Mit gigantischen Rüstungsprogrammen bereitet sich Europa auf einen russischen Großangriff im Jahr 2030 vor. Doch genau damit spielt der Westen dem Kreml in die Hände – in einem Schattenkrieg, der längst begonnen hat.
Das Ringen um die Ukraine hat eine zentrale Erkenntnis zutage gefördert: Militärische Konflikte zwischen Staaten werden heute nicht mehr auf dem Schlachtfeld entschieden. Nicht Panzer und Divisionen sind ausschlaggebend, sondern die Fähigkeit, die Widerstandskraft des Gegners von innen zu zersetzen. Genau das tut Russland – mit einem hybriden Krieg unterhalb der Schwelle offener militärischer Konfrontation. Sein Ziel: Europas Sicherheit, Institutionen, Gesellschaften und die transatlantische Koordination zu untergraben.
Dieser Schattenkrieg, orchestriert von Diensten wie dem Militärgeheimdienst GRU, setzt auf gezielte Sabotageakte, verdeckte Operationen, Cyberangriffe, Desinformationskampagnen und politische Einflussnahme – nicht nur in Russlands Nachbarschaft, sondern tief im Inneren Europas.
Nach außen behauptet der Kreml, keine Eskalation mit dem Westen anzustreben. Tatsächlich jedoch richtet sich ein systematischer Angriff gegen die Grundlagen europäischer Souveränität. Es ist ein Krieg gegen Leitungen, Kabel, Lagerhallen, Wahllokale – und gegen die Gewissheit, dass Frieden in Europa ein gesichertes Gut sei.
Im strategischen Denken des Kremls nimmt die hybride Kriegsführung seit Jahren eine zentrale Rolle ein. Der Begriff „Aktive Maßnahmen“ stammt aus dem Arsenal des sowjetischen KGB – und wird heute, weiterentwickelt, von Putin und seinen Geheimdiensten erneut zur Anwendung gebracht. Ziel ist es, westliche Demokratien von innen heraus zu destabilisieren, ohne formal Krieg zu führen. Dabei setzt Moskau auf eine Mischung aus Desinformation, psychologischer Kriegsführung, verdeckter Einflussnahme, wirtschaftlicher Erpressung und physischer Sabotage.
Es geht darum, Misstrauen zu säen
Was diese Strategie so gefährlich macht: Sie operiert bewusst unterhalb der klassischen Kriegsschwelle. Ein gekapptes Kabel hier, ein Brandanschlag dort, eine fingierte Demonstration, eine anonyme Drohung, ein Meme im Netz – jede einzelne Aktion bleibt schwer zuzuordnen, juristisch kaum greifbar, politisch oft zu geringfügig, um eine entschlossene Reaktion auszulösen. Doch in ihrer Summe entfalten diese Maßnahmen enorme strategische Wirkung. Sie erzeugen Unsicherheit, lähmen Abläufe, verunsichern Regierungen – und spalten Gesellschaften.
Nach Einschätzung des Center for Strategic and International Studies (CSIS) ist zwischen Januar 2022 und März 2025 ein dramatischer Anstieg solcher Sabotageakte zu verzeichnen. Die Angriffe sind nicht länger punktuell, sondern systematisch. Sie richten sich gegen vier Hauptbereiche: Transport, kritische Infrastruktur, Industrie und Regierungsinstitutionen. Im Fokus stehen Länder, die Waffen an die Ukraine liefern, russische Oppositionelle schützen oder innerhalb der NATO eine Führungsrolle übernehmen. Die Auswahl der Ziele ist eindeutig politisch motiviert.
Die eingesetzten Mittel reichen von Sprengsätzen, Bränden und Ankern über GPS-Störungen, Cyberattacken bis hin zu logistischen Manipulationen. Allein im Jahr 2024 dokumentierte das CSIS über 30 physisch wirksame Sabotageakte mit klarer oder hoher Wahrscheinlichkeit russischer Urheberschaft. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen – auch deshalb, weil viele Staaten bislang zögern, Russland offen zur Verantwortung zu ziehen.
Doch das eigentliche Ziel des Kremls ist nicht, einzelne Staaten militärisch zu bezwingen. Es geht darum, Misstrauen zu säen, Entscheidungsfähigkeit zu untergraben und die westliche Sicherheitsarchitektur schleichend zu erodieren. Der Gegner soll seine eigene Wehrhaftigkeit infrage stellen – und damit sein Handeln. Dieser Schattenkrieg ist ein Krieg um Handlungsspielräume.
Hinter dieser verdeckten Offensive steht kein loses Netzwerk autonomer Gruppen, sondern eine zentral gesteuerte, bürokratisch präzise organisierte Maschinerie. Im Zentrum: der Militärgeheimdienst GRU. Dessen Struktur, Methoden und personelle Kontinuität reichen tief in die Tradition sowjetischer Nachrichtendienste. Der heutige GRU-Chef, Admiral Igor Kostjukow, untersteht direkt dem Generalstab. Die operative Umsetzung erfolgt über spezialisierte Einheiten – allen voran Einheit 29155 und Einheit 54654, zuständig für Subversion, Sabotage und Attentate.
Gegen Geld oder aus Überzeugung
Einheit 29155 gilt als das schlagkräftigste Kommando im verdeckten Apparat. Ihr werden zahlreiche Operationen zugeschrieben – darunter die Vergiftung des ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal 2018 im britischen Salisbury, der Anschlag auf den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny sowie der vereitelte Putschversuch in Montenegro 2016. Sie ist straff organisiert, verfügt über Auslandsstützpunkte, Tarnidentitäten und ein dichtes Netz verdeckter Agenten. Ihre Mitglieder operieren mit „teilweiser Legalisierung“ – sie halten sich legal im Zielland auf, agieren jedoch unter falscher Identität und ohne diplomatischen Status.
Einheit 54654 hingegen ist für die Rekrutierung und Steuerung sogenannter „illegaler“ Agenten zuständig – also solcher, die mit vollständiger Legende und langfristiger Perspektive im Ausland operieren. Sie baut Netzwerke auf, rekrutiert über Frontfirmen, Universitäten oder Communitys im Ausland und setzt zunehmend auf nichtstaatliche Akteure: Kriminelle, Hacker sowie sogenannte „austauschbare Mittelsmänner“ – leicht ersetzbare lokale Helfer, die gegen Geld oder aus Überzeugung bereit sind, Sabotageakte auszuführen. Erst im März gerieten GRU-Agenten ins Visier des Militärischen Abschirmdienstes – doch ihre Spur verlor sich erneut.
Neben dem GRU sind weitere Dienste aktiv: der Auslandsnachrichtendienst SWR (zuständig für klassische Spionage und Cyberangriffe), der Inlandsdienst FSB (für Grenzsabotage, Einflussoperationen und Gegenspionage) sowie das weitgehend unbekannte, aber hoch spezialisierte GUGI – das Hauptdirektorat für Tiefseeforschung. Letzteres konzentriert sich auf die Manipulation von Unterwasserinfrastruktur wie Internetkabeln, Pipelines und Stromtrassen. GUGI betreibt eigene U-Boote und Spezialschiffe – darunter die „Jaroslaw Mudryj“ und die „Loscharik“, ausgestattet mit modernsten Sensoren und Manipulationsarmen.
Zunehmend agieren russische Einheiten auch über sogenannte Schattenflotten: zivile Tanker, Frachter oder Forschungskutter, deren Besitzverhältnisse verschleiert sind und die unter Flaggen von Drittstaaten fahren. Sie dienen nicht nur der Umgehung westlicher Ölsanktionen, sondern auch als Plattformen für technische Sabotage – etwa durch das „versehentliche“ Ziehen von Ankern über Glasfaserkabel, das Absetzen von Drohnen oder den verdeckten Agententransfer.
Testlauf zur Einschleusung brennbarer Substanzen in Frachtflugzeuge
Ein weiterer Schwerpunkt liegt im digitalen Raum. Russische Cyberoperationen zielen längst nicht mehr nur auf Spionage, sondern zunehmend auf physische Effekte – etwa durch GPS-Störungen, Angriffe auf Schienennetze, Manipulation von Ampelsteuerungen oder das Lahmlegen logistischer Ketten. Besonders aktiv: die GRU-Einheiten 26165 und 74455, denen unter anderem der SolarWinds-Hack zugeschrieben wird, der weltweit über 18.000 Computersysteme kompromittierte.
Die operative Tiefe dieser Aktivitäten ist bemerkenswert. Sie reicht von gezielten Attentaten – wie dem Mord am übergelaufenen Hubschrauberpiloten Maksim Kuzminow in Spanien – bis zu koordinierten Störaktionen gegen kritische Infrastruktur, etwa durch Brandanschläge auf Lagerhallen, Rüstungsbetriebe oder Energieanlagen. Besonders perfide: der Einsatz scheinbar harmloser Objekte. In Leipzig, Birmingham und Warschau explodierten präparierte Massagegeräte in DHL-Zentren – offenbar ein Testlauf zur Einschleusung brennbarer Substanzen in Frachtflugzeuge.
Russlands Ziel ist dabei nicht maximale Zerstörung, sondern gezielte Irritation und Abschreckung. Es geht um Signale – nicht um Massenvernichtung. Jeder Angriff soll psychologische Wirkung entfalten. Und deutlich machen, dass alle Ziele zu jeder Zeit verwundbar sind.
Die russischen Operationen verteilen sich keineswegs gleichmäßig über den Kontinent. Vielmehr lassen sich klare Schwerpunkte erkennen – geografisch entlang der östlichen NATO-Grenze, politisch in jenen Staaten, die Moskau als besonders feindlich einstuft: wegen ihrer Unterstützung für die Ukraine, ihrer strategischen Rolle im Bündnis oder ihrer Aufnahme russischer Dissidenten.
Vor allem Deutschland zählt zu den Hauptzielen russischer Sabotage. Als größte Volkswirtschaft Europas, führender Waffenlieferant an die Ukraine und sicherheitspolitischer Schlüsselstaat der NATO steht die Bundesrepublik systematisch im Fadenkreuz. Zuletzt richteten sich Angriffe gegen militärisch relevante Unternehmen wie Diehl Defence in Berlin, wo ein Großbrand mutmaßlich durch Brandstiftung ausgelöst wurde, sowie gegen Logistikzentren internationaler Speditionen wie DHL. Auch der Rüstungskonzern Rheinmetall war Ziel geplanter Anschläge – unter anderem dessen Vorstandsvorsitzender persönlich.
Kommunikationsnetze und Energieinfrastruktur
Zudem enttarnten deutsche Sicherheitsbehörden verdeckte russische Agenten, die offenbar Anschläge auf US-Stützpunkte in Bayern vorbereiteten. Parallel stehen Kommunikationsnetze und Energieinfrastruktur dauerhaft im Fokus elektronischer und digitaler Angriffe. Die Kombination aus physischer Sabotage und psychologischer Abschreckung folgt einem klaren Kalkül: Deutschland soll verunsichert, wirtschaftlich geschwächt und politisch destabilisiert werden.
Polen fungiert als logistisches Rückgrat der westlichen Ukraine-Hilfe – und ist entsprechend exponiert. Russische Operationen richten sich hier gegen Bahninfrastruktur, Versorgungsrouten und militärische Einrichtungen. Die Aufdeckung russischer Netzwerke, die Anschläge auf kritische Infrastruktur planten, sowie versuchte Online-Rekrutierungen polnischer Staatsbürger belegen die operative Tiefe der Angriffe.
Hinzu kommen elektronische Störungen, darunter massive GPS-Interferenzen, die den Flugverkehr beeinträchtigten. Polnische Behörden meldeten zudem gezielte Cyberattacken auf Bahnsysteme und Regierungsnetze. Auch hier zeigt sich das hybride Prinzip: Physische und digitale Komponenten greifen ineinander.
Estland, Lettland, Litauen und Finnland sind geostrategisch bedeutend – und zählen zu den entschlossensten Gegnern des Kremls in Europa. Entsprechend intensiv ist die hybride Bedrohung. In Finnland wurde ein Sabotageakt auf eine Gasleitung und ein Unterseekabel registriert; die Spur führte zu einem chinesischen Schiff mit russischer Besatzung. Zugleich setzte Moskau gezielt Migrantenströme als Druckmittel ein: Die gelenkte illegale Migration über die russisch-finnische Grenze zwang Helsinki 2023 zur Schließung sämtlicher Übergänge – ein Beispiel für die Instrumentalisierung humanitärer Schwächen zur politischen Eskalation.
Jede Lücke wird sondiert
Auch im Baltikum verzeichneten die Behörden systematische Cyberangriffe, GPS-Störungen und physische Angriffe auf russische Exil-Oppositionelle. Russland nutzt die Region als Testfeld – für technische Kapazitäten ebenso wie für politische Grenzverschiebungen. Jede Lücke wird sondiert.
Doch es gibt weitere Aktionsfelder. Der Westbalkan bleibt ein geopolitisches Schachbrett. Russland intensiviert dort seine Aktivitäten – insbesondere über Serbien und serbische Minderheiten in Bosnien und im Kosovo. In Bosnien unterstützt der Kreml offen separatistische Bestrebungen unter Milorad Dodik und gefährdet damit gezielt die fragile ethnische Balance des Landes.
