Vor 35 Jahren stieß ich in einer alten, stillgelegten Fabrik in Offenbach auf diesen merkwürdigen Fahrradladen. Davor stand ein komisches Zweirad, das sofort mein Interesse weckte: Ein Moulton. Es sieht mit seinen kleinen Rädern und dem filigranen Rohrrahmen aus wie ein Hightech-Klapprad. Und das ist es auch: Die Konstruktion stammt von Dr. Alex Moulton, dem Erfinder der Gummifederung des Austin Mini. Ursprünglich wurde es für britische Fallschirmspringer im zweiten Weltkrieg entwickelt, die nach der Landung nicht zu Fuß gehen wollten.
Das schräge Ding verführte mich zu einem Spontankauf – trotz des horrenden Preises. Das Moulton wiegt nur 10 Kilo, hat extrem leicht rollende Hochdruckreifen, sowie Federung vorne und hinten mit fünf Zentimeter Federweg. Es lässt sich mit wenigen Handgriffen zerlegen und dann in einer Sporttasche unterbringen. In der Beschreibung heißt es, "Das Unisex-Rad ist bekannt für makellose Verarbeitung, exzellente Fahreigenschaften und universellen Gebrauchswert".
So weit die Theorie. Und nun zur Praxis. Das mit den exzellenten Fahreigenschaften stimmt. Lediglich auf Feldwegen und mit tiefen Schlaglöchern habe ich keine guten Erfahrungen gemacht - die kleinen Rädchen verhaken und verkannten sich. Mein schwungvoller erster Abflug führte mich über einen breiten Graben und endete neben einem Ameisenhaufen. Leider gab es Zuschauer. Ich habe so getan, als sei dies die einzig adequate Weise von einem Moulton abzusteigen - schließlich wurde das Gerät für Fallschirmspringer entwickelt.
Auch das mit dem universellen Gebrauchswert stimmt. Das Moulton lässt sich kinderleicht und in wenigen Minuten auseinandernehmen und verstauen. Einfach genial. Interessanterweise lässt sich das Moulton auch genauso leicht wieder zusammenschrauben. Mit einem kleinen Schönheitsfehler: Die Drahtzüge der Fünfgang-Nabenschaltung wollen nachher nicht mehr so wie vorher. Und das bedeutet: Von fünf Gängen sind hartnäckig nur noch zwei auffindbar.
Zum Glück ist der nächste Fahrrad-Reparaturbetrieb gleich um die Ecke. Dies erlaubt tiefe Einsichten in die Psyche deutscher Fahrradmechaniker. Das sind wirklich noch Herren. Sie wollen gebeten und umworben werden. Das Wort Dienstleistung kommt im metaphysischen Gesamtkonzept dieser Könige nicht vor. Und ein britisches Exoten-Fahrrad, das nicht bei Ihnen gekauft wurde, geht schon gar nicht.
Mit jeder Faser lassen sie ihre Überlegenheit spüren. Der Versuch, ein Problem zu erklären, wird mit dem Hinweis beantwortet: "Stellen Sie es da in die Ecke, ich schaue mir das später an". Rückfrage, wie von der Autoinspektion gewohnt: "Wann kann ich das Rad denn heute abend wieder abholen?". Keine Antwort, statt dessen fällt dem Herrn vor Schreck der Schraubenschlüssel aus der Hand. Sein Gesicht durchläuft hintereinander folgende Phasen: Hochgezogene Augenbrauen, Kopfschütteln, schließlich Brechreiz: "Was heißt hier heute abend? Rufen Sie nächste Woche wieder an". Dreht sich um und geht.
Das Problem: Außerhalb von Großbritannien sind mir nur zwei Moulton-Werkstätten bekannt: Eine sitzt in Offenbach und eine in München. Diese gut ausgebildeten Fachkräfte schaffen die Gänge regelmäßig wieder herbei. Auf der Suche nach den verlorenen Gängen dürfte ich deshalb in den letzten 35 Jahren etwa 10.000 Kilometer zurückgelegt haben - mit dem Auto versteht sich. Angesichts meiner bescheidenen Frühlings-Ausflüge habe ich errechnet: Mein Moulton verbraucht nach Umlage etwa 50 Liter Sprit auf 100 Kilometer. Aus ökologischen Gründen erwäge ich daher meine künftigen Fahrradausflüge mit einem Mercedes S 600 zu unternehmen.