Felix Perrefort / 30.09.2019 / 12:00 / Foto: Pixabay / 67 / Seite ausdrucken

Der sanfte Weg in die Knechtschaft (1)

Es kommt so häufig nicht vor, dass die großen philosophischen Fragen zwischen Opposition und Regierung verhandelt werden. 

„Geht die Bundesregierung bei der Planung und Umsetzung politischer Maßnahmen davon aus, dass die Bundesbürger rational handelnde Subjekte sind?“, fragte die AfD in einer Kleinen Anfrage, um deren Bewertung vom sogenannten Nudging zu erfahren. „Wenn ja, warum investiert die Bundesregierung Geld in die Erforschung von Regierungsinstrumenten, deren theoretische Grundvoraussetzung es ist, dass Bürger sich irrational verhalten?“

Die Bundeszentrale für politische Bildung erläutert Nudging als „die absichtsvolle Führung von Individuen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung ihrer Wahlfreiheit – das Prinzip arbeitet mit motivierender Steuerung statt mit Zwang oder Verboten.“ Nudging geht davon aus, dass Menschen keine Wesen sind, die durchweg rationale Entscheidungen treffen, sondern durch Faktoren irrational geprägt sind, die ihnen selbst nicht bewusst sind. Ein Blick auf die Welt und das eigene Leben genügt, um die triviale Richtigkeit dieser Position einzusehen; sie zu vertreten, würde man der Bundesregierung wohl nicht sonderlich übelnehmen. 

Etwas Pikantes hätte dies natürlich trotzdem, da Bürger von ihrer Regierung legitimerweise erwarten dürfen, als mündige Subjekte betrachtet und behandelt zu werden. Wie also verhält sich die Bundesregierung wohl dazu, politische Maßnahmen zu befürworten, die nicht den mündigen Bürger adressieren, sondern einen, der qua seiner (partiellen) Irrationalität zu allerlei „vernünftigen“ Entscheidungen genudgt, also geschubst werden müsse. 

Bundesregierung bekennt sich zu „libertärer“ Bevormundung

An ein faules Schulkind erinnernd, das seine Hausaufgaben auf dem Weg zur Schule macht, wartet die Bundesregierung nun mit einer schlichtweg dreisten Antwort auf. Sie teilt Nudging in ein ethisch bedenkenloses Konzept einerseits und ein ethisch fragwürdiges Konzept andererseits auf, wozu sie einen eigentlich inexistenten Widerspruch konstruiert:

Der Begriff „Nudging" wird in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion unterschiedlich definiert: Die Autoren Thaler und Sunstein (2008) verwenden den Begriff „Nudging" synonym für die Idee des libertären Paternalismus, nach der Politikrichtlinien so zu gestalten seien, dass die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen erhalten bleibt. Nach Thaler und Sunstein seien „Nudging"-Maßnahmen in ihrer Konzeption per Definition immer transparent; sie sollten sichtbar sein und in der Öffentlichkeit debattiert werden (Sunstein). In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff „Nudging" dagegen (!) zuweilen ähnlich zu der von den Fragestellern verwendeten Definition auf Maßnahmen bezogen, die Personen auf subtile Weise in ihrem Verhalten beeinflussen sollen.

Die Bundesregierung bekennt sich damit also erstaunlich offen zu einem solchen „libertären Paternalismus“ und versucht, diesen zugleich von dem Vorwurf freizusprechen, er ziele auf die subtile Beeinflussung von Bürgern in ihrem Verhalten. Das geht nicht auf, besteht schließlich genau darin der Sinn und Zweck des gesamten Konzepts. Entsprechend definierten die erwähnten Begründer, Thaler und Sunstein, den Ansatz so: 

Ein Nudge, so wie wir den Begriff verwenden werden, ist jeder Aspekt der Entscheidungsarchitektur, der das Verhalten der Menschen auf vorhersehbare Weise verändert, ohne irgendwelche Optionen zu verbieten oder ihre wirtschaftlichen Anreize wesentlich zu ändern. Um als bloßer Nudge zu gelten, muss der Eingriff einfach und billig zu vermeiden sein. Das Setzen von Früchten auf Augenhöhe zählt als ein Nudge. (Zitat siehe hier.)

Platziert man Obst im Supermarkt auf Augenhöhe, damit es öfters als Süßigkeiten gekauft wird, erhält man die Entscheidungsfreiheit des Konsumenten, während man ihn zugleich subtil beeinflusst – ihn eben leicht stupst, anstatt zu schieben.

Nudging ist immer manipulativ 

Versuche, den Willen von Menschen unterhalb der Wahrnehmungsebene zu manipulieren, sind nicht neu. (...) Neu ist allerdings, dass Nudging zum politischen Gestaltungsprinzip wird.

Das konstatiert nicht etwa die AfD in ihrer Kleinen Anfrage, sondern die Bundeszentrale für politische Bildung, die in ihrem Artikel zu diesem Thema auch die mit Nudging einhergehenden Gefahren thematisiert:

Gefahren für eine selbstbestimmte digitale Zivilgesellschaft entstehen, weil politische Entscheidungsträgerinnen und -träger ihre Agenden mit Hilfe von Nudging unterschwellig durchsetzen und als selbsternannte und häufig unerkannte „Auswahlarchitektinnen“ und „-architekten“ politischer Entscheidungen fungieren.

Die AfD und die bpb sind sich nicht nur darin einig, dass Nudging manipulativ sein kann, sondern dass es manipulativ ist: Bereits „die Planung von Handlungsoptionen“ stellt laut der Bundeszentrale „eine Manipulation des Willens von Menschen dar, die sich dessen nicht bewusst sind und bringt sie damit möglicherweise in Dilemmata, die für sie nicht absehbar sind.“ Dass Nudging von Anfang an manipulativ ist, liegt auf der Hand und ist schon beim Definitionsbeispiel (Platzierung Obst auf Augenhöhe) seiner Begründer klar zu erkennen. 

Statt dies nun einzugestehen und wenigstens (zu versuchen) einen irgend reflektierten, klar umrissenen Umgang damit zu demonstrieren, speist die Bundesregierung den interessierten Bürger mit einer mechanisch-redundanten Argumentation ab, in deren Dreistigkeit sich eine Selbstgerechtigkeit und Arroganz ausspricht, die, für sich genommen, schon nach Neuwahlen schreit. 

Die Hausaufgabenmentalität der Bundesregierung

Ihre Argumentation steht mit der Leugnung der subtilen Beeinflussung auf derart wackeligen Beinen, dass sich die Frage stellt, für wie dumm man den Bürger eigentlich halten muss, um zu glauben, damit durchzukommen. Hat man den manipulativen Charakter erst einmal wegdefiniert, kommen die Antworten wie vom Fließband:

Es handelt sich nicht um Nudging im Sinne der Fragesteller. (...) „BMBF teilt bezüglich des in der Vorbemerkung angesprochenen Projektes De-Carb-Friends mit, dass Thema hier nicht Nudging in der Definition der Fragesteller ist. (...) Kein Bundesministerium hat „Nudging"-Maßnahmen im Sinne der Definition der Fragesteller durchgeführt. (...) Die Fragen 6, 7, 8, 9, 11 und 12 werden aufgrund ihres Sachzusammenhangs zusammen beantwortet: Die Bundesregierung hat keine Projekte im Sinne der Fragestellung durchgeführt oder in Planung. Die sich anschließenden Fragen stellen sich der Bundesregierung daher nicht.

Auf diese Weise verweigert die Bundesregierung auf sechs von zwölf Fragen eine Antwort, darunter diese:

Welche verfassungsrechtlichen Bedenken hat die Bundesregierung angesichts der Praxis des „Nudging“? Sind der Bundesregierung Erkenntnisse bekannt, wonach „Nudging" die Akzeptanz von Rechtsstaatlichkeit beeinträchtigt? Falls ja, welcher Art sind diese Erkenntnisse?; Liegen der Bundesregierung Erkenntnisse darüber vor, dass „Nudges" Personengruppen diskriminieren können?

Mit solch einer „Hausaufgabenmentalität“ erspart sich ein Schulkind wohl den Eintrag ins Klassenbuch, wobei es noch nicht weiß, dass man sie gar nicht ablegen braucht, um in Deutschland dennoch Regierungsverantwortung zu übernehmen und den Lauten in Sachen Demokratie zu geben. 

Die Bundesregierung und ihr „Politiklabor“

Auch wenn Michel Foucault ein französischer Linksintellektueller und Wegbereiter allerlei queerfeminischen und postkolonialistischen Unsinns war, verdient sein (spätestens) Anfang der 1980er Jahre erschienener Text „Subjekt und Macht“ eine erneute Lektüre, nicht allerdings um den linksreaktionären Staatsantifaschismus zu rechtfertigen, sondern um ihn, in seiner klimabewegten Variante, zu verstehen und zu kritisieren. Foucault entwickelt darin einen Macht- und Regierungsbegriff, der so aktuell ist, dass man den Eindruck erhalten könnte, die für das Nudging verantwortlich zeichnende Bundesregierung besuchte kürzlich noch Foucault-Seminare, um sich dort inspirieren zu lassen. 

Machtausübung besteht darin, „Führung zu lenken“, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. Macht gehört letztlich weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Gegnern oder der Vereinnahmung des einen durch den anderen, sondern in den Bereich der „Regierung“ in dem weiten Sinne, den das Wort im 16. Jahrhundert besaß. 

2015 gründete sich eine der Bundesregierung unterstellte Arbeitsgruppe namens „Wirksam regieren“, die aus einer Psychologin, einer Verhaltensökonomin und einer Juristin besteht. Ihre Aufgabe ist es, die Regierung hinsichtlich der „Wirksamkeit politischer Maßnahmen“ zu beraten. Was diese Gruppe genau tut, ist unklar – beim Deutschlandfunk geht man davon aus, dass sie sich vor allem mit Nudging beschäftigt. So stellt sie sich vor: 

Wirksam regieren übersetzt seit 2015 als erstes Politiklabor (!) in der Bundesregierung wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Politik. Das Referat setzt sich zusammen aus Implementationsexperten (!) und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen wie Psychologie, Bildungsforschung, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften. Mit empirischen Methoden werden Lösungen entwickelt und unter realistischen Bedingungen praktisch getestet.

Technokratische Führung statt Öko-Diktatur

Zu der Einschätzung des DLF passt das sich in der Sprache verratene technokratische Selbstverständnis, das mit dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität überhaupt nichts mehr gemein hat. Eine Bundesregierung, die in einem „Labor“ testet, welche „Lösungen“ am besten funktionieren, versteht sich nicht als Exekutive des Bürgerwillens, sondern als expertokratische Elite. Dagegen erinnern in einem gerade veröffentlichten Buch unter anderem zwei Achgut.com-Autoren: 

Die Regierung einer Demokratie ist eine Exekutive, eine ausführende Gewalt, eine Gewalt, die selbst nicht das Sagen hat. Sie hat auszuführen, was die Legislative, also die gewählten Volksvertreter oder das Volk selbst, in Abstimmungen beschließt. (Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie.)

Hätten in einer lebendigen Demokratie keine „wissenschaftlichen Erkenntnisse“, sondern die Interessen der Bevölkerung parlamentarisch vermittelt in „praktische Politik“ umgesetzt zu werden, gerät in der postbürgerlichen Gesellschaft die Bevölkerung zum Adressaten politischer Maßnahmen, die als solche gar nicht zur Debatte stehen. Das Volk, das aus „Nicht-Experten und Nicht-Funktionären“ besteht (Ingeborg Maus, zitiert nach: hier), gilt hier in erster Linie als Störfaktor innerhalb eines Prozesses, der nicht die zivilisierte Vermittlung unterschiedlicher und widersprüchlicher gesellschaftlicher Interessen garantieren soll, sondern das möglichst reibungslose Durchherrschen der ökonomischen, politischen und kulturellen Eliten. „Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind im Moment das Problem“, sprach Joachim Gauck diese Mentalität mit Bezug auf die EU-Skepsis seitens europäischer Bevölkerungen ganz offen aus.

Der zweite Teil findet sich hier.  

Literatur: 

Michel Foucault: Subjekt und Macht, in ders.: Analytik der Macht, hrsg. v. Daniel Defert und François Ewald, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005, S. 240-263.

Kai Rogusch, Thilo Spahl, Sabine Beppler-Spahl, Johannes Richardt, Kolja Zydatiss, Erik Lindhorst, Alexander Horn: Experimente statt Experten – Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie, Novo-Argumente, Frankfurt a. M. 2019. 

