Er weiß, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann und er weiß, dass es zu spät ist, um Hilfe zu schreien, wenn man schon am Boden liegt. Deswegen schlägt er als Erster zu, pro-aktiv. Das ist nicht fein, aber es verlängert die Lebenserwartung.
Kaum hatte Daniel Gerlach, Nahostexperte, Gründer, Mitherausgeber und Chefredakteur des Magazins „Zenith – Zeitschrift für den Orient“, sein Zimmer im Palm Hotel Bagdad bezogen, klingelte sein Handy. Gerlach überlegte kurz, ob er den Anruf annehmen oder ignorieren sollte, entschied sich dann nach einem kurzen Blick auf das Display fürs Annehmen. Es war die Redaktion des heute-journals, die wissen wollte, ob er zu einem Interview über die Lage im Nahen Osten bereit wäre.
„Mach ich gerne“, sagte Gerlach, obwohl er gerade vom Flughafen gekommen war und sich schon darauf freute, einen langen Tag in Ruhe ausklingen lassen zu können.
Etwa 20 Minuten später klingelte das Handy wieder. Diesmal war es die Redaktion der Tagesthemen, die wissen wollte, ob er zu einem Interview über die Lage im Nahen Osten bereit wäre.
Und so kam es, dass Daniel Gerlach hintereinander sowohl im heute-journal (ab 10:00 Uhr) wie in den Tagesthemen (ab 17:30 Uhr) zu sehen und zu hören war. Zwischen dem einen und dem anderen Auftritt hatte er gerade genug Zeit, um das Hemd zu wechseln und sich ein Sakko anzuziehen.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten glänzte Gerlach mit einem Insider-Wissen, ohne zu verraten, woher er es hatte. Auf die Frage des Moderators Christian Sievers, ob „die Region am Rand einer Katastrophe oder schon mittendrin“ stecke, antwortete er mit der ihm eigenen professionellen Eloquenz:
Die ganze Region ist erschüttert und in Aufruhr, das hängt nicht nur mit diesem Raketenangriff der Iraner zusammen, sondern auch maßgeblich damit, dass man der Ansicht ist, die israelische Seite kann tun und lassen, was sie will, ohne dass irgendjemand ihr die Grenzen aufzeigt, und das sorgt natürlich für große Frustrationen, und da gibt es Menschen, die mit Iran nicht viel am Hut haben und die trotzdem sagen, endlich gibt es irgendjemanden, der versucht, den Israelis Einhalt zu gebieten, auch wenn das möglicherweise jetzt kläglich gescheitert ist.
180 bis 200 Raketen als Beweis fürs „Raushalten“
„Man“ ist also der Ansicht, die israelische Seite könne tun und lassen, was sie will, ohne dass ihr irgendjemand die Grenzen aufzeigen würde, was „natürlich“ für große Frustrationen sorgt, sogar bei Menschen, die mit Iran nicht viel am Hut haben und sich trotzdem darüber freuen, wenn jemand versucht, den Israelis Einhalt zu gebieten, auch wenn das möglicherweise jetzt kläglich gescheitert ist.
Ja, den Israelis Einhalt zu gebieten, ihnen zu zeigen, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, wäre das Gebot der Stunde, eine friedensstiftende Maßnahme. Stattdessen haben sich die Iraner in eine Art Falle locken lassen. Von wem? Natürlich von einem besonders perfiden Politiker, dem israelischen Ministerpräsidenten:
Netanyahu hat deutlich gezeigt, dass er bereit ist, die Iraner in diesen Krieg hineinzuziehen, obwohl die Iraner, auch wenn sie propagandistisch immer wieder etwas anderes behauptet haben, wirklich versucht haben, sich da rauszuhalten, jedenfalls nicht über eine bestimmte Schwelle zu gehen.
Der letzte Beweis dafür, wie sehr die Iraner bemüht waren, „sich da rauszuhalten“, waren die 180 bis 200 Raketen, die sie nach Israel abgefeuert haben. Es hätten auch viel mehr sein können, wenn die Iraner bereit gewesen wären, über eine bestimmte Schwelle zu gehen. Dass sie es nicht getan haben, zeigt, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht.
Eine halbe Stunde später setzte Nahostexperte Gerlach seine Lageanalyse bei den Tagesthemen fort. Auf die Frage der Moderatorin Julia-Niharika Sen „Wie wird Israel reagieren, wie lange wird jetzt Angriff auf Gegenangriff folgen?“ holte er weiträumig aus.
War früher „der Jude“ ein Weltbrandstifter, so ist es heute Israel
Die Abschreckungsdoktrin der Israelis sei ein gefährliches Spiel, das schlimme Folgen nach sich ziehen könnte; Dass Israel jetzt die Gelegenheit nutzt, mit allen seinen Feinden aufzuräumen, diese Situation ist eine sehr gefährliche, man scheint die technische Überlegenheit jetzt voll auszunutzen, die Amerikaner müssen sich jetzt mit der Strategie der Israelis arrangieren… Soll heißen, die Israelis treiben die Amis vor sich her, der Schwanz wedelt mit dem Hund. Netanyahu versucht, die Amerikaner da mit hineinzuziehen, jetzt diese Situation zu nutzen, dass alle im Kriegsmodus sind. Das wiederum wird allerdings wohl dazu führen, dass sich nicht nur Iran, sondern auch andere Staaten der Region überlegen, dass sie sich sehr schnell deutlich mehr bewaffnen, weil sie angesichts dieser dramatischen israelischen Überlegenheit neue Lösungen finden müssen, und dazu gehören wahrscheinlich auch Nuklearwaffen. Im Klartext: Die dramatische Überlegenheit der Israelis ist keine Überlebensgarantie für die Israelis, sie stellt eine Bedrohung für den Frieden in der Region dar. Und deswegen denke ich, muss man davon ausgehen, dass nicht nur Iran, sondern auch die arabische Welt darauf schauen wird, sich möglichst bald mit Abschreckungswaffen auszurüsten, denn wenn man in die Zukunft schaut, weiß man nicht, ob es nicht irgendwann mal einen selbst trifft.
