Der „Rechtsstaat“ ist derzeit in aller Munde. Jedenfalls aller Politiker. Allen voran des Bundesjustizministers. Wenn Heiko Maas sich etwas anders kämmen und sich ein kleines Bäuchlein zulegen würde, könnte man ihn leicht für einen Wiedergänger Napoleons halten. Aber auch ohne diese Äußerlichkeiten tritt er mit einem Selbst- und Sendungsbewusstsein auf, das dem des großen Korsen in nichts nachsteht. Sein Thema derzeit ist also der Rechtsstaat. Auffallend ist dabei, dass es ihm immer wieder um dessen „ganze Härte“ geht, wobei er bevorzugt drei „Zielgruppen“ im Auge hat: die Terroristen, die „Rechten“ und „die Reichen“, die ihr Geld in Briefkastenfirmen ablegen. Bei den übrigen Individuen, die es mit dem Rechtsstaat zu tun bekommen, soll es offenbar weder um „hart“ noch um „weich“ gehen, sondern ganz einfach ums Recht.
Aber was ist dieser Rechtsstaat, der da gegenwärtig besonders häufig beschworen wird? Bei solchen Fragen schaut man am besten mal zuerst ins Grundgesetz (GG), die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Dort taucht der Begriff in seiner substantivischen Form allerdings nur einmal auf und zwar in Artikel 28 Absatz 1 Satz 1, wo es heißt: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen.“ Aha, „im Sinne dieses Grundgesetzes“. Daneben treffen wir den Begriff in adjektivischer Erscheinung noch in Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 und Artikel 23 Absatz 1 Satz 1. Dort ist jeweils von „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ die Rede. Der wissbegierige Zeitgenosse, der so weit gekommen ist, ist also „so klug als wie zuvor“.
Nicht Heiko Bonaparte entscheidet, sondern die Gerichte
Nicht ganz, wenn er den Blick ein wenig schweifen lässt. Dann stößt er auf Artikel 20 Absatz 3 GG und liest dort: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Damit ist zweierlei gesagt: Das Grundgesetz schreibt das Prinzip der Gewaltenteilung vor und bestimmt außerdem, dass der Maßstab für das Handeln aller drei staatlichen Gewalten das Recht ist und zwar ausschließlich das Recht. Daraus folgt: Heiko Bonaparte kann so oft von der „ganzen Härte des Rechtsstaats“ sprechen wie er will, was am Ende entschieden wird, ist Sache der dritten Gewalt, der Gerichte (Rechtsprechung, Judikative). Die Worte des Bundesjustizminister sind also nichts weiter als verbale Kraftmeierei (von versuchter Einflussnahme will ich nicht sprechen).
Doch gerade das macht derartige Aussagen ja so verlockend: Sie verpflichten zu nichts, machen aber auf diesen oder jenen vielleicht doch Eindruck. Sonst würden nicht so viele der Versuchung zu solchem Verhalten, man könnte auch von „Populismus“ sprechen, erliegen.
So hat Bundespräsident Joachim Gauck Angehörige der zehn Mordopfer, die dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zur Last gelegt werden, am 18. Februar 2013 in seinen Amtssitz im Schloss Bellevue eingeladen. Einige kamen, andere nicht. Den Anwesenden hat der Bundespräsident einige erstaunliche Äußerungen mit auf den Weg gegeben: „Und ich will auch mithelfen, soweit es in meinen Möglichkeiten liegt, dass aufgeklärt wird, wo Fehler und Versäumnisse existieren.“ „Ich werde genau verfolgen, ob staatliche Stellen ausreichend aufklären und Fehler Fehler nennen. Auch werde ich in solchen Fällen nach Konsequenzen fragen.“ Auch die Bundeskanzlerin hat es sich nicht nehmen lassen, „Familienangehörige der Mordopfer der rechtsextremistischen Terrorgruppe NSU im Kanzleramt [zu] empfangen“ (Pressemeldung). Am 1. Juli 2013 widmete sie ihnen mehr als drei Stunden (so der stellvertretende Regierungssprecher).
Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht ganz uninteressant, dass das Strafverfahren gegen die verdächtigen Mitglieder oder Unterstützer des NSU, allen voran der Angeklagten Beate Zschäpe, das seit dem 6. Mai 2013 in München vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München stattfindet, noch nicht durch ein rechtskräftiges Urteil abgeschlossen ist, die Angeklagten somit nach Artikel 48 Absatz 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union als unschuldig gelten (so genannte Unschuldsvermutung, ein Leuchtturm des Rechtsstaates).
Der Rechtsstaat hat mehrere Gesichter
Das hat die Stadt Kassel allerdings nicht gehindert, am 1. Oktober 2012 einen „Halitplatz“ einzuweihen und mit folgendem Text zu versehen: „Halit Yozgat, 1985 - 2006 Kasseler Opfer einer rechtsterroristischen Mordserie“. Und die Stadt Rostock hat am 25. Februar 2014, genau zehn Jahre nach der Ermordung von Mehmet Turgut ein Mahnmal eingeweiht („von Neonazis ermordet“).
Warum gibt es in Berlin keine Hatun Sürücü Straße? In Stuttgart hat man eine Mehrzweckhalle nach einen Mitglied der NSDAP und der SS benannt – allerdings erst nachdem der Betreffende von der RAF ermordet worden war. Warum dann nicht auch Hatun oder Arzu oder Nezara oder Funda oder Nihal oder Hülya oder Mirjana oder Birsen oder wie die zahlreichen Opfer so genannter Ehrenmorde alle hießen?
Der Rechtsstaat hat eben mehrere Gesichter. Als die zehn „NSU-Morde“ passierten, schenkte man den Hinterbliebenen, in acht Fällen Türken oder türkischstämmigen Deutschen, keine besondere Beachtung. Nachdem sich aber herausgestellt hatte, dass die mutmaßlichen Täter einer rechtsextremen terroristischen Vereinigung angehörten, überschlug sich die Politik förmlich in ihrer Sorge um die Hinterbliebenen der Mordopfer. Im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin fand eine zentrale Gedenkfeier mit rund 1200 Gästen statt, darunter neben den Angehörigen der Opfer auch der (designierte) Bundespräsident Joachim Gauck, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundestagspräsident Volker Lammert, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Vosskuhle, Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und mehrere Ministerpräsidenten. Die Schauspieler Iris Berben und Erol Sander (deutscher Schauspieler türkischer Herkunft, eigentlich Urçun Salihoğlu) trugen Gedichte vor.
Ja, so sind sie eben, die Deutschen: „Seltsame Menschen, entweder sie liegen dir zu Füßen oder sie hängen dir an der Kehle“ (“The Germans are either at your throat or at your feet“), Sir Winston Churchill. Und der Rechtsstaat wird gerne als Mehrzweckinstrument genutzt. Einmal trifft er Rechtsbrecher mit seiner ganzen Härte, ein andermal muss er einem freundlichen Gesicht weichen, das droht, sich ein anderes Land zu suchen.
„Können Sie nicht mal ein Auge zudrücken?"
„Können Sie nicht mal ein Auge zudrücken“, wurde ich mehrmals in meiner aktiven Zeit als Beamter gefragt, so als ob das Recht zu meiner persönlichen Disposition stünde. Ich zog mich stets mit der Frage aus der Affäre „Sie wollen also, dass ich das Recht breche?“ Nie hat jemand diese Frage bejaht.
Aber so direkt geht es nicht immer zu. Im Fall Daschner/Gäfgen waren sich alle einig: Folter im Rechtsstaat geht gar nicht – das verstößt gegen die Menschenwürde des tatverdächtigen Magnus Gäfgen. Die Menschwürde des Opfers Jakob von Metzler spielte demgegenüber keine Rolle, wobei offen ist, was passiert wäre, wenn er zum Zeitpunkt der Folterandrohung noch gelebt hätte. Als Gäfgen allerdings aus dem Urteil gegen Wolfgang Daschner (seinerzeit stellvertretender Frankfurter Polizeipräsident) die Konsequenzen zog und mit Erfolg auf finanzielle Entschädigung klagte, löste die Entscheidung von LG und OLG Frankfurt/M. „Empörung“ aus – und zwar bei Bürgern und Politikern.
Und dann vor wenigen Tagen erneut der Hammer: Das Landgericht Duisburg lehnt die Eröffnung des Hauptverfahrens im Zusammenhang mit der Loveparade ab, bei der am 24. Juli 2010 21 Menschen zu Tode gekommen waren. Darauf verlor einer der Überlebenden (laut Pressebericht) den Glauben an den Rechtsstaat, obwohl sogar Anwälte von Nebenklägern (also Geschädigten) einräumten (wiederum laut Pressebericht), „dass die Begründung des Landgerichts stichhaltig ist“.
Zugegeben, im Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber wo ist das schon der Fall? Und wenn es gegen Terroristen, „die Rechten“ und „die Reichen“ geht, ist schnell eine Allianz beisammen, die sich nicht mit juristischen Details aufhält, sondern genau weiß, was zu tun ist.
Der Rechtsstaat hat einen „1000jährigen Bildungsgang“ hinter sich, schrieb der Jurist Rudolf Gneist im Jahr 1872. Diese Entwicklung ist auch gut 140 Jahre später noch nicht abgeschlossen. „Der Kampf ums Recht“ (Rudolph von Jhering, ebenfalls 1872) muss ständig aufs Neue geführt werden. Und er wird andauern, wenn den Verfasser dieser Zeilen und den Napoleon von der Saar längst der grüne Rasen deckt.