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Ralf Pöhling / 30.09.2019

“Libertärer Paternalismus”? Da hat jemand offenkundig den Sinn des Libertarismus vollkommen missverstanden. Wenn ein Staat von oben herab seine Bürger regiert und dirigiert, ist das totalitär. Wenn ich keinen Staat mehr haben will und alles privatisieren möchte, weil ich der (bei Liberalen sehr verbreiteten) Meinung bin, nur Staaten könnten totalitär sein, die Möglichkeit der Steuerung von Menschen jedoch nicht aus der Hand geben will, wo lande ich dann? Richtig, bei unterschwelliger Werbung. Und genau das ist Nudging. Also der Versuch, Staatspropaganda zu privatisieren. Was wohl auch die Unmenge an NGOs erklärt, die sich genau dieser Methode bedienen. Jegliche Form von Manipulation des Einzelnen, hat in einer freien Gesellschaft voller selbstverantwortlicher und selbstreflektierender Menschen jedoch nichts zu suchen. Gar nichts. Denn eine Gesellschaft, in der der Einzelne durch Manipulation dazu gebracht wird, etwas zu glauben oder zu tun, ist nicht mehr frei und damit auch nicht libertär.

Manuela Pietsch / 30.09.2019

`Man ist ja schon lange der Meinung, der Wähler wäre nur zu beschränkt, das (vermeintlich) gute am Handeln der Politiker zu erkennen. Der Wahl-Abend-Satz “Wir haben es nicht geschafft, es den Bürgern richtig zu erklären”, ist Beweis dafür. Aber nee, schon klar, Nudging kommt nicht vor, zumindest nicht bei Politikern: “Kein Bundesministerium hat „Nudging“-Maßnahmen im Sinne der Definition der Fragesteller durchgeführt.” Genauso hilfreich wäre eine Studie in der festgestellt wird, dass das Rauchen der Gesundheit zuträglich ist (wenn sie von Dr. Marlboro durchgeführt wurde). Aber gut, dass kein Ministerium Nudging durchführt, mag sogar stimmen. Aber andererseits haben die es ja auch gar nicht nötig, denn dafür gibt es ja die Verbündeten in Presse, Funk und Fernsehen.

Dietmar Blum / 30.09.2019

@ Herrn Florian Bode / 30.09.2019. Nur eine kleine Korrektur, der hinkende Doktor stammt aus Rheydt, heute ein Stadtteil von Mönchengladbach.

Volker Kleinophorst / 30.09.2019

Betrug auf allen Ebenen. Politik sollte die Bürger, ihren Souverän, aus sich heraus durch Leistung überzeugen und nicht Steuergelder für Propaganda und unterbewußte Beeinflussung verschwenden.

Albert Pflüger / 30.09.2019

Daß Gauck so einen Satz gesagt haben soll, vermag man kaum zu glauben.  Überdeutlich macht er klar, daß bei uns der Schwanz mit dem Hund wackelt.

Detlef Dechant / 30.09.2019

Wer braucht den Begriff “Nudging”? 1974! schrieb Josef Kirchner das Buch “Manipulieren - aber richtig” - Die acht Gesetze der Menschenbeeinflussung. Wer dieses Büchlein richtig verstanden hat, hat es auch als Ratgeber verstanden, sich diesenr Manipulation durch andere zu entziehen, Es ist heute so aktuell wie damals, gut zu lesen und sehr nützlich, sich gegen das, was heute “Nudging” heißt, zu wehren.

M.R.W. Peters / 30.09.2019

Wer sollte noch effektiv “nudgen” können, wenn es keine Parteien mitsamt Lobbyismus mehr gäbe? Ohne Parteien wären dann auch keine parteiischen Besetzungen von Chefposten in Medien denkbar. Ist so ein Gedankenexperiment nun links- oder rechtsradikal? Also “undenkbar” und somit auch unmachbar.

Christian Eckert / 30.09.2019

Hallo Herr Perrefort, etwas ernüchtert blicke ich auf den Einstieg des Artikels und stolperte schon über das von Ihnen benutzte aber vermeintliche Gegensatzpaar aus “irrational” und “mündig.” Darüber hinaus ist Freiheit vom Zwang Bestandteil des Konzeptes “Nudging,” wie Sie einleitend zitieren. Für mich stellt sich der Ansatz so dar, dass man Irrationalitäten ausnutzen möchte, um etwaige und als solche erkannte oder definierte negative externe Effekte zu minimieren. Das halte ich für zumutbar. Mit freundlichen Grüßen

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