Lugn som en finbunke. Das ist schwedisch und heißt: Ruhig wie ein Sauermilchtopf. Der Spruch kennzeichnet den aktuellen Gemütszustand des größeren Teils der schwedischen Bevölkerung. Sie nimmt die Corona-Lage ernst. Aber sie lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen.
Fast alle Läden, Restaurants und Kneipen in Stockholm sind in den Stoßzeiten ziemlich voll. Man muss Glück haben, um abends im Stockholmer Opern-Café einen Sitzplatz zu ergattern. Im malerischen Stadtteil Gamlastan, da, wo Politlegende Olof Palme gewohnt hat, sind tagsüber immer noch viele Touristen unterwegs. Und die Fähren im Schärengarten tuckern gemütlich wie immer in der Ostsee und im Mälaren-See herum.
Stockholm im Gelassenheitsmodus, keine Kontaktsperren, keine Ausgangsbeschränkungen. Schweden ist eines der wenigen Länder der Erde, die im Corona-Krieg nicht alle Möglichkeiten der Restriktion ausgeschöpft haben.
Ministerpräsident Stefan Löfven lehnt die Politik der harten Hand ab, ebenso wie offenbar die Mehrheit seiner zehn Millionen Landsleute. Er rät, von Reisen abzusehen und sich, soweit möglich, in den eigenen vier Wänden aufzuhalten. Wer die Möglichkeit dazu hat, soll im Homeoffice weiterarbeiten. Ja, doch, man hält Abstand in den Parks und auf den Straßen, aber das öffentliche Leben ist nicht eingeschränkt. Löfven hat gesagt, er setze statt auf Zwang auf die Vernunft der Bürger. Eine famose Maxime. Aber wie lange ist sie durchzuhalten?
Für die Alten ist es besser, daheim zu bleiben
Löfvens rotgrüne Regierung hat auch auf eine Einreisesperre verzichtet. Sie hat ihre Bürger sogar dazu aufgefordert, draußen die Frühlingsluft zu genießen. Vor allem die Kinder dürften nicht in den Wohnungen abgeschottet werden. Sie räumt immerhin ein, dass es für die Alten besser ist, daheim zu bleiben.
Mein Freund Jörg, Ex-Banker, der seit Jahrzehnten in Stockholm lebt, hat sich eisern an die Warnung gehalten, noch bevor sie ausgesprochen wurde. Seine Stadtwohnung hat er seit Wochen nicht verlassen. Das luxuriöse Chalet auf der Ferieninsel Ljusterö mit einem paradiesischen Blick auf einen Fjord hat er ebenso lange nicht betreten. Er sagt, man dürfe nichts riskieren. „Es geht jetzt ums Überleben.“ Er ist immerhin 85. Die Frage, ob die Regierung das Richtige tut, um ihn zu schützen, lässt er offen.
Die skandinavischen Nachbarn sind entgegen aller grenzübergreifenden Solidarität verwundert bis schockiert. Dänemark, Finnland und Norwegen beurteilen den schwedischen Sonderweg skeptisch. Die Fernsehbilder vom Remmidemmi beim Après-Ski in den schwedischen Wintersportorten haben erbostes Unverständnis ausgelöst.
Die Behörden haben bis Anfang der Woche über 2.500 Infizierte und 42 Corona-Verstorbene registriert. Die Zahlen sind nicht so weit vom europäischen Mittel entfernt. Doch die Dunkelziffer ist erheblich, weil nur Patienten mit starken Symptomen getestet werden. Dass die Infektionskurve bisher eher moderat angestiegen ist, mag allerdings auch daran liegen, dass die Skandinavier traditionell auf größerer Distanz leben als etwa die Südeuropäer. Umarmungen und Küsschen zur Begrüßung sind hier nicht üblich.
Immer noch alle 16 Skilifte in Betrieb
Jedoch die Kritik an der Corona-Politik nimmt Fahrt auf. Im Netz wird die Gesundheitsbehörde mit Hasskommentaren überschüttet. „Wir dürfen nicht zulassen, dass sich das Elend von Wuhan und Bergamo in Schweden wiederholt“, kommentiert auch „Dagens Nyheter“, die größte Zeitung des Landes. Jedes Menschenleben sei wertvoll. Die bisherigen Maßnahmen seien nicht streng genug. Was in Schweden zur Zeit passiere, sei sowas wie der „Tanz auf dem Deck der Titanic“ schrieb ein Leser.
Sofia Leje, die leitende Ärztin des Ski-Hotspots Are am Aresjön-See, befürchtet, dass sich die berüchtigte „Virenparty“ im österreichischen Ski-Resort Ischgl, die halb Europa mit Infizierten überschwemmt hat, hier wiederholen könnte. Das sehen hier einige Hoteliers, Gastronomen und Barbesitzer auch so. Sie haben freiwillig geschlossen.
In Are sind immer noch alle 16 Skilifte in Betrieb. Und der große Boom kommt erst noch. Die Buchungslage bei den Hotels ist für die bevorstehenden Osterferien leicht rückläufig. Doch notorische Skihaserln lassen sich ihre Gaudi von Corona nicht vermiesen.
Noch nie hat sich ein Erwachsener bei einem Kind angesteckt
Auch Grundschulen und Kindergärten bleiben erst mal geöffnet. Nur die Oberstufen der Gymnasien und die Universitäten haben auf Fernunterricht umgestellt. Anders Tegnell, der ebenso heftig kritisierte wie bewunderte erste Epidemiologe des Königreiches, der jeden Tag um 14 Uhr die neuesten Zahlen und Erlasse vorträgt, rechtfertigt die liberale Fasson so: Die Weltgesundheitsorganisation WHO habe angeblich keinen Fall dokumentiert, in dem sich ein Erwachsener bei einem Kind angesteckt habe. Weiß er mehr als die Medien?
Tegnells Kampfkalkül basiert auf zwei Grundregeln. Erstens: Ältere und gesundheitsschwache Bürger streng isolieren. Also auch keine Besuche von Kindern und Enkeln. Zweitens: Wer an sich auch nur leichte Symptome feststellt, soll zu Hause bleiben. Menschen ohne Symptome seien dagegen nicht ansteckend. Alle weiteren Maßnahmen hält er für überflüssig. Tegnells Empfehlungen laufen letzten Endes auf die britische „Herdenimmunität“ hinaus. Das heißt de facto: eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, hier die Jungen, da die Alten.
Die Frage, wie sinnvoll Anders Tegnells Strategie war, wird wohl erst beantwortet, wenn die Pandemie vorbei ist. Nur, dann hat sie sich erledigt.