Moskau zieht neue Reservisten an der Grenze zur Ukraine zusammen – mit veralteter Ausrüstung, die viele Opfer unter ihnen wahrscheinlich macht. Ein Blick auf die Geschichte russischer Kriege zeigt, wie egal dem Kreml seine eigenen Krieger stets waren und sind.
Ohne Zweifel hat besonders das Massaker von Butscha Moskaus Invasion in der Ukraine in ein finsteres Licht getaucht. Der Vorort von Kiew ist zum Sinnbild einer Militärdoktrin geworden, die sich keiner Konvention unterwirft und von einem Generalstab getragen wird, der zur systematischen Planung und rücksichtslosen Durchführung schwerster Kriegsverbrechen bereit ist. Darin materialisiert sich eine zutiefst inhumane Philosophie, die bis heute millionenfache Opfer gefordert hat. Jeder Krieg, den Russland im 20. Jahrhundert geführt hat, folgte demselben Grundsatz: Menschliches Leben stellt eine unerschöpfliche Ressource dar, die inflationär einsetzbar ist. Die präzedenzlosen Verluste der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg legen Zeugnis davon ab. Sie vermitteln ein verstörendes Bild von der zerstörerischen Kraft, die das russische Oberkommando bis heute immer wieder entfaltet hat. Selbst der Kampf gegen materiell und personell weit unterlegene Gegner ist davon nicht ausgenommen.
Das zeigt auch der finnische Winterkrieg, den der Kreml am 30. November 1939 mit einem Großangriff begann. Fünf sowjetische Armeen sollten die „Mannerheim-Linie“ durchbrechen und auf Helsinki vorstoßen. Insgesamt wurden 1,2 Mio. Soldaten, 1.500 Panzer und 3.000 Flugzeuge gegen dreihunderttausend Finnen aufgeboten. Trotz dieser Überlegenheit kam es zu einem Fiasko. Der von General Merezkow und seiner 7. Armee vorgetragene Hauptstoß scheiterte bei unerhörten Verlusten. Allein im Dezember 1939 waren 69.986 sowjetische Soldaten und Kommandeure gefallen. Das entspricht einer Tagesquote von 2.187. An der sowjetischen Grundtaktik änderte dies freilich nichts. Auf das Versagen seines Vorgängers kannte der im Januar 1940 eingesetzte Oberbefehlshaber Timoschenko nur eine Antwort – den Frontalangriff. Mit verheerenden Folgen:
Winterkrieg und Katyn
In 105 Tagen hatte die Rote Armee 333.084 Mann verloren. Und wenigstens 222.912 Tote zu beklagen. Damit waren seit Kriegsbeginn 3.054 Kämpfer pro Tag gefallen. Auf dieser Folie erschienen die finnischen Verluste geradezu marginal. Sie umfassten 26.000 Tote und 43.000 Verwundete. Entsprechend eindeutig war das Verlustverhältnis. Es betrug 7:1 zuungunsten der Sowjets. Die triumphale Bemäntelung des Feldzugs durch die staatliche Propaganda sollte diese Bilanz verwischen. In einer flammenden Rede vor dem Obersten Sowjet vom 29. März 1940 lobte Molotow die herausragenden Leistungen der Roten Armee. Von dieser Illusion ist heute nichts mehr übrig. Dazu hat auch der russische Historiker Boris Sokolow beigetragen. Das Desaster des sowjetischen Winterkriegs hat er schonungslos aufgearbeitet. Für Sokolow ist der Feldzug nicht bloß ein Fehlschlag. Sondern „ein Verbrechen, das hunderttausende Rotarmisten das Leben gekostet hat“. Dass sich die kriminelle Energie des Kremls schon damals auch gegen die Besiegten richtete, hatte sich indes einen Monat zuvor erwiesen. Anfang März 1940 hatte das sowjetische „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“ (NKWD) auf seinen Befehl hin 25.000 polnische Armeeangehörige und Intellektuelle ermordet. Das Massaker von Katyn ist zum Symbol dieses Verbrechens geworden.
Das verheerende Ausmaß der Doktrin, die eigenen Soldaten als Kanonenfutter zu verheizen, trat am deutlichsten im Kampf gegen die Wehrmacht zutage. Sokolow nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, das tatsächliche Ausmaß dieses Ringens zu beleuchten. So hat er ermittelt, dass der deutsch-sowjetische Krieg zwischen 1941 und 1945 insgesamt 22 Mio. Rotarmisten und Militärangehörige das Leben kostete – eine geradezu ungeheuerliche These für einen russischen Historiker. Die Deutschen hingegen hätten nur 2,9 Mio. Mann verloren. Das daraus resultierende Verlustverhältnis von 11:1 ist zweifelsohne beispiellos. Bedeutsamer jedoch ist, dass die Sowjets mit dieser Strategie letztlich Erfolg hatten. Dies wiederum hat dazu geführt, dass die eigenen Verluste vom Licht des Triumphs überstrahlt wurden. Eine kritische Analyse oder gar Aufarbeitung der ursächlichen Militärdoktrin erfolgte nicht.
Eigentlich ein leichter Gegner
Dass Moskau seine Streitkräfte auch heute nicht schont, hat der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine offengelegt. Seit Kriegsbeginn dürften bereits weit mehr als 20.000 Soldaten gefallen sein. Mitte Juni 2022 bezifferte der ukrainische Generalstab die russischen Verluste auf 31.000. Täglich werden in den sozialen Medien neue Todesmeldungen veröffentlicht. Die hier dokumentierten Verluste reichen natürlich nicht an das Ausmaß des Zweiten Weltkrieges heran. Andererseits steht das russische Militär aber auch nicht der Wehrmacht gegenüber. Stattdessen bekämpft es einen materiell und auf dem Schlachtfeld vielfach zahlenmäßig unterlegenen Gegner, der ihm jedoch erfolgreich seine Guerillataktik aufzwingt.
In Sewerodonezk und Lyssytschansk etwa haben die Ukrainer Moskaus Truppen in einen verlustreichen Häuserkampf verwickelt. Und dabei fanatisch um jede Straße gekämpft. Die russische Infanterie hat Probleme, sich darauf einzustellen und konnte die Gegenwehr vielfach nur mit massiver Artillerieunterstützung brechen. Das ist kein Novum. Schon in Afghanistan hatte sich die russische Übermacht als verwundbar erwiesen. Zwischen dem 25. Dezember 1979 und dem 15. Februar 1989 waren 120.000 sowjetische Soldaten am Hindukusch stationiert. Bei Kriegsende hatten sie Verluste in Höhe von 50.000 Mann erlitten. Das entsprach 41,6 Prozent ihres Personalbestands. Als die Luftüberlegenheit wegen der von den USA gelieferten Boden-Luft-Raketen des Typs Stinger verloren war, traute sich die Sowjetarmee kaum noch ins Gebirge und seine engen Schluchten.
Afghanistan und Tschetschenien
Für eine Supermacht, die überwiegend Patrouillen fuhr, war das eine verheerende Bilanz. Auch sie basierte auf der Gleichgültigkeit des russischen Generalstabs. Und auf seiner Unfähigkeit, sich der taktischen Disposition eines leichtfüßigen Gegners anzupassen. Noch bedeutsamer war das Folgende: Angesichts der 13.000 Gefallenen geriet der Kreml zunehmend unter Druck. So nimmt nicht wunder, dass die Akzeptanz des Feldzugs zuletzt einen Tiefpunkt erreicht hatte. Als die Sowjetarmee im Februar 1989 gedemütigt das Land verließ, brach die UdSSR keine drei Jahre später zusammen. Aus der Sicht Moskaus lässt sich daraus eine alarmierende Erkenntnis ableiten: Ein Krieg, der nicht die Unterstützung der Massen genießt, sondern kontinuierlich Tote produziert, kann selbst autoritäre Systeme kollabieren lassen. Eine Umfrage von 1991 ergab, dass 88 Prozent der Teilnehmer die Invasion ablehnten. 69 Prozent hielten sie sogar für ein Verbrechen.
Nur fünf Jahre später schickte der Kreml seine Truppen in den nächsten Krieg: Der am 31. Dezember 1994 begonnene Erste Tschetschenienkrieg erschien als skurrile Neuauflage früherer Debakel. Wie unter einem Brennglas kam das Unvermögen des Generalstabs nun abermals zum Vorschein. Obwohl ihm am Terek nur ein mangelhaft gerüsteter Gegner gegenüberstand, versagte er auf ganzer Linie. Unzureichend ausgebildete Wehrpflichtige wurden in Ruinen und enge Schluchten geschickt. Und sinnlos geopfert. Als die Tschetschenen Grosny im Sommer 1996 handstreichartig zurückeroberten, war Jelzins „Operation zur Wiederherstellung der konstitutionellen Ordnung“ gescheitert. Die Generalität hatte keine Antwort auf die geschickt agierende tschetschenische Guerilla gefunden und musste Frieden schließen. Zuvor war sie lediglich dazu fähig gewesen, alle größeren Orte der Republik dem Erdboden gleichzumachen. Die 100.000 Opfer waren nicht nur eigene Bürger, sondern auch zu 97 Prozent Zivilisten. Dieses Vorgehen stellt in Russland heute niemand mehr infrage. Mit Anna Politkowskaja wurde die lauteste Kritikerin des russischen Vorgehens in Tschetschenien am 7. Oktober 2006 im Treppenhaus ihres Moskauer Wohnhauses erschossen. Und dass Moskau das Streben der Ukraine, die Abspaltung der Volksrepubliken des Donbass rückgängig zu machen, als Genozid bezeichnet, während es 1994 keine Hemmungen hatte, den tschetschenischen Separatismus gewaltsam zu ersticken, ist ein Widerspruch, den der Kreml bis heute nicht aufgelöst hat.
Pauschale Diffamierung
Im Zweiten Tschetschenienkrieg wurde das Land zum Schauplatz grausamer Kriegsverbrechen. Systematisch wurde die Bevölkerung ab Oktober 1999 von Geheimdienst und Sonderpolizei terrorisiert. Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung, die darin aufscheinende Tyrannei wurzellos. All das erfolgte auf Geheiß des Kremls. Schließlich wurden alle Tschetschenen als Partisanen betrachtet. Konzentrationslager dienten dazu, aufkeimenden Widerstand zu ersticken. Im Rückblick auf die Tschetschenienkriege, die letztlich zur Errichtung einer von kooptierten Eliten getragenen Gewaltherrschaft führten, drängen sich frappierende Parallelen zum Krieg in der Ukraine auf. Auch ihre Bevölkerung ist pauschal diffamiert worden: und zwar als Nazis, die Russland zerstören wollen. Und wie in Tschetschenien lässt die staatliche Propaganda unermüdlich neue Trommelfeuer auf die Menschen herabregnen, die die zynische Erzählung von einer „Militäroperation“ kritiklos übernommen haben. Wenn russische Soldaten auf offener Straße Zivilisten in Butscha erschießen, dann agieren sie damit nach jenem verbrecherischen Drehbuch, das Moskau in Tschetschenien geschrieben hat. Welches Schicksal der Ukraine blühen könnte, sollte sie den Krieg gegen Russland verlieren, scheint daher bereits vorgezeichnet. Die staatlichen Medien hatten dieses Szenario bereits im Frühjahr ausgesprochen. Am 6. April 2022 schrieb die Journalistin Viktoria Nikoforova bei „Ria“ über die Kriegsziele Moskaus in der Ukraine:
„Die Russen sind gekommen, um ihren Boden von den Nazis zu befreien […] Russland trägt seine Zivilisation auf das Territorium der ehemaligen Ukraine […] Verschiedene Klassen und soziale Schichten der Gesellschaft, Dutzende von Nationen und Nationalitäten – dieses ganze komplexe Konglomerat des russländischen Volkes ist nun vereint und verlötet. Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass wir für unsere Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen. Der Grund für diese Einheit ist der Frieden zwischen den Völkern, der in unserer Gesellschaft herrscht.“
Angesichts der immer höheren Gipfel, die der Zynismus des Kremls erklimmt, fällt es schwer, die Russen nicht zu bemitleiden. Während sie glauben, in der Ukraine für ihre Freiheit zu kämpfen, werden deren letzten Reste nach 22 Jahren unter Putin endgültig beseitigt. Von Christopher Clark stammt der Satz, dass sich Geschichte zwar nicht wiederhole, wohl aber reimen würde. Das ist absolut richtig. Seit Jahrhunderten von ihren Eliten geknechtet und ausgebeutet, sind die Russen wieder einmal den Beweis dafür angetreten. Doch anstatt sich aus dieser Geißelung zu befreien, halten sie nicht nur an ihren Despoten fest, sondern helfen ihnen auch noch dabei, die Freiheit anderer Länder Europas zur Disposition zu stellen.
Der Zar und die Toten
Die Geschichte lehrt uns, dass selbst größte Entbehrungen die Russen nicht aus ihrem geistigen Koma wecken können. Als die Zaren im Ersten Weltkrieg unter fragwürdigen Motiven ganze Armeen auf dem Schlachtfeld verheizten, sangen die Soldaten inbrünstig ihre Hymne, worin sie Gott darum baten, den Zaren zu schützen. Möglicherweise wäre das anders gewesen, wenn sie die Wahrheit gekannt hätten. Seine Haltung gegenüber dem russischen Volk hatte der Monarch nämlich 1916 in Worte gefasst. Als Raymond Poincaré Nikolaus II. nach dem Ende der Brussilow-Offensive zu mehr als 1 Million Toten und Verletzten kondolierte, entgegnete der Zar: „Es ist uns eine Freude, dem Bündnis mit unseren Alliierten diese Opfer bringen zu dürfen.“
In der Ukraine scheint Moskau nach demselben Drehbuch zu agieren. Es basiert darauf, die frustrierten und wütenden Truppen in eine psychische Verfassung zu bringen, die selbst schwerste Kriegsverbrechen zulässt. Und diese im Anschluss dann kategorisch zu leugnen. Das Ziel ist, Terror als Waffe gegen die Bevölkerung einzusetzen. Die Weltöffentlichkeit ist darüber entsetzt. Die russischen Soldaten spüren hingegen, dass eine Intensivierung des Kampfes einen hohen Blutzoll bedeutet. Entsprechend niedrig ist die Moral. Der anhaltende Mangel an Verpflegung verstärkt diesen Zustand. Die bereitgestellten Essensrationen waren vielfach bereits vor Jahren abgelaufen. Das entspricht einem Kalkül, das in einem geradezu perversen Sinne logisch ist. So führt ein mit Frustration genährter Hass zur Gärung eines hochexplosiven Gemischs.
Butscha trägt alle Kennzeichen des durch seine Zündung ausgelösten Infernos. Und könnte doch nur der Auftakt zu einem noch größeren Infernal sein. Präsident Selenski ist sich dessen bewusst. In furchterregenden Begriffen hat er den Feind beschrieben: Die russischen Truppen seien die „barbarischste und unmenschlichste Armee der Welt“. Das ist natürlich übertrieben. Trotz seiner Polemik darf der Befund Selenskis nicht bloß als rhetorische Begleitmusik des Krieges abgetan werden. Er ist auch und gerade Widerhall jener exterminatorischen Erfahrungen, die sich aus Jahrzehnten des Lebens unter Moskauer Herrschaft ergeben – einer Zeit, die in der Ukraine von kumulativen Anstürmen auf alle Grundsätze humanen und zivilisierten Verhaltens geprägt war. Kaum jemand dürfte das damit einhergehende Grauen besser ermessen können als die Ukrainer. Mit Ausnahme der russischen Soldaten.
Christian Osthold ist Historiker und hat in russischer Geschichte promoviert. Seit 2001 hat er Russland mehr als 30-mal bereist sowie Archivaufenthalte in Moskau und Grosny absolviert. Im Rahmen seiner Forschungsarbeiten hat Osthold 2015 als einziger deutscher Historiker für mehrere Monate in einem tschetschenischen Dorf gelebt. Aus dieser Tätigkeit ist 2019 die erste vollumfängliche Gesamtdarstellung zum Tschetschenien-Konflikt hervorgegangen. Als intimer Russlandkenner schreibt Osthold für verschiedene Zeitungen und Journale, darunter Focus Online, NZZ, Cicero etc. Darüber hinaus ist er regelmäßig in Fernsehsendungen zu sehen, zuletzt bei der Deutschen Welle. Christian Osthold spricht fließend Russisch und ist mit einer Russin verheiratet.