In Nordmazedonien, Montenegro und Bulgarien wurden mehrfach verdeckte russische Operationen aufgedeckt – von Putschplänen und Spionage bis hin zu Einflussnahme über Medien, NGOs und digitale Netzwerke. Ziel ist es, EU-Integrationsprozesse zu blockieren, antiwestliche Narrative zu stärken und innere Spannungen gezielt zu verschärfen.
Trotz zahlreicher Warnsignale und aufgedeckter Operationen fällt die westliche Reaktion auf Russlands Schattenkrieg bislang zögerlich aus. Zwar wurden vereinzelt Agenten verhaftet, diplomatische Vertretungen geschlossen und Ermittlungen eingeleitet – doch die Reaktion bleibt dysfunktional. Anstatt sich gezielt auf die anhaltende Bedrohungen einzustellen, rüsten die Europäer massiv für einen großen Schlagabtausch auf.
Doch dass dieser je stattfinden wird, ist keineswegs sicher. Die NATO in Europa militärisch zu besiegen, ist ein Ziel, das Russland nicht erreichen kann. Das Bündnis verfügt über mehr als doppelt so viele Soldaten, viermal so viele Panzer, fünfmal so viele Kampfflugzeuge – und eine nahezu zehnfache Überlegenheit bei gepanzerten Fahrzeugen. Selbst mit gesteigerter Rüstungsproduktion und einem Aufwuchs auf 1,5 Millionen aktive Soldaten bleibt Russland militärisch klar unterlegen – nicht zuletzt wegen technologischer Defizite, fehlender Industrieintegration und mangelnder operativer Vernetzung.
Die NATO als dysfunktionaler Riese
Deshalb zielt der Kreml darauf, die NATO politisch zu spalten. Putin bezeichnete das Bündnis im November 2024 als „offenen Anachronismus“ – und genau so soll sie aus russischer Sicht auch wirken: als dysfunktionaler Riese. Im Schattenkrieg spielt Moskau seine Stärken aus: Zentralisierung, klare Befehlsketten, flexible Mittelwahl. Dem gegenüber steht ein westliches System, das noch immer in Kategorien des Kalten Krieges denkt – und bei koordinierten, grenzüberschreitenden Reaktionen oft zu spät kommt.
Hinzu kommt ein Paradox: Mit ihrer massiven Aufrüstung laufen die Europäer Gefahr, genau jenem Ziel zuzuarbeiten, das Moskau verfolgt – der inneren Destabilisierung. Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel Deutschlands. Zur Finanzierung des Rüstungspakets, das Teil des als „Sondervermögen“ deklarierten 1-Billion-Euro-Programms ist, wurde eine Grundgesetzänderung verabschiedet – noch durch einen bereits abgewählten Bundestag. Millionen Bürger empfinden dieses Vorgehen als undemokratisch.
Die Folgen sind dramatisch: Nur sechs Wochen nach der Wahl verlor die Koalition aus CDU und SPD in den Umfragen ihre parlamentarische Mehrheit – noch bevor überhaupt eine neue Regierung gebildet war. Ein solcher Vorgang ist in der Geschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel – und zugleich eine Schwächung politischer Stabilität. Ganz im Sinne des Kremls.
Ob mit dem Geld tatsächlich eine verteidigungsfähige Bundeswehr entsteht, ist fraglich (Achgut berichtete). Anstatt Milliarden in teils zweifelhafte Rüstungsprojekte zu lenken, sollten sich die Europäer auf die anhaltenden Zersetzungsmaßnahmen des Kremls einstellen. Denn je länger diese Realität verdrängt wird, desto größer wird die Gefahr.
Die Verteidigung Europas erfordert mehr als neue Panzerbrigaden und zusätzliches Personal. Neben klassischer Abschreckung kommt es vor allem auf Widerstandskraft gegenüber den vermeintlich weichen Mitteln hybrider Kriegsführung an.
Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Russlands Schattenkrieg ist kein Begleitphänomen des Ukraine-Kriegs, sondern ein eigenständiges Schlachtfeld – und er wird bleiben, selbst wenn die Waffen in der Ukraine eines Tages schweigen. Wer heute nicht reagiert, riskiert morgen nicht nur Sabotageakte, sondern die schleichende Aushöhlung der politischen Ordnung Europas.
Dr. Christian Osthold ist Historiker mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte Russlands. Seine Monographie über den russisch-tschetschenischen Konflikt ist in der Cambridge University Press rezensiert worden. Seit 2015 ist Osthold vielfach in den Medien aufgetreten.