Quentin Quencher / 01.12.2015 / 06:30 / 3 / Seite ausdrucken

Der Reaktionär

„Liberalismus und Rechtsstaat sind ihrem Ursprung nach reaktionär.*“

Der Reaktionär lebt zwei Leben, eines vor, und eines nach der Verwandlung. Wie der Schmetterling, der erst Raupe ist, um sich dann in der Metamorphose in ein scheinbar völlig anderes Wesen zu verwandeln. Doch anders als bei diesem Insekt, geschieht die Verwandlung des Reaktionärs nicht automatisch, ist kein natürlicher Automatismus vorhanden, der ihm eine neue Gestalt verleiht. Irgendetwas löst die Verwandlung aus, niemand weiß aber genau was es ist. Der Reaktionär berichtet gerne über seine Metamorphose, er empfindet sie als Erweckungserlebnis, so als hätte er vorher keine Augen gehabt, und ist erst jetzt sehend geworden. Wie ein Schlafwandler sei er durchs Leben gegangen, nichts außer ihm selbst und seine Familie habe ihn interessiert. Seine Umwelt akzeptierte er so wie sie ist, er passt sich ihr an, nutzte sie zu seinem Vorteil, ohne darüber nachzudenken oder zu beobachten, wie sich diese Umwelt verändert.

Vor der Metamorphose ist der Reaktionär nicht von anderen Menschen zu unterscheiden, er verhält sich wie sie, sieht auch so aus, ißt und trinkt das Gleiche. In der Wissenschaft ist noch nicht geklärt, ob im Grunde jeder Mensch die Gene zum Reaktionär in sich trägt, oder nur manche. Unstrittig ist allerdings, dass es einen Anlass braucht, damit die Metamorphose eintritt. Es können langsame Veränderungen sein, die irgendwann einen Level erreichen, der beim Reaktionär die Verwandlung auslöst, oder auch plötzliche Vorkommnisse, die ihm aus seinem schlafwandlerischen Dasein erwecken.

Irgendeine Situation ist unerträglich geworden und hat die Metamorphose ausgelöst. Nun schwingt sich der Reaktionär auf zur Suche nach einer besseren Welt. So wie sie vielleicht mal war, doch er kann sich nicht richtig erinnern, vor seiner Verwandlung hatte er seine Umwelt ja nur schemenhaft wahr genommen. Da schien ihm alles in Ordnung. Da muss alles in Ordnung gewesen sein, sonst wäre seine Erweckung ja viel früher geschehen, sonst wäre er vielleicht als Reaktionär geboren worden.

Den meisten Mitmenschen erscheint der Reaktionär nun als einer der die Vergangenheit wieder herstellen möchte. Die Zeit in der alles in Ordnung schien. Doch dieser Eindruck täuscht, der Reaktionär weiß, dass er seine Metamorphose nicht rückgängig machen kann. Er möchte es auch nicht, eine Rückverwandlung würde ihn ja in diesen überwundenen schlafwandlerischen Zustand versetzen. Nein, der Reaktionär lebt ganz in der Gegenwart, nur möchte er herausfinden, was genau der Anlass seiner Verwandlung war. Dies ist der Punkt, an dem offensichtlich wurde, dass etwas schief läuft, und darauf reagiert er. In der Vergangenheit gräbt er nur, um herauszufinden, ab wann etwas aus dem Ruder gelaufen ist, um es klarer benennen zu können.

Diffamierungen, er würde die Vergangenheit wieder herstellen wollen, bringen den Reaktionär in Wallung, denn er sieht sich als Korrektor, jemand muss doch darauf hinweisen, dass hier was falsch läuft. Und die die ihn diffamieren, sind genau die die dafür verantwortlich sind, dass der Kahn aus dem Ruder läuft. Hier muss man eingreifen, hier muss man reagieren. Reaktionär zu sein, bedeutet für ihn, auf erkannte Fehlentwicklungen zu reagieren, sie zu korrigieren. Bislang hat nur er erkannt, dank seiner Metamorphose, dass die Situation unerträglich geworden ist.

