Mein Beitrag "Für Höcke, Volk und Vaterland" hat eine interessante Bandbreite an Reaktionen in den Leserbriefen hervorgerufen: von Lob über kritische Reflexion bis hin zum energischen Widerspruch war alles dabei. Zunächst sollen einige in den Leserzuschriften wiederholt reklamierte Aussagen meines Artikels in Bezug auf den Holocaust als Teil einer deutschen Schreckenskultur sowie einer Kollektivschuld als Schlussfolgerung aus einer vorausgesetzten kollektiven Identität näher beleuchtet werden.
Dann werde ich die Begriffe der kollektiven Identität und der kulturellen Mythen, wie sie die Thüringer AfD in ihrem Positionspapier definiert, einmal unter Gesichtspunkten der Faschismusforschung betrachten und inwieweit sich der von mir postulierte NS-Kitsch nun hierin widerspiegelt. Ein Vergleich mit der US-amerikanischer Patriotismus-Kultur soll Unterschiede bezüglich kollektivistischer und individualistischer Kulturausprägungen aufzeigen. Abschließend wird aufgearbeitet, welche Handlungsoptionen sich für die AfD nun hieraus ableiten lassen.
Beginnen wir mit der Schreckenskultur. Eine Definition von Kultur und Identität, die sich einzig auf ihre positiven Ausdrücke bezieht, gilt selbst der Höcke-AfD nicht als Faktum. Ebenso prägend seien auch negative Manifestationen. Insofern kann man die Schreckenskultur des Holocaust eben doch als Teil deutscher Kultur betrachten. Und zwar im Negativen. Was in praktischer Konsequenz zu einem, auch von der AfD getragenen, parteiübergreifenden wie gesamtgesellschaftlichen Konsens eines „Nie wieder Auschwitz“ führt. Und so auch Grundbaustein unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist, die jeden massenmörderischen Totalitarismus aus Erfahrung der nazistischen Unkultur ernergisch bekämpfen sollte. Dabei in der Realität vor archaisch-religiösen Ausprägungen bedauerlicherweise beide Augen zudrückt.
Aus dieser Kultur negativer Manifestation nun einen pseudoreligiösen Kitschkult abzuleiten, der den Holocaust als Mittel zum Zweck einer eigenen politischen Agenda missbraucht, ist nichts als Agitprop. Ein Beispiel hierfür wäre die neuerdings postulierte Formel „die Muslime sind die neuen Juden“. Hier wird nicht, bedingt durch die Unkultur der Nazis, nach einer Antwort auf die Herausforderungen des Islamofaschismus für unsere westliche Gesellschaft gesucht, sondern ganz im Gegenteil dazu dieser Ausdruck einer höchst subversiven gesellschaftlichen Segregation in einem überaus anklagenswerten Kitschkult gegen jede rationale Kritik immunisiert. Jedoch sollte nicht hinter jeder Faschismusderivation eine esoterische Kultivierung identifiziert werden. Wenn etwas Faschismus ist, sollte es das auch genannt werden.
Dass neben der Kultur auch die Identität positive wie negative Facetten erfasst, habe ich bereits erwähnt. Denkt man dies nun konsequent weiter, kann man sich in diesem Narrativ die spezifisch deutsche Identität als eine Menge aller identitätsstiftenden historischen wie kulturellen Ausprägungen vorstellen. Von Reformation über Hambacher Fest bis hin zur Wannseekonferenz. Durch die Kollektivierung dieser Identität weist die Höcke-AfD dem eine spezielle Note zu. So sind die Lehre aus diesen epochalen Offenbarungen deutscher Kultur wie Unkultur nicht ein „individuell“ sowie eigenverantwortlich erarbeitetes Substrat, sondern im Gedächtnis eines nationalen Kollektivs fest verankert, welches sich zeitlos über alle deutsche Generationen erhält.
Jede dieser Ausprägungen mit all ihren gegenwärtigen sozialen, politischen und individuellen Implikationen, im Positiven wie im Negativen, unabhängig davon, ob man selbst hierfür nun eine Verantwortung trägt, oder eben nicht, ist so aufgrund der zeitlosen Fortdauer Teil einer kollektiven deutschen Identität. Haben heutige Protestanten zwar nicht zur Zeit der Reformation an der Seite Martin Luthers gestanden, dürfen sie die evangelischen Früchte dieses einschneidenden Lossagens von der katholischen Kirche genießen. Haben bürgerliche Demokraten heute zwar selbst nie auf den Barrikaden der Revolution von 1848/49 gekämpft, dürfen sie heute deren demokratisches Erbe für sich reklamieren. Und schließlich: Trieb keiner von den nach 1945 geborenen Deutschen definitiv selbst je einen Juden auf die Rampe zur Vergasung, tragen wir doch heute die Verantwortung für ein „Nie wieder Auschwitz“. Damit muss in der Vorstellung einer kollektive Identität eben auch die Kollektivschuld, als Ergebnis einer Vernichtungskultur unserer Vorfahren, integraler Bestandteil eben dieser Identität sein!
Die unkündbare Schicksalsgemeinschaft des kollektiven Wir
Im voangegangenen Beitrag habe ich dargestellt, wie die Höcke-AfD einen kollektivistisch-nationalistischen Popanz einer deutschen Volksgemeinschaft hinlänglich bedient. Die Kritik daran, dass man etwas, was riecht wie Nazi, schmeckt wie Nazi, aussieht wie Nazi und sich letztlich auch liest wie Nazi, nicht als eben das bezeichnen sollte, ist bemerkenswert. Bedient ein „konservatives“ Positionspapier in Sprache, Duktus und erschreckender Geschichtsrelativierung eine historisch unheilvolle NS-Tonalität, sollte die konservative Community in Deutschland nicht der Gefahr erliegen, auf diesen faschistischen Sirenengesang der kollektiven Volksgemeinschaft hereinzufallen. Um so auf ein Neues jedes freiheitlich-konservative parteipolitische Aufbegehren im nächsten tausendjährigen Reich zu beerdigen.
Diese Erfahrung ist allerdings nicht neu. Bereits die Republikaner und andere Abspaltungen der CDU beziehungsweise neokonservative Parteien sahen sich einem immensen Druck aus der rechtsextremen Szene ausgesetzt. Der ehemalige Verfassungsschützer Hans-Joachim Schwagerl bringt es in seinem Buch „Rechtsextremes Denken: Merkmale und Methoden“, welches 1993 erschien, recht prägnant auf den Punkt:
„Nicht nur aus taktischen Erwägungen, sondern überwiegend aus Gründen politisch-weltanschaulicher Übereinstimmung übernehmen die Anhänger des Rechtsextremismus im Prinzip fast alle politisch-konservativen Grundhaltungen und verwenden sie im konkreten Sinne in der aktuellen Politik […] [Es] werden nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch wegen innerer Gemeinsamkeiten zunächst fast alle konservativen Wertvorstellungen übernommen, die sich primär auf das persönliche Verhalten beziehen. Sie sollen das Verhältnis des einzelnen zum Staat oder zum ‚Ganzen‘ entsprechend beeinflussen.“
Und wer sich noch an die Erzählung im Positionspapier der Thüringer AfD von spezifisch deutschen Tugenden und Mythen erinnert, die die kollektive Identität der Deutschen bilden würden und „in denen sich die Eigentümlichkeiten des Nationalcharakters zeige“, und wer zudem noch den Forderungskatalog im Sinn hat, der eine staatliche Kultur und Bildungspolitik fordert, die diese „Tugenden pflegt“, der sei auf folgenden interessante Übereinstimmung hingewiesen, die Schwagerl so formuliert:
„Das sind die Vorstellungen der sogenannten Konservativen Revolution. Als Grundwerte kommen in Betracht: Fleiß, Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit, Standfestigkeit, also Sekundärtugenden, die gern von den Verteidigern des Kapitalismus gefordert werden. Wer sich dem Zeitgeist widersetzt, sei eben nicht reaktionär, sondern konservativ und revolutionär. [Hans-Gerd] Jaschke weist zutreffend darauf hin, daß konservative Sekundärtugenden wie Familiensinn, Pflichtgefühl, Ordnung und Sauberkeit radikalisiert und in obrigkeitsstaatliche, vordemokratische, autoritäre Ordnungskonzepte eingebunden werden.“
Hierin drücke sich, so Schwagerl weiter, eine grundlegende Beurteilung der Menschen aus, die „von der Unveränderlichkeit menschlicher Verhaltensweisen und der bleibenden Verschiedenartigkeit der Charaktere aus[gehe]“. Dass dies eine Absage an jede individuelle Entfaltung darstellt, ist so offenkundig wie evident. So ist der Kult im Positionspapier um eine kollektive Identität und ein nationales „Wir“ als Kontrapunkt zum gesichtlosen, individualistischen, diversen Multikulti-Staat bewusst von völkischen Sozialisten gesetzt:
„Der einzelne ist demnach ebenso abhängig von der vor ihm existierenden ‚organischen Gemeinschaft‘ wie von der Artkraft im Gegensatz zur ‚beschlossenen künstlichen Gesellschaft‘. Daraus ergibt sich eine bestimmte Verpflichtung für ihn; denn er ist nach dieser Theorie Teil der Gemeinschaft, der Menschheit, die vor ihm da war. Hier stoßen wir auf altbekannte Thesen, die seinerzeit von Ferdinand Tönnies (1855 – 1936) vertreten wurden: den Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft. Diese [Gesellschaft] wird als ‚reine, auf Nützlichkeitserwägungen beruhende Gesellung‘ wertemäßig gegenüber der ‚unkündbaren Gemeinschaft‘ abgelehnt.“
Statt einer „künstlichen“ multikulturellen Gesellschaft, die rein „auf Nützlichkeitserwägungen“ beruht, wird die „organische“ wie „unkündbare“ (Schicksals-) Gemeinschaft postuliert, eine Gemeinschaft, die sich ausschließlich über ein kollektives „Wir“ definiert:
„Diese Gemeinschaft, auch universaler Kollektivismus genannt, als wirkliche überindividuelle Lebenseinheiten, die nicht lediglich als Summe von einzelnen erklärt werden können, wird als das Positive und Vorgegebene angesehen. Die Unkündbarkeit betrifft natürlich die Familie, das Volk, den Stamm sowie […] Volkstum und Artung.“
Ein totalitär-kollektivistischer Kulturmythos als Phantasiebefriedigung
Der italienische Historiker und Pionier der Faschismusforschung Emilio Gentile hat in seinem Werk „Der Faschismus: Eine Definition zur Orientierung“ die kulturelle Dimension des Faschismus beschrieben, „in der es um das Menschenbild und die Ideen von Masse und Politik geht“. So wie auch die Höcke-AfD in den Erzählungen nationaler Mythen schwelgt, sieht Gentile im Faschismus „eine Kultur, die auf dem mythischen Denken und einer tragisch-archaischen Auffassung vom Leben beruht (das eine Verkörperung des Willens zur Macht sein soll)“. Weiter führt er zum Zusammenspiel von Kultur, Mythos und Ideologie aus:
„eine Ideologie von antiideologischem und pragmatischem Charakter, die sich als antimaterialistisch, antiindividualistisch, antiliberal, antidemokratisch, antimarxistisch proklamiert, tendenziell populistisch und antikapitalistisch, eher ästhetisch als theoretisch formuliert mit den Mitteln eines neuen politischen Stils und den Mythen, Riten und Symbolen einer Laienreligion, die dazu dient, die Massen kulturell-sozial zu einer geschlossenen Glaubensgemeinschaft zu formen, deren Ziel die Schaffung eines ‚neuen Menschen‘ ist.“
Wer noch das Positionspaper im Sinn hat, dessen Mystik um Mythen, Tugenden, Bauwerke, Traditionen und Feste, den im Kern antiliberalen, antiindividualistischen wie antimarxistischen Duktus berücksichtigt, und ebenso die schließlich mangelhaft theoretische Fundierung, die einer Ästhetik der Romantisierung deutschen Kulturguts und der deutschen Nation weichen muss, wird auch hier Übereinstimmungen zwingend feststellen. Doch hier ist nicht das Ende der Fahnenstange erreicht, Gentile identifiziert auch den Kult um das kollektive „Wir“ als Teil dieser Mystik:
„eine totalitäre Auffassung vom Primat der Politik, die als entscheidende Lebenserfahrung gilt und als ständige Revolution aufgefasst wird; mit ihr soll durch den totalitären Staat die Fusion von Individuum und Masse in der organisch-mystischen Einheit der Nation erreicht werden, die eine ethnische und moralische Gemeinschaft ist“
Diesen quasi-religiösen Charakter, den Gentile durch „Mythen, Riten und Symbolen einer Laienreligion“ klassifiziert, hat der deutsche Politikwissenschaftler Hans Maier in seinem Artikel „‚Totalitarismus‘ und ‚Politische Religionen‘: Konzepte des Diktaturvergleichs“ folgendermaßen auf den Punkt gebracht:
„Hannah Arendt wie Eric Voegelin haben verdeutlicht, daß die totalitären Bewegungen auf Fiktionen angewiesen sind. Sie orientieren sich nicht an der Realität, sondern an einer selbsterfundenen Scheinordnung […] Aus der erfahrbaren Welt werden geeignete Elemente für eine Fiktion herausgenommen und so verwendet, daß sie fortan von aller überprüfbaren Erfahrung getrennt bleiben […] ‚Das Ergebnis ist also nicht Herrschaft über das Sein, sondern eine Phantasiebefriedigung‘“
Die Bundesrepublik als Gegenbild zum Nationalsozialismus
Dieser „Phantasiebefriedigung“, die jeden positiv besetzten nationalen Mythos sowie eine imaginierte, zeitlose kollektive Identität quasi-religiös verklärt, kann die Zeit der massenmörderischen Unkultur der Nazis nur als Häresie der eigenen Religionsmystik erscheinen. Daher sind Forderungen wie „die deutsche Geschichte sei mehr als 1933 bis 1945“ bzw. „die alles verdunklenden Schatten des Dritten Reiches machen uns zu einem geschichtslosen Volk“ auch vor diesem Hintergrund zu deuten und zu verstehen.
Dabei steht die bewusste Marginalisierung der Nazi-Zeit im völligen Widerspruch zur Begrifflichkeit der kollektiven Identität. Denn die damit verbundene Frage, was unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhält, ist auch durch die Lehren aus der Unkultur des Nationalsozialismus zu beantworten. Diesen zentralen, nennen wir ihn, Gründungsmythos der Bundesrepublik in Frage zu stellen, der sich in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung entgegen jedem Totalitarismus und Kollektivismus der Faschisten artikuliert, ist demnach auch ein direkter Angriff auf einen Grundpfeiler eben dieser FDGO. So kann eine kollektive Identität, die diesen Gründungsmythos marginalisiert, nur ein Widerspruch in sich sein. Ein Hohn auf eine akzentuierte mystische Allgegenwärtigkeit eines sich über die Geschichte und Kultur bildenden kollektiven Wir.
Diese Einschätzung teilt auch das Bundesverfassungsgericht, die in der Wunsiedel-Entscheidung (in seiner Gesamtheit hier zu finden) das Grundgesetz als Kontrapunkt zum nazistischen Terrorregime postuliert:
„Das menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht hat, hat für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig ist und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen werden kann. Das bewusste Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus war historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetztes beteiligten Kräfte […] und bildet ein inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung […] Das Grundgesetz kann weiterhin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden und ist von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen.“
In Bezug auf Judenvernichtung und staatlich sanktionierten Antisemitismus als prägendes Element der Nazi-Terrorherrschaft kam das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil von 1958 (nachzulesen hier) zu folgender recht einprägsamer Einschätzung, die ebenso die Frage nach den Grundlagen unseres Zusammenlebens (nach außen wie nach innen) reflektiert:
„Dem deutschen Ansehen hat nichts so geschadet wie die grausame Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus. Es besteht also ein entscheidendes Interesse daran, daß die Welt gewiß sein kann, das deutsche Volk habe sich von dieser Geisteshaltung abgewandt und verurteile sie nicht nur aus politischen Opportunitätsgründen, sondern aus der durch die eigene innere Umkehr gewonnenen Einsicht in die Verwerflichkeit.“
Und genau diesen grundgesetzlichen, gesellschaftlichen wie politischen Konsens der nach innen wie außen gerichteten Abwehr jeder faschistoiden Reminiszenz sind die volkssozialistischen Teile der AfD bereit an den Rand zu drängen und aus der kollektiven Identität zu verbannen, um das mystische Wir eines Nationalkollektivismus in seiner kollektivstiftenden Fiktion zu erhalten.
Westliche Werte zum Nulltarif
Diese Mystifizierung nationalen Pathos jedoch einfach als Nationalromanatik aus dem 19. Jahrhundert zu verklären, um sie so künstlich zu entnazifizieren, macht die Sache auch nicht viel besser. Führt dieser nationalistische Kitsch zwar nicht nach Auschwitz, dafür umso mehr in die Schützengräben von Verdun und das millionenfache Leid des Ersten Weltkriegs. Indem man die Glorifizierung der Terrorkultur der Nazis durch die Mystifizierung eines deutschen Nationalismus substituiert, der zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts geführt hat, erweitert man, ob bewusst oder unbewusst, die deutsche Unkultur um den historischen Abgrund der Menschenmaterialschlachten des Ersten Weltkriegs. Das ist fürwahr auch ein dialektisches Husarenstück.
Überdies entsagt diese Verklärung, ob nun einer deutscher Nationalromantik aus dem 19. Jahrhundert oder einer Kultur des NS-Kitschs, jedem westlichen Wertekanon. Nicht die Freiheit des Einzelnen, Aufklärung oder Vernunft stehen hierbei im Vordergrund, sondern ganz im Gegensatz dazu die Werte der deutschen Volksgemeinschaft, die aus einem Dreiklang von Totalitarismus, Kollektivismus und bedingungslosem Untertanengeist bestehen. So kann es eigentlich niemanden verwundern, dass der maximal kollektivistische Marxismus, der den Wert des Einzelnen negiert und einen sozialistischen Ameisenschwarm als gesellschaftliche Maxime postuliert, nur im Deutschland des 19. Jahrhunderts erdacht werden konnte.
Das steht auch in klarem Kontrast zur Patriotismus-Kultur der US-Amerikaner, die eben ein historisches wie kulturelles Resultat ihrer Kämpfe um Unabhängigkeit, Freiheit (des Einzelnen) und Demokratie waren, und so diesen Geist in jedem Ausdruck freiheitlicher Symbolik wie der US-Flagge, des Fahneneids oder der Nationalhymne konserviert. Ebenso unberührt bleibt die Patriotismus-Kultur der Franzosen, die in der französischen Revolution für westliche Werte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gekämpft haben. Die „Eigentümlichkeiten des Nationalcharakters“ der Deutschen lassen sich, wie eben ausgeführt, aber eben nicht in diesen Kanon zutiefst westlicher Werte fassen. Was auch darin begründet liegt, dass jeder Kampf des deutschen Bürgertums hierfür scheiterte beziehungsweise sogar bürgerlich unterwandert wurde.
Die bürgerliche Revolution von 1848/49 lief ins Leere und danach in die Volksgemeinschaft des Deutschen Kaiserreichs, die Revolution 1918 pervertierte die Weimarer Republik in die Apologetik der NS-Herrenmenschen, in der das Bürgertum lieber einen Deutschkollektivismus pflegte als die Freiheit des Einzelnen. Einzig die Ostdeutschen können durch die Erfahrungen zweier sozialistischer Unrechtsregime für sich beanspruchen, mit ihrer Revolution im Jahr 1989 erfolgreich für westliche Werte gekämpft zu haben. So passt aus diesen historischen Erfahrungen heraus der deutsche Nationalcharakter in der Summe vielmehr zum Charakter der sozialistischen Unkulturen der Nazis, Kommunisten und Islamisten. Es stehen sich also (historisch) gegenüber eine deutsche Kultur des Kollektivismus bzw. der Volksgemeinschaft und eine westliche Kultur der Freiheit des Einzelnen.
