Der zweitheißeste Sommer in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen neigt sich seinem Ende zu. Dürre Felder und abgemagerte Kühe beherrschten die Fernsehbildschirme. Das Sommerloch wurde mit Spekulationen darüber gefüllt, wie die deutschen Bauern für ihre Ernteausfälle entschädigt werden könnten. Die Bundesregierung zeigte sich großzügig, 50 Prozent der dürrebedingten Ausfälle wurden den Bauern ersetzt.
Aber auch um Mütter und Rentner kümmerte sich die fürsorgliche Bundesregierung unmittelbar nach der Sommerpause: Müttern mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, werden mehr Erziehungszeiten angerechnet. Die Abschläge bei Frührentnern werden verringert, und alle Rentner erhalten bis 2025 die Garantie, dass das Rentenniveau nicht sinkt. Was dazu in der Kasse der Rentenversicherung fehlt, wird aus dem Staatssäckel zugeschossen.
Werbewirksam forderte die SPD, die Rentengarantie gleich bis 2040 zu verlängern. Sie konnte so ihr Profil als Partei der sozialen Gerechtigkeit schärfen. Dagegen konnte die Union zeigen, wie sorgsam sie an künftige Steuerzahler denkt, indem sie eine Garantie über das Jahr 2025 hinaus ablehnte.
Lauter gute Nachrichten
In diese Debatten platzten weitere gute Nachrichten: Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss ist höher ist denn je, die öffentlichen Haushalte erzielen gegenwärtig Rekordüberschüsse, und die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit ging in den Sommermonaten weiter zurück.
Nur von Steuersenkungen sprach niemand. Der Solidarzuschlag – 1993 eingeführt zur Finanzierung der deutschen Einheit – wird wohl ewig bleiben. Bei all dem Geldsegen fallen auch die finanziellen Lasten für die Flüchtlinge und Armutsmigranten kaum auf. Nur Pfennigfuchser interessieren sich dafür, ob die jährliche Summe dieser Lasten gegenwärtig bei 40 oder 60 Mrd. Euro liegt und wie sie in Zukunft weiter steigen wird. Und niemanden scheinen die großen demografischen Verschiebungen aufgrund der Geburtenarmut der letzten Jahrzehnte zu interessieren, die ab 2025 die Rentenkassen mehr und mehr belasten.
Scheinbar mit Erfolg hatte man eine spätsommerliche Agenda mit lauter finanziellen Wohltaten fern von den leidigen Flüchtlings- und Migrationsfragen gesetzt. Das schien ein guter Einstieg in die heiße Phase der Landtagswahlkämpfe in Bayern und Hessen zu sein.
Aber die Messerattacke auf dem Stadtfest in Chemnitz am 26. August änderte alles. Ein Mann starb, zwei wurden schwer verletzt, und die Herkunft der beiden Tatverdächtigen – ein Syrer und ein Iraker – führte zu einer Ereigniskette, in der nach kurzer Zeit nicht mehr von den Fehlern der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, sondern nur noch von Rechtsradikalen und Neonazis in Sachsen die Rede war.
Merkels Sprecher setzt den Ton
Regierungssprecher Seibert goss Öl ins Feuer, indem er regierungsamtlich von "Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft" sprach. Diese Diktion wurde von Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier aufgenommen, sie beherrschte tagelang die Medien. Das ungeliebte Thema der Folgen einer nicht durchdachten Willkommenskultur und falschen Einwanderungspolitik wurde in der allgemeinen Empörung um ein paar grölende rechtsradikale Demonstranten in der Provinz erneut glücklich umschifft. Als Folge fühlen sich viele Chemnitzer und Sachsen unverstanden, gekränkt und entfremdet. Bundesweit gewann die AfD in allen Umfragen nochmals einen Prozentpunkt dazu.
Dann kam der Gegenschlag: Bundesinnenminister Horst Seehofer verschob den Focus der Debatte erneut in Richtung Einwanderung, indem er in einer CSU-Klausur die Migration "die Mutter alle politischen Probleme" nannte. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer widersprach in seiner Regierungserklärung zu Chemnitz der Kanzlerin und sagte: "Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome."
Dieser Einschätzung trat auch der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen bei. Er äußerte in einem Interview die Vermutung, "dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken." Damit war die politische Jagd auf ihn eröffnet.
Zwischen den Fronten
Schon seit längerer Zeit hatte sich Maaßen bei Bundeskanzlerin Merkel und allen Freunden der Willkommenskultur unbeliebt gemacht, indem er die Folgen der Flüchtlingspolitik für die innere Sicherheit recht offen ansprach. Maaßens Amt untersteht dem Bundesinnenministerium. Durch seine Äußerung wurde er jetzt zu einer Schachfigur im weiteren Machtkampf zwischen Merkel und Seehofer.
Mit den Chemnitzer Ereignissen und der Folgedebatte ist jedenfalls der Versuch von CDU, CSU und SPD gescheitert, das Einwanderungsthema aus den Landtagswahlkämpfen in Bayern und Hessen herauszuhalten. Es dominiert stärker denn je. Wo Gefahren drohen, gibt es bekanntlich unterschiedliche Wege, damit umzugehen:
Man kann sie korrekt beschreiben, ihre Ursachen ergründen, Gegenmaßnahmen umfassend prüfen und sie beherzt mit langem Atem in die Wege leiten. So verfahren nicht nur kluge Privatleute und weitsichtige Unternehmen, so verfährt auch erfolgreiche Politik.
Man kann Gefahren aber auch bis zur Leugnung verniedlichen und ihre offene Debatte möglichst verhindern. Bei Unternehmen führt das schnell in die Insolvenz. Anders in der Politik: Dort ist die Leugnung von Gefahren und die Verschiebung von Debatten auf ein anderes Gleis häufig ein erfolgreiches Geschäftsmodell für Klientelpolitik und Sicherung des Machterhalts.
Das ist leider seit 2005 zum überwiegenden Weg deutscher Politik geworden. Erleichtert wird dies durch den anhaltenden Wirtschaftsboom und die vollen öffentlichen Kassen. Man darf neugierig sein, wie lange der Wähler dies noch honoriert.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche