Diese Nachricht saß: Martin Schulz wird Spitzenkandidat der SPD und übernimmt den Parteivorsitz. Sigmar Gabriel legt den Parteivorsitz nieder und wechselt vom Wirtschafts- ins Außenministerium.
Martin Schulz hat Charme, Witz und eine goldene Zunge. Keiner kann ihm wirklich böse sein. Er war der erste Präsident des Europäischen Parlaments, der in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Kann er noch mehr? Lieber Leser, das weiß ich nicht. Seine kleine Buchhandlung jedenfalls hat er als junger Mann mit Erfolg geführt, und als Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen (40.000 Einwohner) hat er vor 25 Jahren eine gute Figur gemacht. Seine erfolgreiche Laufbahn im Europäischen Parlament, die seit 22 Jahren andauert, zeigt, dass er gut mit Menschen umgehen kann.
In seiner Begeisterung für Europa lässt sich Schulz von niemandem überbieten, fünf Sprachen kann er auch. Substantielle und realistische Vorstellungen zur Europäischen Währungsunion, zur Zukunft der Europäischen Union oder zur Lösung der Zuwanderungs- und Flüchtlingsfragen habe ich von ihm noch nicht gehört. Dieser Vorwurf trifft ihn aber nicht allein. Er schließt genauso den Kommissionspräsidenten Juncker. Angela Merkel oder den bisherigen Außenminister Frank Steinmeier ein, der jetzt ins Amt des Bundespräsidenten entrückt wird.
Alles Wichtige liegt in der Hand der Kanzlerin
Sigmar Gabriel ist im Amt des Wirtschaftsministers ruhmlos geblieben. Die Energiewende ist so teuer und verknotet wie je. Er hatte es eilig, das offenbar ungeliebte Amt zu verlassen. Seine Nachfolgerin Brigitte Zypries, die nicht mehr für den Bundestag kandidiert, wird es in den acht Monaten bis zur Wahl zwar hüten, aber nicht gestalten. Der neue Außenminister Gabriel wird in den verbleibenden acht Monaten einer auslaufenden Bundesregierung auch nichts mehr richten können. Alles Wichtige liegt sowieso in der Hand der Bundeskanzlerin. Erfolg der Rochade: Bis zur Wahl im September wird die SPD-Seite im Bundeskabinett blasser wirken als je zuvor. Das dient Angela Merkel und der CDU.
Fast alles hängt jetzt für die SPD davon ab, was Martin Schulz von außen bewirken kann. Mehr als Reden wird das nicht sein können, und es wird ein Reden ohne Amtsbonus sein. Sein Amt als europäischer Parlamentspräsident hat er in einer Zeit des Niedergangs wahrgenommen und dabei alle Fehlentscheidungen und Kompromisse stets mitgemacht und offensiv vertreten.
So sympathisch und beredt er ist, wirkt er doch wie ein Mann des Systems. Die Punkte, in denen er wirklich anderer Meinung wäre als Angela Merkel, wird man noch suchen müssen, und es ist fraglich, ob dies Unterschiede sind, die sich für eine mobilisierende öffentliche Kontroverse eignen:
Was Schulz alles nicht kann
Nicht angreifen kann er die Bundeskanzlerin auf dem Gebiet der Europapolitik. Soll er mehr Geld fordern, oder mehr Nachgiebigkeit gegenüber den Franzosen und Italienern? Das könnte der SPD schlecht bekommen.
Nicht angreifen kann er sie auf dem Gebiet der Außenpolitik, die war ja stets einvernehmlich mit der SPD und ihrem Außenminister.
Nicht angreifen kann er sie auf dem Gebiet der Sozialpolitik, die einschlägigen Ressorts gehören zur SPD, und kein sozialdemokratisches Beglückungsprojekt ist seit 2013 an Angela Merkel gescheitert.
Nicht angreifen kann er sie auf dem Gebiet der Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik., denn er muss auf den linken SPD-Flügel und die beiden erhofften Partner Grüne und Linke Rücksicht nehmen, die ihn zum Bundeskanzler wählen sollen.
Nicht angreifen kann er sie auf dem Gebiet der Finanzpolitik. Dank der guten Konjunktur muss der Bund keine neuen Schulden machen, und der Finanzminister Schäuble kann trotzdem spendabel sein.
Er müsste sie angreifen wegen ihrer Fehler und ihrer Konzeptionslosigkeit bei der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und beim Europäischen Projekt. Das aber kann er nicht tun, ohne sich selbst anzugreifen. So wird es wohl darauf hinauslaufen, dass er im Wahlprogramm Listen von Forderungen auf vielen Gebieten präsentiert, die keinen wirklich interessieren, und die vor allem eint, dass sie Geld kosten. Dazu wird von mehr sozialer Gerechtigkeit und mehr Teilhabe die Rede sein. Viele Wähler werden sich gähnend abwenden.
Der Wahlkampf wird ein Schönheitswettbewerb sein
Niemandem wird verborgen bleiben, dass Angela Merkel und Martin Schulz zu keinem wirklich wesentlichen Punkt unterschiedlicher Meinung sind. Ihr Wahlkampf wird deshalb ein Schönheitswettbewerb sein. Gäbe es einen wirklichen Überdruss an Angela Merkel, so könnte Schulz möglicherweise davon profitieren, so wie 1998 Schröder gegenüber Kohl. Aber dieser Überdruss ist nicht zu erkennen.
Angela Merkel langweilt zwar als Rednerin. Aber ihre Fehler liegen in ihrer Politik, verbale Fehltritte macht sie nie. Weil sie völlig uneitel ist, nervt sie auch nie mit Gespreize im Amt. Weil Schulz in der Auseinandersetzung mit ihr weder auf Unterschiede in der Sache noch auf Kritik an der Person setzen kann, muss er ganz auf seinen höheren Unterhaltungswert setzen. Das aber könnte gegenüber einer bewährten Amtsinhaberin zu wenig sein.
Martin Schulz möchte Bundeskanzler werden. Das geht nur mit einer rot-rot-grünen Koalition. Diese drei Parteien liegen zusammen in den Umfragen stabil bei 40 bis 42 %. Die SPD müsste von gegenwärtig 23 % auf 30 % springen, und zwar nicht auf Kosten der Grünen oder der Linkspartei, um einen Bundeskanzler Schulz zu ermöglichen. Wenn man von der großen Koalition weg will, ist eine andere Kombination realistischer: CDU/CSU, Grüne und FDP liegen zusammen stabil bei 52 %. Erfahrungsgemäß reichen 48 % für eine Mehrheit bei den Parlamentssitzen.
Gemeinsam gegen die AfD
Damit wird die realistische Zielsetzung eines Spitzenkandidaten Martin Schulz deutlich: Er muss der Union so viele Stimmen wegnehmen, dass es nur zusammen mit der SPD für eine parlamentarische Mehrheit reicht. In diesem Sinn hätte Martin Schulz dann Erfolg, wenn er für die SPD das Ergebnis Per Steinbrücks vor vier Jahren erreicht (25,7 Prozent), und die Union bei wenig mehr als 30 % landet. Vor vier Jahren waren es noch 41,5 % gewesen. Aber damals erzielte die AfD nur 4,7 Prozent und zog nicht in den Bundestag ein. Jetzt aber liegt sie in den Umfragen zwischen 11 Prozent und 14,5 Prozent. Darunter sind auch viele ehemalige SPD-Wähler.
Das Paradox des heraufziehenden Wahlkampfs liegt darin, dass mit Angela Merkel und Martin Schulz zwei Verbündete gegeneinander kämpfen, die 95 % ihrer Überzeugungen teilen. Die politische Frontlinie beider liegt nicht zueinander, sondern zur AfD. Diese wird damit werben, dass sie in Fragen von Flüchtlingspolitik, Einwanderung und Europa die einzige demokratische Alternative darstellt. Da können ihr guten Gewissens nicht einmal CDU und SPD widersprechen.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche