Unter den Blinden ist der beidäugig Sehende der Kaiser. Und unter all den Regierenden des ungesunden Mittelmaßes sticht eine Person hervor, die das Schicksal von Helmut Schmidt teilt: der richtige Mann in der falschen Partei. Im Falle unseres Protagonisten ist das sogar buchstäblich zu verstehen. Einer, der Wahlen gewinnt und dafür von seinen ParteifreundSternchenInnen gehasst wird.
Richtig: Die Rede ist von Boris Palmer. Gab es je einen Grünen, dem ich fast uneingeschränkt zustimmen würde – das ist er. Palmer verkörpert bei den Grünen das, was Wagenknecht bei DIE LINKE und Kubicki bei der FDP darstellt. Den gesunden Menschenverstand, der weniger mit Ideologie, als vielmehr mit Augenmaß und Vernunft Politik betreiben will. Und der deswegen die meisten Treffer durch „friendly fire“ kassiert. Palmer fällt immer wieder auf (die Nase). Das liegt an seiner absoluten Furchtlosigkeit, Dinge beim Namen zu nennen, die er in seiner Stadt Tübingen sieht und erlebt, der er als Oberbürgermeister vorsteht.
Palmer bürstet die Grünen gegen den Strich: Sei es, dass er „nicht Platz für alle Flüchtlinge“ hat, sei es, dass er eine „Liste mit straffälligen Migranten“ führen will (um seine Angestellten als Dienstherr zu schützen) oder dass er die ganzen Regierungsmaßnahmen und Lockdowns unter einem – nennen wir ihn freundlich – „pragmatischen Ansatz“ betrachtet. Aber Palmer wäre auch nicht Palmer, wenn er nicht vormachen würde, wie es auch gehen könnte: Jede Menge kostenlose Covid-Tests, spezielle Einkaufszeiten für Risikogruppen. Taxifahrten für Risikogruppen zum Preis eines Bustickets und kostenlose FFP2-Masken. Hier handelt ein Oberbürgermeister Palmer so, wie auch ein Helmut Schmidt bei der Hamburger Sturmflut gehandelt hat: schnell, besonnen, vielleicht Kompetenzen überschreitend – aber wirksam. Tübingen belegt mit seinen 226.000 Einwohnern gerade einmal den 229. Platz (von allen 412 Landkreisen und kreisfreien Städten) im Vergleich der Inzidenzwerte. Die Hälfte aller Städte wird da diesbezüglich schlechter regiert.
Keine Angst vor „Feindkontakt“
„Erfolg durch Leistung“ weckt natürlich Neid. Palmer wurde 2014 mit einer sehr breiten Mehrheit von 61,7% als Oberbürgermeister Tübingens wiedergewählt. Bei dieser Zahl dürfte es kaum möglich sein, dass Palmer hier keine Stimmen der bürgerlichen Mitte erhielt – zumal er sich seit Amtsantritt unter Dauerbeschuss aus den eigenen Reihen befindet, deren Aktionäre ihre Stimme mutmaßlich damals der parteilosen Herausforderin Beatrice Soltys gaben. Seine eigene Partei ist über den Instinktpolitiker Palmer derart erbost, dass sie ihm bei der nächsten Wahl 2022 nicht nur die finanzielle und logistische Hilfe verweigern will (Baerbocks und Habecks „Geduld sind wirklich erschöpft“), der grüne Landesunverstand Baden-Württemberg fordert Palmer sogar offen zum Parteiaustritt auf. Vielleicht leidet Palmer da unter seiner eigenen Partei und unter dem „Sarrazin-Effekt“, dem zornigen „Jetzt erst recht nicht“-Aufstampfen des allseits beliebten intern Unbeliebten.
Die Chancen von Palmer, auch ohne die tobenden Grünen als OB bestätigt zu werden, stehen indessen gar nicht einmal schlecht: Selbst wenn Palmer tatsächlich austräte und sich parteilos auf den Weg machen würde – und selbst wenn sich die Zahl seiner Wähler halbieren würde: Es gibt, gerade bei den Tübinger Grünen, aber auch den anderen Parteien, keinen Kommunalpolitiker von Format, der ihm das Wasser reichen könnte. Für eine Stichwahl würde es allemal reichen!
Hinzu kommt, dass Palmer ein echter Demokrat ist. Er redet mit jedem. Palmer ist Erstunterzeichner des „Appells für freie Debattenräume“ im September 2020, der sich gegen die sogenannte „Cancel Culture“ richtet und – die Achse-Leser müssen jetzt sehr stark sein – hat kein Problem, auch auf der Achse des Guten zu publizieren. Der Mann hat keine Angst vor „Feindkontakt“. All dies sind natürlich Verbrechen gegen die inoffizielle grüne Parteiraison, die sich intensiv bemüht, Republik und Gesellschaft in „wir“ und „die“ zu spalten und sich selbst zur ersten moralischen Instanz des Landes erklärt hat.
Wohin sollte ein Boris Palmer auch gehen? Auf weiter Flur gibt es keine Partei, die seinem bürgerlichen Vernunftansatz gerecht werden könnte. Palmer mag alles sein – aber er ist weder Links- noch Rechtsaußenspieler. Er ist sicher ein „Umweltfreak“ und, jede Wette, auch ein Menschenfreund, aber ohne die dogmatischen Ansätze seiner Mitgrünenden. Eigentlich müsste ein Boris Palmer eine „Boris & Friends“-Partei gründen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sahra Wagenknecht, Wolfgang Kubicki, Friedrich Merz, Thilo Sarrazin und noch ein paar AfD-Deserteure mitmachen würden. Und tatsächlich glaube ich, dass diese „Koalition der Vernünftigen“ gar keine schlechten Chancen hätten, aus dem Stand 5% zu holen. Das wird man ja wohl noch träumen dürfen!
(Weitere Träumereien des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro