Der Kindergarten nebenan liefert mir immer wieder Anschauungsmaterial zum tieferen Verständnis unseres Landes. Dazu gehört auch die neueste Idee von Volkswagen: Bis 2025 will man 22.000 Wolfsburger Mitarbeiter spielerisch in „Escape-Rooms“ sperren, um sie so auf das „Zeitalter der E-Mobilität“ vorzubereiten.
Schräg gegenüber meiner Wohnstatt befindet sich ein Kindergarten. Das schöne deutsche Wort „Kindergarten“ benutzen sogar die Engländer und die Spanier, weil er eine deutsche Erfindung ist. Made in Germany anno 1840 by Friedrich Fröbel. Die zackige Abkürzung „Kita“ (Kindertagesstätte) ist auch eine deutsche Erfindung, aber nicht exportfähig. Bürokratenkürzel haben es den Menschen in der Ferne nicht so angetan, Fröbels Idee, „freie, denkende, selbständige Menschen zu erziehen“ aber schon.
Die am Morgen angelieferten Sprösslinge entstammen relativ gut verdienenden Schichten und werden entweder ziemlich neuen Großraum-Automobilen oder ziemlich neuen Lastenfahrrädern entnommen. Manchmal gibt’s auf dem Bürgersteig vor dem Kindergarten einen regelrechten Lastenfahrradstau. Automobilisten und Cyclisten eint im übrigen ein gewisser Hang zu gehobenen Marken.
Soweit ich das erkennen kann, verstehen sich die beiden Fraktionen gut und legen gesteigerten Wert auf eine unfallfreie Erziehung ihrer Brut. Das erkennt man an der ebenso bunten wie umfangreichen Schutzausrüstung für die nachwachsenden Rohdiamanten. Mit ihren Helmchen, Pufferchen und dicken Signalhüllen bewegen sie sich so beharrlich fort wie meine erste Schildkröte, die war aber nicht so bunt und konnte nicht so laut schreien.
Viele der kleinen Schildkröten behalten ihren Helm auch auf der Rutsche im Garten auf dem Kopf, die Szenerie auf dem Kindergarten-Spielplatz erinnert mich an eine Feuerwehrübung mit auf 60 Zentimeter geschrumpftem Einsatzpersonal. Irgendwie sind freilaufende Kinder selten geworden, besonders in der Stadt.
Zeichen der unbedingten deutschen Abwehrbereitschaft
Wenn die Knirpse dann erwachsen sind, gehen sie ja vielleicht zur Polizei. Jedenfalls muss ich beim Blick auf den Spielplatz immer an das Slapstick-Ballett von Lützerath denken. Da soll eine Gruppe von Polizisten den deutschen Braunkohlebergbau verteidigen, ist mit ihrer schweren Schutzkleidung aber bis zu den Knöcheln im Schlamm versunken. Beim Versuch, sich zu befreien, kullern sie munter darin herum, kaum hat sich einer aufgerichtet, fällt der nächste kopfüber in den Modder. Die Szene ist weltweit als Zeichen der unbedingten deutschen Abwehrbereitschaft viral gegangen, ein Link dazu wurde mir sogar aus Kalifornien geschickt.
Dieser Clip beispielsweise stammt vom türkischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk und wurde mit aufmunternder Musik unterlegt. Sehr schön wäre dazu übrigens auch die Musik aus „Laurel und Hardy“, hierzulande ein wenig diskriminierend „Dick und Doof“ genannt. Gespielt wird sie auf einem „hoffnungslos verstimmten Piano, begleitet von einer Combo, dessen Schlagzeuger gerne und reichlich von seinem schepperigen Splash-Becken Gebrauch macht“, heißt es in einer Musik-Kritik. Sehr schön kann man das in „Die Tortenschlacht“ ansehen und hören.
Rüstungen sollten ja schon im Mittelalter Schutz vor Angriffen bieten, was schon damals nach hinten losgehen konnte, weil Ritter Kunibert vom Gaul fiel und mit seinem Panzer auf dem Rücken liegen blieb wie ein abgestürzter Maikäfer. „Es galt, eine Balance zwischen dem Gewicht und dem Schutz zu finden, da die Rüstung nicht nur getragen, sondern sich damit im Kampf auch gut bewegt werden musste“, empfiehlt dazu die Ratgeber-Redaktion von „Helpster“.
Nun schlägt eine Ritterrüstung nicht nur mit 20 bis 30 Kilo Gewicht zu Buche, sondern schränkt auch das Wahrnehmungsvermögen ein. Erst unlängst beobachtete ich einen jungen Mann mit einer tief in die Stirn gezogenen Baseball-Kappe, die zusätzlich von der Kapuze eines Hoodies überlagert wurde. Eine schwarze FFP2-Maske verdeckte sein Gesicht und er starrte durch den verbliebenen Sehschlitz auf sein Mobiltelefon. Dort suchte er offenbar etwas auf „Google Maps“. Wie sich herausstellte, war es der Friseursalon gleich nebenan von mir, vor dessen Eingangstür er stand. Es gibt offenbar auch so etwas wie digitale Scheuklappen, die das Licht der Erkenntnis nur noch durch einen winzigen Spalt ins Oberstübchen lassen.
Ein ärmelfreies Feinripp-Unterhemd anziehen
Als Bewohner eines belebten Stadtviertels muss ich nicht weit schweifen, um meine ethnologischen Studien zu betreiben, sie werden mir gewissermaßen frei Haus geliefert. Sollte ich zum Rentner transformieren, werde ich es mir bequem machen, ein ärmelfreies Feinripp-Unterhemd von Schiesser anziehen und ein Kissen auf die Fensterbank legen. Dann werde ich es mir mit einer Dose Aldi-Bier gemütlich machen. Ich bin ganz sicher, dass ich auf diese Weise sehr viel mehr von der Wirklichkeit mitbekomme als in der Tagesschau oder bei TikTok. Sollte der erste russische T 72-Panzer um die Ecke biegen und nach dem Weg fragen, rufe ich euch an, versprochen.
Die kleine Einsicht in den Kindergarten von nebenan macht es auch leichter, die großen Zeichen der Zeit zu deuten. Beispielsweise eine neue, fantastische Idee von Volkswagen. So vermeldet „Der Spiegel“, der Autokonzern plane, tausende Mitarbeiter in Wolfsburg „spielerisch“ auf die wachsende Elektromobilität vorzubereiten und zu diesem Behufe in sogenannte „Escape Rooms“ zu schicken. Die 22.000 Beschäftigten in Wolfsburg freuen sich schon mächtig auf den Aufenthalt in den Grabkammern, wo sie Rätsel lösen oder Teile eines E-Autos montieren sollen. Dabei schauen ihnen externe Aufpasser über Video zu. T-Online erklärt die volkswagenpädagogische Einrichtung so: „Bei sogenannten Escape Rooms werden in der Regel mehrere Menschen zusammen eingeschlossen und müssen verschiedene Rätsel lösen, um wieder aus dem Raum herauszugelangen.“
Wer jemals einen Waldorfkindergarten besucht und den Schlüssel verloren hat oder wer Bewohner der DDR war, ist also echt im Vorteil. Besonders gespannt bin ich auf die Lösung des Rätsels, warum wir zwar zu wenig Strom haben, aber nun alle elektrisch fahren sollen. Bis 2025 will VW-Personalvorstand Gunnar Kilian die Wolfsburger Belegschaft nach und nach spielerisch inhaftieren, um sie so auf das „Zeitalter der E-Mobilität“ vorzubereiten. Ich finde, das ist eine ziemlich erweckende Idee.
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