Einige Leserkommentare haben mich veranlasst, meine vorangegangene Serie zu den folgenden Punkten zu ergänzen. Bei der Gelegenheit danke ich allen Achse-Leserinnen und -Lesern für ihre kritischen und instruktiven Kommentare. Von dem verehrten Sir Winston Churchill stammt die Erkenntnis: “Criticism may not be agreeable, but it is necessary. It fulfils the same function as pain in the human body. It calls attention to an unhealthy state of things.” (Kritik mag nicht angenehm sein, aber sie ist notwendig. Sie erfüllt dieselbe Funktion wie der Schmerz im menschlichen Körper. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf einen ungesunden Zustand der Dinge)
Fraktionszwang und Fraktionsdisziplin
Horst Hauptmann schrieb:
Sehr gerne würde ich in diesem Zusammenhang einmal etwas über den sogenannten Fraktionszwang lesen, der eindeutig dem Grundgesetz widerspricht, aber im Bundestag zur täglichen Praxis gehört.
„Der Fraktionszwang ist in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen anderen Ländern verfassungswidrig, da er gegen das Prinzip des freien Mandats verstößt“, heißt es lapidar auf Wikipedia unter dem Stichwort „Fraktionsdisziplin“. Das klingt auf den ersten Blick überzeugend, bestimmt doch Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG): Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Von Fraktionsdisziplin oder gar Fraktionszwang ist im GG nirgends die Rede.
Doch die Lösung einer Rechtsfrage ist selten so einfach, wie es zunächst aussieht. Das liegt an der Unvollkommenheit unserer Sprache, die es unmöglich macht, einen Gedanken so zu formulieren, dass sein Inhalt angesichts der Vielgestaltigkeit des Lebens stets über jeden Zweifel erhaben ist. So ist das Gebot in jedem Stadtpark „Hunde sind an der Leine zu führen“ vollkommen eindeutig. Ebenso eindeutig ist, dass ein Gepard oder ein Schwein kein Hund ist. Aber sollen sie deshalb frei rumlaufen dürfen? Das Gebot orientiert sich an der Tatsache, dass die Besucher eines Stadtparks üblicherweise ihren Hund, nicht aber ein anderes Tier mit sich führen, das Besucher belästigen oder gefährden könnte. Ist dies gleichwohl der Fall, kann das Gebot im Wege der Analogie auf andere Tiere ausgedehnt werden. Im Fall des Geparden könnte man auch auf den Schluss „argumentum a minori ad maius“ zurückgreifen: Wenn schon Hunde (unabhängig von ihrer Größe und Gefährlichkeit) an der Leine zu führen sind, dann erst recht Geparden und andere Raubtiere.
Dieser kleine Exkurs macht deutlich, dass die Frage der Zulässigkeit des Fraktionszwangs auf jeden Fall einer differenzierten Prüfung bedarf.
Diese setzt bei Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 GG an, wonach die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Im Bundestag geschieht das über die jeweiligen Fraktionen. Der Begriff kommt allerdings nur einmal im GG vor und zwar in Artikel 53a Absatz 1 Satz 2. Weitere Regeln enthält die Geschäftsordnung, die sich der Bundestag nach Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG gibt. Dort ist allerdings ebenfalls nirgends von Fraktionsdisziplin die Rede.
„Die Einbindung ist gewollt“
In seinem Urteil vom 8. Dezember 2004 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aber festgestellt:
„Der fraktionsgebundene Abgeordnete bewegt sich in einem Spannungsverhältnis zwischen seinem freien und gleichen Mandat und seiner Einordnung in die Fraktion.
Die politische Einbindung des Abgeordneten in Partei und Fraktion im Bund und in den Ländern ist verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt: Das Grundgesetz weist den Parteien eine besondere Rolle im Prozess der politischen Willensbildung zu (Art. 21 Abs. 1 GG), weil ohne die Formung des politischen Prozesses durch geeignete freie Organisationen eine stabile Demokratie in großen Gemeinschaften nicht gelingen kann. Die von Abgeordneten -- in Ausübung des freien Mandats -- gebildeten Fraktionen (vgl. BVerfGE 80, 188 [220]) sind im Zeichen der Entwicklung zur Parteiendemokratie notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und maßgebliche Faktoren der politischen Willensbildung (vgl. BVerfGE 80, 188 [219 f.]). Sie nehmen im parlamentarischen Raum Koordinierungsaufgaben wahr, bündeln die Vielfalt der Meinungen zur politischen Stimme, wählen aus und spitzen Themen als politisch entscheidbar zu. Diese Aufgaben sind angesichts der Vielzahl und Vielschichtigkeit der im Parlament zu behandelnden Regelungsbedürfnisse für die parlamentarische Arbeit unabdingbar. Wenn der einzelne Abgeordnete im Parlament politischen Einfluss von Gewicht ausüben, wenn er gestalten will, bedarf er der abgestimmten Unterstützung anderer Abgeordneter. Das freie Mandat und die Gleichheit der Abgeordneten werden deshalb durch die Anforderungen der in Fraktionen organisierten parlamentarischen Arbeit mit geprägt, ohne jedoch den Grundsatz der Gleichheit und Freiheit des Mandats zu verdrängen.“
Diese sibyllinische Formulierung lässt auf jeden Fall erkennen, dass das in Artikel 38 Absatz 1 Satz 2 GG verankerte freie Mandat nicht jedwede „Bündelung“ und „Koordination“ der Meinungen in einer Fraktion kategorisch ausschließt. Dem trägt die parlamentarische Praxis insofern Rechnung, als sie abweichende Stimmabgaben einzelner Abgeordneter immer wieder sanktionslos zulässt. So stimmten zum Beispiel im Februar 2015 22 Unionsabgeordnete gegen die Griechenland-Hilfe. Auch bei anderen Themen machten Abgeordnete von ihrem freien Mandat Gebrauch und stimmten gegen die Fraktionslinie.
Grenzen der Fremdbestimmung
Etwas deutlicher haben es die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages in einer gutachtlichen Äußerung zum Thema „Fraktionsdisziplin und Abgeordnetenstatus gemäß Art. 38 Grundgesetz“ vom 22. März 2013 formuliert (Seite 6): „Mit seiner Fraktionsmitgliedschaft gibt der Abgeordnete seine Freiheit in der Ausübung des Mandats nicht auf, unterwirft sich aber einer „Fraktionsdisziplin“. Diese beruht nicht auf Rechtszwang, sondern ist als eine sich selbst freiwillig auferlegte Disziplin Bedingung parlamentarischer Wirksamkeit und eigener Aufgabenerfüllung. In seiner Fraktion unterliegt der Abgeordnete der „Fremdbestimmung“ nur insoweit, als er sich freiwillig der Mehrheit fügt, zu deren Zustandekommen er wie alle anderen Fraktionsmitglieder beigetragen hat. Bereits begrifflich liegt darin keine Einschränkung des Abgeordneten in seiner Mandatsfreiheit.“
Fraktionszwang ist danach in der Tat verfassungswidrig. Aber nicht jede Bemühung der Fraktionsführung um eine einheitliche Stimmabgabe ist deshalb unzulässig. Kein Abgeordneter ist gehindert, seinem Gewissen zu folgen, wie auch § 13 der GO des Bundestages nochmals bekräftigt: „Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“ Ob er es dann auch tatsächlich tut, steht auf einem anderen Blatt.
Wird fortgesetzt. Die erste Staffel dieser Serie finden Sie hier.
Im nächsten Teil geht es um die Souveränitätsrechte des Souveräns, also des Volkes.