Das Froschgleichnis besagt, dass ein Frosch sofort aus heißem Wasser springt, dort aber sitzen bleibt, wenn das Wasser langsam erhitzt wird. Allerdings versichern Zoologen, dass Frösche nicht so blöd seien, allenfalls Menschen. Eine Feldstudie aus Berlin.
Samstag, 26.11.2022, 10:46 Uhr. Ich halte mich gerade im Einzugsbereich der Deutschen Bahn als Beförderungsfall auf und unternehme einen Fluchtversuch aus der Bundeshauptstadt in Richtung Westen. Der Wind weht aus südwestlicher Richtung, die Regenwahrscheinlichkeit beträgt 30 Prozent, die Wahrscheinlichkeit, pünklich in Augsburg anzukommen, null Prozent. Mein ICE 1093 ist inzwischen eingetroffen, eine halbe Stunde später und auf einem anderen als dem angegebenen Gleis, dafür aber in falscher Wagenreihung. Außerdem ist die Hälfte des Zuges, die nach Wien statt nach München fahren soll, abhanden gekommen. Alle warten jetzt auf die Wiener. Auf dem Bahnsteig wird derweil angesagt: „Vorsicht auf Gleis 2 eine Zugdurchfahrt“. Das wird spannend, denn unser Zug steht wartend auf Gleis 2. Draußen gehen die helleren Zeitgenossen in Deckung. Sollte der Sonntagsfahrer hier abrupt enden, wissen Sie warum. Und bitte richten Sie meinen letzten Willen aus: Ich möchte nicht in Berlin begraben sein und bestehe außerdem darauf, dass auf meiner Beerdigung der Bahn-Klassiker Chattanooga Choo Choo in der Version von Glenn Miller gespielt wird. Hätte ich doch bloß den Heißluftballon genommen.
Entwarnung: Die Zugdurchfahrt auf Gleis 2 ist ausgefallen. Wahrscheinlich wegen einer Reparatur am Triebwagen oder eines fehlenden Lokführers. Das Leben geht also weiter. Es ist nicht alles schlecht an der Deutschen Bahn. So wird im Bordbistro das Angebot an Speisen, die nicht angeboten werden, immer größer. Inzwischen ist auch ein maskierter Dutt erschienen und hat meine Fahrkarte kontrolliert. Ich stelle mich auf einen kontemplativen Nachmittag ein. Ich habe die Bundeshauptstadt und die Deutsche Bahn seit einigen Monaten gemieden und muss deshalb an das etwas überbeanspruchte Gleichnis mit dem Frosch denken. Sie wissen schon: Es besagt, dass ein Frosch sofort aus heißem Wasser springt, dort aber sitzen bleibt, wenn das Wasser langsam erhitzt wird. Allerdings versichern Zoologen, dass Frösche nicht so blöd seien, allenfalls Menschen.
Ich bin hingegen der Meinung, dass zur Ermittlung der wahren Verhältnisse endlich repräsentative und depersonalisierte Kohortenstudien durchgeführt werden sollten. Möglicherweise reagieren Frösche mit Migrationshintergrund oder DDR-Vergangenheit ja anders als endemische Wessi-Frösche. Persönlich bin ich beispielsweise von französischen und italienischen Fröschen enttäuscht. Ich hätte beispielsweise nie gedacht, dass widerstandsfreudige Italiener sich zum Rauchen vor die Tür schicken und renitente Franzosen sich lockdownen lassen. Stattdessen blieben unsere Nachbarfrösche einfach sitzen.
Eine weggeworfene Aluschale mit der Hälfte einer Currywurst
Nun gut, angesichts meines Berlinausflugs wurde ich nun ins heiße respektive kalte Wasser geworfen, habe aber leider keine Badehose dabei. Nix wie raus aus dem Pott. Als ich gestern Morgen vor die Tür trat, latschte ich als erstes in eine weggeworfene Aluschale mit der Hälfte einer Currywurst, danach sahen Schuhwerk und Hosenbein schon sehr berlinerisch aus, ich fiel in der S-Bahn überhaupt nicht auf. Aber immerhin: Früher erfolgte dieser Initiationsritus in der Regel durch den Tritt in Hundescheiße, das nenne ich mal Fortschritt.
Als Volltreffer erwies sich auch ein italienisches Lokal auf der Karl-Marx-Allee, das ich am Abend mit einigen Freunden erwartungsvoll betrat, weil von draußen Rudimente von Personal in Gestalt eines Kellners vorhanden zu sein schienen. Der Kellner war hörbar von italienischer Provinienz, denn er sprach mich, wie es sich gehört, mit Dottore an. Als Dottore um 23.00 Uhr eine weitere Flasche Wein für sich und die Seinen begehrte, wurde dieser Wunsch allerdings abschlägig beschieden. Man schließe jetzt und könne leider nichts mehr für uns tun. Obwohl ich den Schriftsteller Michael Klonovsky nur flüchtig kenne, erschien er mir im Geiste und flüsterte einen seiner besten Aphorismen in mein Ohr: „Ich komme aus der Zukunft, ich komme aus der DDR“. Wir verließen die HO-Gaststätte und traten fröstelnd hinaus in die dunkle, nebelschwangere Karl-Marx-Allee. Ich atmete tief durch die Nase ein, um zu prüfen, ob ich mich vielleicht im Jahrhundert geirrt haben könnte. Es fehlte einzig noch eine Auspufffahne mit dem Geruch von verbranntem Zweitakteröl.
Statt eines Trabis rempelte mich dann ein eiliger Kapuzenmann auf einem Fahrrad an – gepaart mit wilden Verwünschungen, da ich offenbar auf seiner Fahrspur lustwandelte. Ich wünschte ihn zum Ausgleich auf den Mond. Sollte Ihnen dort jemand im Vorbeifahren einen Stinkefinger zeigen, seien sie versichert, es ist ein Radfahrer aus Berlin.
Mit dieser Truppe stehen wir in zwei Wochen vor Moskau
Wie ich höre, hat ja auch die Bundeswehr ein Personalproblem, und ich möchte deshalb Verteidigungsministerin Christine Lambrecht einen sachdienlichen Vorschlag machen: Rekrutieren sie Ihren Nachwuchs verstärkt unter Berliner Radfahrern, militantere und rücksichtslosere Knallkörper finden Sie sonst nirgendwo. Mit dieser Truppe stehen wir in zwei Wochen vor Moskau. Und bitte nicht die Blitzkrieger von „Letzte Generation“ vergessen, die sichern die Heimaterde und blockieren die Landebahn für die MIGs. Zur Anwerbung von Geheimdienstmitarbeitern empfehle ich indes den Kreis des Service- und Informationspersonals der Berliner Verkehrsbetriebe sowie die der Wahlhelfenden: Auch in krisenhaften Situationen bleiben diese zuverlässig unsichtbar, und selbst unter Folter ist von ihnen keine verwertbare Auskunft zu erhalten. Der Russe wird sich hoffnungslos verlaufen und verfahren, und dann lassen wir ihn in einer U-Bahn-Baustelle verhungern.
Kommen wir nun zum Positiven. Der freundlichste Berliner, der mir begegnete, war ein Dreijähriger in einem Kinderwagen, der mir in der U2 fröhlich zuwinkte, wahrscheinlich weil ich keine Maske trug. Damit war ich übrigens nicht alleine. Je nach Uhrzeit und Fahrstrecke sind Menschen ohne Maulkorb trotz gegenteiliger Ansage mittlerweile in der Mehrheit. Migrantische Stadtteile sind inzwischen auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln maskenbefreite Zonen. Auf den Routen zu den Rückzugsorten der gebildeten Schichten dominiert hingegen der verhüllte Untertan, woraus sich gewisse Rückschlüsse auf die Qualität der Bildung daselbst ziehen lassen. Wer sich in Deutschland auf die Suche nach qualifiziertem Personal macht, hat meinen bescheidenen Feldstudien zufolge deshalb zwei Möglichkeiten: entweder gebildet und doof, oder ungelernt und nicht doof.
Selbstverständlich gibt’s auch welche dazwischen. Sagen wir mal die Lernfähigen und die Schlawiner. Die peilen beim Einsteigen kurz die Lage und prüfen den Anteil der Maskenlosen. Einer genügt schon, um den Korpsgeist auszuhebeln. Sichtbar huscht die Erkenntnis übers Gesicht: „Wenn der sich das traut, dann traue ich mich das auch“. Also weg mit dem Maulkorb. Dem Beispiel folgen dann flugs auch Andere. Der Bann ist gebrochen, die Herrschenden haben verloren. So ähnlich läuft das übrigens, wenn jemand laut und deutlich seine eigene Meinung vertritt – wie und in welcher Sache auch immer. Dann trauen sich das Andere plötzlich auch. Liebe Kollegen Journalisten, wir warten.
Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen: „Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“ Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.