War früher „der Jude“ ein Weltbrandstifter, so ist es heute Israel, zumindest regional. Nun ist Daniel Gerlach vieles, aber kein Antisemit, nicht einmal ein Antizionist. Er ist ein Experte, der in aller Objektivität feststellt, dass Israels „technische Überlegenheit“ die Region destabilisiert. So gesehen, ist es nicht der Iran, der Israel bedroht, sondern Israel, das die Hegemonie des Iran erschüttert. Den als Scheinriesen enttarnten Hegemon weiter zu demütigen, könnte schlimm enden. Die Geschichte kennt genug Beispiele, wozu Despoten, denen der Untergang droht, imstande sind. Ist es das, was Gerlach sagen möchte? Aber so sagt er es eben nicht und palavert lieber über die „dramatische israelische Überlegenheit“, welche die „arabische Welt“ dazu veranlassen würde, sich atomar zu bewaffnen. Damit das nicht passiert, um den Frieden in der Region zu erhalten, müsste Israel auf seine „technische Überlegenheit“ verzichten und radikal abrüsten.
Der ewige Frieden steht vor der Tür!
Mit dieser Idee steht Gerlach nicht allein da. Jörg Lau schreibt auf Zeit Online: „Die strategische Überlegenheit Israels im Nahen Osten ist enorm. Wie es in diesem Krieg weitergeht, hängt davon ab, ob Israel erkennt, dass es bereits gewonnen hat.“ Im Tagesspiegel fantasiert Stephan-Andreas Casdorff: „Israel hat seine Ziele erreicht, die Angreifer sind geschlagen.“
Echt jetzt? Die Hamas hat bedingungslos kapituliert und alle Geiseln freigelassen, die Hisbollah alle Raketen an die United Nations Interim Force in Lebanon (Unifil) übergeben, und aus Teheran kam ein Glückwunsch-Telegramm zum jüdischen Neujahrfest. Jetzt wartet ganz Israel auf ein Angebot der Huthis, die Piraten im Roten Meer gemeinsam zu jagen. Der ewige Frieden steht vor der Tür! Game over, würde Wolfgang Schäuble sagen.
Gerlach, Lau, Casdorff e tutti quanti wissen, dass sich jeder Knafeh-Bäcker zwischen Aden und Agadir über solche Ideen schlapp lachen würde. Warum reden und schreiben sie dann solchen Unsinn? Weil sie viele Essays über Martin Buber und Ernst Bloch gelesen, alle Filme von Woody Allen gesehen und zu oft Klezmer-Musik gehört haben. Aber: „Tewje, den Milchmann“ gibt es nur noch im Theater. Das, was die besorgten Deutschen unter Juden, Judentum, jüdischer Kultur verstehen, sind Schattenbilder von gestern und vorgestern. Ja, es gibt sie noch, die guten, braven und angepassten Juden, die sich die „Jüdische Allgemeine“ in einem neutralen Umschlag schicken lassen, damit die Nachbarn nichts merken. Juden, die es gerne hören, wenn ein Minister ihnen sagt, für Antisemitismus gäbe es keinen Platz in Deutschland, obwohl sie jeden Tag das Gegenteil erleben. Juden, die ihre Kinder an Schulen schicken, die Festungen gleichen. Und Juden, die dankbar sind, dass sie nicht verfolgt werden, von gelegentlichen Übergriffen indigener und zugewanderter Judenhasser abgesehen.
Es sind alles Retro-Juden, Dhimmis, die noch immer das Ghetto in sich tragen. Einige sind so gut integriert, dass sie ihre Mission darin sehen, sich als „Israelkritiker“ zu profilieren, so wie sich früher manche Juden als „deutsche Patrioten“ hervortaten, um von ihrer Umwelt angenommen zu werden. Als "Israelkritiker" hat man/frau gute Chancen, von Annalena Baerbock zu einem Essen im Auswärtigen Amt eingeladen zu werden.
Das ist nicht fein, aber es verlängert die Lebenserwartung
Das Gegenteil des Retro-Juden ist der proaktive Jude. Er besucht weder die Veranstaltungen der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit noch die der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Er verlegt keine Stolpersteine und gerät nicht in Verzückung, wenn auf arte ein Film über Juden im Stetl läuft. Der Proto-Jude ist ziemlich einfach gestrickt.
Er weiß, dass er sich nur auf sich selbst verlassen kann, und er weiß, dass es zu spät ist, um Hilfe zu schreien, wenn man schon am Boden liegt. Deswegen schlägt er als Erster zu, pro-aktiv. Das ist nicht fein, nicht immer angemessen, aber es verlängert die Lebenserwartung und sendet eine klare Botschaft an die Wegbereiter der nächsten Endlösung: Nie wieder ist jetzt!
Feingeister wie Gerlach, Lau und Casdorff werden das nicht unbedingt goutieren. Sie bevorzugen Juden, die ihre Leiden in Literatur verwandeln: Celan, Kertesz, Lasker-Schüler, Klüger, Edvardson. Kluge Menschen, großartige Autoren, aber untauglich für den Häuserkampf.
Für unsere Rubrik „Achgut zum Hören“ wurde dieser Text professionell eingelesen. Lassen Sie sich den Artikel hier vorlesen.
Henryk M. Broder ist einer der Herausgeber der Achse des Guten.