für die Arbeiter in den neu entstehenden industriellen Großbetrieben.

Unterernährung, Magenkrankheiten, hohe Kindersterblichkeit

Auf einer Tagung der Schweizerischen „Gemeinnützigen Gesellschaft“ sprach 1882 der Arzt und Fabrikinspektor Dr. Fridolin Schuler über die miserable Ernährungssituation der Fabrikarbeiter: Arbeiterinnen fanden nicht mehr genug Zeit, auf holzbefeuerten Herden umständlich für ihre Familien zu kochen; kalte Speisen oder Alkohol ersetzten oft warme Mahlzeiten; in den Kantinen der Fabriken wurden Mahlzeiten verabreicht, die zwar billig waren, aber bei weitem nicht ausreichend nahrhaft.

Die Folgen: weit verbreitete Unterernährung, Magenkrankheiten, hohe Kindersterblichkeit. Louis Pasteur fand heraus, dass viele Krankheitskeime in der Milch durch Erhitzung abgetötet werden können (Pasteurisierung). Erfinder der modernen Lebensmittelproduktion wie der Schweizer Julius Maggi wurden zugleich als soziale Pioniere empfunden. Die Tütensuppe hielt in den Küchen Einzug – zum Segen derer, die kein Geld oder keine Möglichkeit hatten, sich die Zutaten für eine warme Suppe selbst zusammenzustellen. Maggi unterzog seine Produkte regelmäßig unabhängigen Kontrollen.

Insgesamt ist die Gefahr von Erkrankungen und Vergiftungen durch Nahrungsmittel gegenüber dem 19. Jahrhundert dank moderner Hygiene und Konservierungsstoffen drastisch zurückgegangen. Die Lebenserwartung der Europäer hat sich in den letzten 200 Jahren glatt verdoppelt. Plastikversiegelung und Dosen mögen unsere Nahrungsmittel „entfremden", sie sind aber ein Segen für die menschliche Gesundheit.

Mit die besten Ideen der Menschheit sind Kühlschrank und Tiefkühltruhe. Alte Konservierungsmethoden wie Pökeln und Räuchern verursachten bis in die heutige Zeit hinein oft Magenkrebs. Die langjährige Nutzung eines Kühlschranks geht nach internationalen Vergleichen auffällig mit dem Rückgang der Magenkrebshäufigkeit einher. Frische Lebensmittel verdrängen heute weitgehend das problematische Räuchern und Pökeln.

Die Tatsache, dass auch Bezieher niedriger Einkommen heute bei jedem Discounter preiswert frisches Obst oder Gemüse erwerben können, hätte viele unserer Vorfahren bass erstaunt. Die allgemeine Zugänglichkeit vitaminreicher Kost ist eine der großen Errungenschaften unserer Zeit. Das Risiko, durch Rückstände Schaden zu nehmen, ist dabei winzig im Vergleich zu den zahlreichen Folgen der Mangelernährung in vergangenen Zeiten.

Aldi und Lidl sind zwar keine Weihnachtsengel, in sich aber durchaus ein Geschenk, das man nicht verachten sollte.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

netiquette:

Winfried Sautter / 24.12.2017

Vegetarimus und Veganismus idyllisieren heute die Entwicklungs- und Schwellenländer, wo die Menschen angeblich gesünder leben, weil sie weniger oder kein Fleisch essen und auch auf sonstige tierische Produkte, etwa Milch, verzichten. Tatsache ist jedoch, dass die Menschen in diesen Ländern sich genau diesen Konsum gönnen, sobald sie es sich leisten können. Ein guter Teil der deutschen Schweineproduktion oder auch der Milch geht beispielsweise inzwischen nach China. Vegetarismus, Veganimus, die Bio-Nostalgie sind eher Ausdruck westlicher Dekadenz, Amüsement einer Überflussgesellschaft.

Dietmar Schmidt / 24.12.2017

Ja Herr Maxeiner,  es ist gut dass Sie daran erinnert wie “beschissen” es einmal war und wie gut wir heute, zumindest in den Industrieländern, leben. Die Ökos und wer auch immer, die das in Frage stellen, sollten doch einfach mal umsiedeln in die Länder oder Regionen die keine Industrie und geordnete Nahrungsversorgung besitzen und dort das Leben führen das sie bei uns einführen wollen. Mal sehen wie lange sie es aushalten. Gruß D. Schmidt

K.H. Münter / 24.12.2017

Vielen Dank für diesen aufschlußreichen Artikel. Er rückt, vielleicht für manche ganz neu, Tatsachen im Zusammenhang mit unserer Ernährung zurecht und setzt sie in den nötigen geschichtlichen Zusammenhang. Es sind diese Art von Beiträgen für die ich auch weiterhin gerne meinen Obulus entrichte.

Werner Arning / 24.12.2017

Starkes Plädoyer für die den Fortschritt und die Moderne. Grüne Argumentation und Angstschürerei wird vom Kopf auf die Füße gestellt. Sehr anschaulich und überzeugend erklärt.

Brigitte Miller / 24.12.2017

Sehr gut, das sollte man breiter Leserschaft zugänglich machen! Vor allem dort, wo von sanfter Natur und chemiefreier Nahrung geträumt wird.

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