Thomas Rietzschel / 10.09.2014 / 05:08 / 5 / Seite ausdrucken

Der schottische Virus

Die professionellen Europäer sind wirklich nicht zu beneiden. Erst haben die Schweizer in Sachen Zuwanderung nicht so entschieden, wie man es in Brüssel wünschte; und nun sind die Schotten auch noch drauf und dran, am 18. September mehrheitlich für die Loslösung ihres Landes vom englischen Königreich zu votieren. Natürlich geht das alles den Brüssler Klüngel einen feuchten Kehricht an. Um den Fortbestand Großbritanniens müssten sich die Herrschaften weiter nicht sorgen, wenn, ja wenn, nicht die Gefahr bestünde, dass das Verfahren Schule machte, der Virus der Unabhängigkeit auf das Festland übergreift und andere noch auf die Idee kommen könnten, ihr Heil in der Souveränität zu suchen. Anzeichen dafür gibt es genug. Den EU-Beamten drohen die Fell davon zu schwimmen. 

Während sie die Einigung Europas mit den verschiedensten Verordnungen vorantreiben, zum Beispiel mit einer Vorschrift, die es den Gastwirten von Wien bis Bordeaux verbietet, Olivenöl in Karaffen statt in Handelsflaschen auf den Tisch zu stellen, sind die durch-regierten Menschen in die entgegengesetzte Richtung aufgebrochen: weg aus dem babylonisch sprachverwirrten Vielvölkerkonglomerat zurück in die Länder, mehr noch in die Regionen.

Deren kulturelle und sprachliche Eigenständigkeit versprechen Geborgenheit, ihre überschaubare Größe die selbstbewusste Teilhabe der Bürger an der Demokratie. Hier können sie das, was sie angeht, noch direkt beeinflussen und ihre Rechte persönlich wahrnehmen. Sie haben die Chance, ihre Gemeinschaft persönlich mitzugestalten. Das ist die Hoffnung der Iren, der Bretonen, der Katalanen, der Korsen, der Flamen, der Wallonen und der Schotten. Alle erheben sie Anspruch auf ein Höchstmaß an politischer Selbständigkeit. Selbst die Bayern könnten sich ein eigenes Außenministerium vorstellen.

Alles Unsinn, reaktionäre Folklore, ein Rückfall in die Zeiten finsterer Kleinstaaterei? Das wird oft unterstellt und trifft die Sache doch nicht. Weder wollen die Bayern König Ludwig aus dem Himmel zurückbeordern, noch strebt irgendeine der genannten Regionen aus Europa heraus. Wie sollte das gehen? Unser Erdteil ist kein Puzzle, das sich in seine Einzelteile zerlegen lässt. So wurde nur der politische Kontinent zusammengesetzt: das Brüssler Europa-Modell, ein abstraktes Gebilde, in dem das Leben bürokratisch erstarrt.

Um damit auszukommen, kann man zweierlei tun. Man kann den Apparat ignorieren, den ganzen Verein links liegen lassen und sich schwarz ärgern über die Vielzahl unsinniger, bisweilen dämlicher Verordnungen, die er produziert, um nur irgendetwas zu tun. So halten es die meisten. Oder man versucht, wieder für sich selbst einzustehen in politischen Einheiten, die sprachlich und kulturell so begrenzt sind, dass die Bürger einander noch verstehen und gemeinschaftlich ein Selbstbewusstsein entwickeln können, das es ihnen erlaubt, souverän mit den anderen zu verkehren – wirtschaftlich, politisch und kulturell.

Das ist der Weg, den jene einschlagen, die die Demokratie wieder auf den festen Grund ihrer nationalen oder regionalen Identität stellen wollen. Separatisten sind sie so wenig wie die Wutbürger Terroristen sind. Beide haben sie nur dasselbe erkannt: Eine Demokratie, die man den Verwaltern überlässt, entartet zum Reglement.

Niemand weiß das besser als unsere professionellen Europäer. Sie haben daraus ein Geschäft gemacht, von dem allein in Brüssel mehr als 50.000 Menschen leben. Wenn die Schotten nun zeigten, dass es auch anders geht, dass auch kleinere politische Einheiten in der globalisierten Welt nicht zum Untergang verurteilt sind, wäre das für die professionellen Europäer der Anfang vom Ende. Dass sie an dem schottischen Referendum kein gutes Haar lassen, kann man nur daher zu gut verstehen.

Aktualisierter Auszug aus dem Buch „Geplünderte Demokratie. Die Geschäfte des politischen Kartells“, Paul Zsolnay Verlag Wien 2014

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Michael Lorenz / 10.09.2014

Dazu passt eine Beobachtung, die mir gestern im “Deutschlandfunk”, dort in der internationalen Presseschau auffiel: Was auch immer für ein Thema dort bislang auftauchte - die Zeitungszitate waren gemischt. Und war es auch nur ein einziger Beitrag, der anders als die vorherigen tönte -ein kleiner Anschein Ausgewogenheit sollte wohl immer dabei sein. Bis auf gestern: die Themen zu Schottland waren ausnahmslos gegen die Eigenständigkeit gerichtet. Wobei fraglich ist, was schlimmer wäre: die gezielte Aussiebung unerwünschter Sichtweisen durch den DLF - oder wenn tatsächlich keine maßgebliche europäische Zeitung mehr eine abweichende Meinung brächte.

Daniel Briner / 10.09.2014

Das 50.000 Tausend Köpfe zählende EU-Parlament ist für mich ein solch abstruser Funktionärsmoloch, fraglos mit den höchsten Gehältern des Kontinents zufriedengestellt, die man in der Politik überhaupt nur herausschlagen kann; frage mich grad, wie bei diesen ehrenhaften „Teletubbies“ wohl grad die Rentenansprüche so daherkommen … Schlussendlich lebe ich heute hier in der Schweiz auch grad nur noch in einem völlig degenerierten Justiz- und Polizeistaat (!), welcher zwar rundherum noch, als so ein Pseudo putziges direktdemokratisches Original hoch gehuldigt wird, aber auch hier hat der sogenannte Souverän gegen diesen staatlichen Selbstläufer, so wie grad zu diesen unverschämten Abgeordnetenentschädigungen, in Deutschland ja so zutreffend als Diäten (mit 100%-ig garantiertem JoJo-Effekt) betitelt, eben gar nichts abzustimmen! Wenn hier der Souverän direktdemokratisch diesem “parasitären Staats-Funktionärsmoloch” Einhalt diktiert, oder gar finanziell etwas wegstreicht, oder nur schon mal ein bisschen ausbremst, dann holt es sich dieser “Staats-Funktionärsmoloch” einfach anderswo, eben jeweils grad wie ihre Entschädigungen, doppelt so hoch und ja so unabdingbar notwendig, immer über die Steuern und Gebühren gleich wieder ab. In der Mehrheit sind für mich unsere so honetten Staats-, und besonders diese unsäglich EU-devoten Regierungsvertreter hier, ja nur noch so eine “vergnügt grunzende und quiekende Steckdosennasen-Clique”, eben jenseits jeglicher Wertschöpfung stehende, halt von der Politischen Art „Kulturschaffenden! Da ja heute in der Schweiz auch rund ein Drittel der Bevölkerung direkt oder indirekt Staatsbesoldete „Kulturschaffende“ sind, dazu ein weiteres Drittel genau von diesen „Kulturschaffenden“ betreut und finanziell abhängig ist, ist dem übrigen, eben gar nur noch einzahlenden Bevölkerungs-Drittel vielfach auch das so hoffnungslose Abstimmen nur noch zuwider. Wie wir Zürcher zu sagen pflegen, gegen diese Mehrheits-Allmacht haben wir weder “Figgi no Müli”! Dürfte ich denn in der Schweiz je mal darüber abstimmen, ja mir wär sogar die Hälfte grad noch ein Viertel zu viel an diesen Legislativen-, Judikativen- und Exekutiven-, wie auch grad die sogenannte Vierte Gewalt-„Kulturschaffenden”; dass wird es sich aber sowieso niemals ergeben, eben genau wegen dieser “Figgi no Müli”-Situation. Wie käme es mir da überhaupt je in den Sinn, diesem derart parasitären Machwerk auch noch grad eine übergeordnete gesetzgebende Gewalt dazu anzulachen! Zum Thema EU denke ich irgendwie auch immer grad an diese Sage von 1315, einfach in umgekehrten Sinne; … als sie so dahinritten, fragte der österreichische Herzog Leopold unversehens seinen Hofnarren Kuoni von Stocken, wie ihm sein Plan gefalle, durch die Talenge von Morgarten ins Land Schwyz einzufallen. Da antwortete der Narr: “Vetter, er gefällt - mir nicht recht.” - “Warum denn nicht?” fragte verwundert der Herzog. - “Darum”, sagte der Narr, “weil du wohl ausgedacht hast, wie du ins Land hinein-, aber nicht, wie du wieder herauskommen willst.”

Thorsten Haupts / 10.09.2014

Da waren wir dann vielleicht mal freundlich die Ergebnisse dieser Unabhängigkeit ab, so für 2 Jahrzehnte. Und um den EU Verächtern und Nationalstaatlern ihr Leben zu erleichtern, plädiere ich strikt dafür, ihnen EU- und NATO- Mitgliedschaft vorzuenthalten, den beitritt zum Euro unmöglich zu machen, sie zur eigenen Währung zu zwingen und die Staatsschulden der Gemeinschaft, aus der sie austreten, anteilig auf die Neugründungen zu verteilen. Schliesslich wollten die Herrschaften mit den Strukturen nichts mehr zu tun haben, die diesen Grossvereinen beigetreten sind. Bitte ... Danach setze ich mich hin, kaufe mir Chips und Bier und betrachte in aller Gemütsruhe die Entwicklung. Für mich wird das ein Spass, ob es dasselbe auch für die Kleinstaater wird, werden wir dann sehen. Bis dahin wäre ich mit der Euphorie über die neue Kleinstaaterei vorsichtig. Und bevor jemand “Schweiz” ruft - die gedeiht auch nur deshalb so gut, weil sie sich an den ihr passenden Regeln beteiligt (die vom abgelehnten Großverband durchgesetzt wurden) und der Großverband duldet, dass die Schweiz im Alltag fast schon EU Mitglied ist, nur ohne entsprechende Rechte und Pflichten. Man bezeichnet Menschen, die sich so verhalten, als Trittbrettfahrer. Weshalb es höchste Zeit wird, neuen Staaten diese Methode vorzuenthalten - was ein echter bürokratiefeindlicher Kleinstaater ist, der wird sich doch über Nichtmitgliedschaften und Nichtzulassung zu Wirtschaftsräumen freuen, nicht wahr? Gruss, Thorsten Haupts

Peter Kammer / 10.09.2014

Sie lieben völlig daneben, Herr Rietzschel, wenn sich die Schotten für die Unabhängigkeit entscheiden, dann ist es eben keine Entscheidung gegen die EU, auch wenn es die immer stärker zum Nationalismus tendierende Gutachse es gern so sehen wollte. Auch wenn sich die Katalanen von Spanien und gemeinsam mit den anderen Basken eigentlich auch von Frankreich (das Baskenland liegt ja in der Grenzregion) loslösen wollen, so spricht das gegen die großen Nationalstaaten und für die EU, die eine solche Trennung erst auf friedlichem Wege ermöglicht. Jugoslawien dient da als mahnendes Gegenbeispiel. Zudem sind doch die Schotten - und vor allem diejenigen, die für die Unabhängigkeit sich aussprechen - eher politisch “links” und dazu noch “grün” einzuordnen, gehören also für die hiesigen Schreiber zu den Ausgeburten der Hölle, die unseren Wohlstand gefährden. Bei den Basken sieht es nicht anders aus.

Matthias Strickling / 10.09.2014

So wird es vielfach gehandhabt: Reglementierung als Selbstzweck.

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