An Erweckungsereignissen, Vorgänge die die Metamorphose von ganz gewöhnlichen Menschen hin zu Reaktionären einleiten, mangelt es derzeit nicht, demzufolge auch nicht an Reaktionären. „Bis hierher konnte ich mit gehen,” sagt der nun Sehende „doch das was nun geschieht, ist falsch.“ Er ist zum Reaktionär geworden, ohne dies selbst bemerkt zu haben. Nur die Umstände seiner Verwandlung wird er nie vergessen, den Anlass warum sich sein Weltbild veränderte.

*Der Philosoph Boris Groys in einem Gespräch mit Vittorio Hösle.
  https://www.ici-berlin.org/videos/spannungsuebung-1/part/3/

 

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Leserpost

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Andreas Rochow / 01.12.2015

Die semantische Bedeutung der Begriffe Reaktion/Reaktionär hat sich ja längst von spätlateinisch reagere = zurücktreiben, mittellateinisch = entgegenwirken bis hin zu etwas grundsätzlich Negativem, speziell Antimodernem, Konterrevolutionärem, im real existierenden Sozialismus etwa Antikommunistischem, wie auch immer etwas Rückwärtsgewandtem verändert. Vertreter des gefühlten Fortschritts klassifizieren ihre Kritiker gern als Reaktionäre, aus der Zeit Gefallene, (Erz-)Konservative mit der Absicht, sie damit zu stigmatisieren und zu marginalisieren. Diesen Effekt nimmt auch auch der russische Philosoph Boris Groys in Kauf, (der an anderer Stelle den Kommunismus der Sowjetunion für die höchste Form eines Vernunftregimes/“Macht der Vernunft” hält), wenn er meint, dass Liberalismus und Rechtsstaat ihrem Ursprung nach reaktionär seien. Quentin Quenchers hübscher Fabel, die das Reaktionärwerden mit der (zufälligen, willkürlichen, beliebigen, spontanen, erratischen) Metamorphose von der Raupe zum Schmetterling versinnbildlicht, fehlt zwar die eigentliche Pointe; sie geht aber mit dem Reaktionär freundlicher um, als das sonst unter den vernehmbaren Denkern üblich ist. Wie wäre es, wenn wir uns einmal klarmachen, dass alle Prozesse auf die Wechselwirkung mindestens zweier opponierender Kräfte angewiesen sind: Plus UND Minus, rechts UND links, hoch UND tief, vorwärts UND rückwärts, schnell UND langsam, trial UND error, stop UND go, Aktion UND Reaktion und meinetwegen noch Werden UND Vergehen. Wer im vermeintlichen Interesse eines ungebremsten Fortschritts (= Aktion) auf Steuerungsprozesse - also Quentin Quenchers Schmetterlinge (=Reaktion) - verzichten will, fährt mit seinem Projekt gegen die Wand! Nach dem Willen des Philosophen Boris Groys, müsste direkt dahinter so etwas wie die Macht der sowjetkommunistischen Vernunft winken. Ich liebe Fabeln, weil sie mit dem Leben mehr zu tun haben als so manche philosophische These… Danke, Herr Quencher, für diese phantastische Anregung!

Christian Bredlow / 01.12.2015

Komischer Text. Letztlich schreiben Sie, Reaktionär und Revolutionär sei das gleiche. Das stimmt zwar. Nur ist beides eben das Gegenteil von Liberalismus und Rechtsstaat. Liberalismus und Rechtsstaat sind eine zivilisierte Methode, trotz unterschiedlicher Vorstellungen von gut und böse gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Revolution und Reaktion sind der Versuch, die eigene Vorstellung von gut und böse den anderen gewaltsam aufzuzwingen. viele Grüße bre

Wilhelm Lohmar / 01.12.2015

In meinem Falle läßt sich der Beginn der Metamorphose sehr genau datieren. Es waren die Vorgänge um die Ölverladeplattform BRENT SPAR im Jahre 1995. Wilhelm Lohmar

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