Der Vorrang westlicher Werte in unser freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist demnach nicht ein Ergebnis der Kämpfe unserer (deutschen) Vorfahren, sondern im Wesentlichen dem hohen Blutzoll amerikanischer GIs im Kampf gegen die nazistische Horrorkultur zu verdanken. Während unsere Großelterngeneration freudig dem nationalistischen Besäufnis in Fahnenmeer und Fackelmärschen gehuldigt hat und von der industriellen Judenvernichtung nichts gewusst haben wollte. Ohne den Kampf der amerikanischen Verfechter von individueller Freiheit und Demokratie gegen die preußisch-deutsche Unkultur des Nationalkollektivismus wäre der Mythos dieser sozialistischen Volksgemeinschaft auch heute noch unsere Gegenwartskultur. Westliche Werte gab es für uns Deutsche zum Nulltarif, dem hohen Blutzoll der amerikanischen GIs sei Dank.
Der faschistische Flaschengeist
Dieser also ins Laienreligiöse abdriftende volkssozialistische Konservativismus, wenn man ihn so nennen möchte, ist nichts mehr als Tünche für eine völkische Revolution hin zur deutschesten aller deutschen Volksgemeinschaften und so letztlich nur ein miserabler Missbrauch konservativer Werte. Mit diesem Missbrauch waren die Nazis bereits in der Weimarer Republik erfolgreich darin, die Konservativen um den Finger zu wickeln.
Die konservative Community in Deutschland, die sich heute im Wesentlichen um die AfD schart beziehungsweise von der sozialdemokratisierten Merkel-CDU immer mehr in die Arme der Alternative getrieben wird (Friedrich Merz wird mit seinem Bekenntnis zu Schwarzgrün diesen Prozess nicht stoppen können), sieht sich folglich mit einem Problem konfrontiert, vor dem auch die konservativen Eliten in der implodierenden Weimarer Republik standen: wie umgehen mit völkischen Nationalisten, die zwar wunderbar die konservative Klaviatur bedienen können, im Herzen aber Sozialisten sind. Völkische Sozialisten, bei denen sich der Einzelne stets dem kollektiven „Wir“ der Volksgemeinschaft unterzuordnen hat. Wobei dieser Geist der sozialistischen Volksgemeinschaft vielen Anhänger einer konservativen Revolution in nationalkonservativen wie monarchistischen Kreisen fernab der NSDAP ebenso aus der Seele sprach.
In der Weimarer Republik meinte man diesen faschistischen Flaschengeist dadurch bändigen zu können, indem man ihn in die Regierungsarbeit einband, um ihn so in die Ecke zudrücken, dass es „quietscht“ – um einmal an Franz von Papens historische Fehleinschätzung zu erinnern. Doch der umgekehrte Fall trat ein. Der deutsche Konservativismus erwies sich als willfähriger Geburtshelfer einer historisch einmaligen faschistischen Vernichtungskultur. Die Revolution der Nazis war dabei unter Erhalt kapitalistischer wie bürgerlicher Versatzstücke völkisch-sozialistisch, doch niemals konservativ. Diese historische Lektion sollte niemals verhallen!
Natürlich weist dieser Volkssozialismus nicht den Weg zu einem neuen Auschwitz. Jeder der etwas anderes behauptet, erliegt eben doch einer Kitschkultur des Agitprops. So zeigt ja bereits die postfaschistisch wenig fremdelnde Lega in Italien, dass man auch als netter Nazi von nebenan demokratische Politik betreiben kann. Auch eine Marine Le Pen ist mit ihrem dezidiert anti-antisemitischem Volkssozialismus weit entfernt von der deutsch-nazistischen Mordbrennerei. Nichtsdestotrotz bewegen sich Teile der AfD eben genau in Richtung dieser Volkssozialisten. Man sieht sie, wie der Parteivorsitzende Meuthen, sogar als natürliche Verbündete.
Dass dieser Volkssozialismus überdies gerade in der ostdeutschen Provinz von Erfolg gekrönt ist, ist eigentlich nicht verwunderlich, wenn man sich an die Wahlerfolge der Kollektivsozialisten von NPD/DVU und PDS in der 1990er und 2000er Jahren im Osten der Republik erinnert. Wobei man jedoch berücksichtigen sollte, dass vermutlich ein Großteil der Wählerschaft seinerzeit aus Protest die alten sozialistischen Reminiszenzen an die DDR gewählt hat, und nicht weil deren zutiefst reaktionäre Programme aus dem 19. Jahrhundert auch nur irgendeine aktuelle Frage beantwortet hätte. Wer 1989 noch für westliche Werte gekämpft hat, wird nicht über Nacht zum Kollektivisten. Auch die ostdeutsche AfD konserviert in Teilen so eine sozialistische Erinnerungskultur als Protestkultur, gleichwohl dieser Protest der Bürger nicht sozialistisch, sondern bürgerlich besetzt ist.
Freiheit oder Sozialismus?
Dass ich diese mystische Erinnerungskultur der Thüringer AfD nun „NS-Kitsch“ nannte, hat in den Leserbriefen für allerlei Widerspruch gesorgt. Ich sage es hier mit aller Deutlichkeit: Langfristig gesehen wird dieses Getöse um eine kollektive Identität als Chiffre für die deutsche Volksgemeinschaft außerhalb der Ein-Prozent Sezessionsblase von Götz Kubitschek niemanden interessieren. Geben Sie sich da keinen Illusionen hin, neunundneunzig Prozent der Deutschen leben im 21. Jahrhundert und nicht im Deutschen Reich. Das ist so wenig massenkompatibel wie der Irrsinn der No-Border-Sektierer. Überdies wird sich der Protestcharakter der AfD auch im Osten der Republik irgendwann verbrauchen.
Doch steht man dann dort mit heruntergelassenen Hosen und einem volkssozialistischen Parteiprogramm da, das mehr der Abschreckung breiter Wählerschichten als einer notwendigen Erneuerung einer konservativen Volkspartei dient. Die Republikaner lassen grüßen. Angesichts der historischen Entscheidung der CDU/CSU den konservatives Flügel einer „Politik der Mitte“ zu opfern, die eigentlich vollständig sozialdemokratisch ist, wäre dies, freundlich formuliert, eine mehr als kurzsichtige Positionierung der AfD.
Oder schlimmer noch, könnten diese kollektivistischen Auslassungen den Verfassungsschutz auf den Plan rufen, wie es sich ja bereits in Thüringen andeutet. Dieser wiederholte und kalkulierte Tabubruch, der hier nicht im Bierzelt vorgetragen, sondern der interessierten Öffentlichkeit in einem Papier dargestellt wird, dessen Positionen über Monate sorgsam ausformuliert worden sind, muss sich über kurz oder lang zu einer Zerreißprobe für die AfD entwickeln. Ich erinnere daran, dass das Gezänk mit und um den Höcke-Flügel bereits zwei Parteivorsitzende ins Exil vertrieben hat. Beliebig ist dieser Prozess nicht wiederholbar, auch die personellen Ressourcen für den Parteivorsitz erschöpfen sich mit der Zeit. Irgendwann sitzen – wieder eine Parallele zu den Republikanern – die Volkssozialisten an den Hebeln der innerparteilichen Macht. Wohin der Weg der Republikaner dann führte, wissen wir alle.
Der politische Konservativismus, der sich in der AfD sammelt, muss, wenn er denn politisch überleben will, hieraus die richtigen Rückschlüsse ziehen und letztlich die alles überlagernde Frage beantworten: Wo will man hin, Richtung Konservativismus oder völkischem Sozialismus? Oder in Anlehnung an einen alten CDU-Wahlslogan: Richtung Freiheit oder Sozialismus?