Die offenen Gesellschaften des Westens sind bedroht durch autoritäre, äußere Gegner, aber auch durch rechte, linke und religiöse Fundamentalisten im Inneren.
Sowohl im Kulturbetrieb als auch in der Politik hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass nur eine Minderheit Ziel von Hetze sein kann, nicht aber die Quelle des Hasses selbst. Dabei gelten längst nicht für alle die gleichen Kriterien. Man ist kein Hassprediger, nur weil man Hasstiraden gegen andere verbreitet, sondern man muss erst einmal schauen, wer man ist und an wen sich die Hasstiraden richten. Wenn du einer religiösen, ethnischen oder sexuellen Minderheit angehörst, dann bist du schutzbedürftig und darfst andere beschimpfen und beleidigen, die du für privilegiert oder kulturell unsensibel hältst. Wenn du aber die AfD wählst, den Islam kritisierst oder einfach nur weiß bist, dann bist du ein legitimes Ziel für Verunglimpfung, Verachtung und Hetze. Selbst körperliche Angriffe auf dich werden verschwiegen, relativiert oder gerechtfertigt, denn deine Angreifer müssen ja Gründe gehabt haben. Auch das haben wir der Multikulti-Doktrin und der linken Identitätspolitik zu verdanken.
Als ich nach Deutschland kam, hoffte ich, die starren Denkstrukturen und Zwänge hinter mir gelassen zu haben, die meine Freiheit in Ägypten eingeschränkt hatten. Ich dachte, Europa hätte nach Religions- und Weltkriegen, nach der Aufklärung und nach dem Ende des kommunistischen Imperiums eine Form des Zusammenlebens gefunden, frei von Konformismus, Einschüchterung und Gruppenzwang. Doch ich bin in ein Europa eingewandert, in dem unfreie Denk- und Verhaltensmuster nicht nur vorhanden sind, sondern auch Politik, Medien, Aktivismus und gesellschaftliche Debatten prägen. Religiöse Kategorien wie "absolute Wahrheiten", "Gut und Böse", "Schuld und Sühne", "Erbsünde und Erlösung", "Gebote und Verbote" spielen im politischen Geschehen und im medialen Diskurs eine wesentliche Rolle. Tribalismus, Personenkult und totalitäre Tendenzen gibt es auf allen Seiten des politischen Spektrums, vor allem bei jungen Menschen. Ich erlebe das Wiederaufleben der gleichen Zwänge, die ich in meiner alten Heimat hinter mir gelassen habe, wenn auch unter anderen Bezeichnungen, die moderner oder progressiver klingen.
Der Freiheitsgedanke ist für viele nicht mehr erfüllend, weil diese Freiheit keine Konturen mehr hat und nicht mehr sinnstiftend wirkt. Deshalb erleben alte Ideologien eine Renaissance und polarisieren die Gesellschaft. Dem Westen fehlt ein starkes Gegennarrativ zum Rechts- und Linkspopulismus und zum islamischen Fundamentalismus. Autoritäres Denken und totalitäre Tendenzen kehren unter dem Deckmantel von Progressivität, Multikulturalität und Identitätswahrung nach Europa zurück. Frustration und Wut wachsen in allen Lagern, die Toleranz gegenüber unliebsamen Meinungen nimmt ab. In den Medien und im politischen Diskurs werden aus falsch verstandener Toleranz die wirklichen Probleme verschwiegen, die wir in diesem Land haben. Nur wenn etwas Schlimmes passiert, wie ein Terroranschlag oder die Silvesterkrawalle, wird eine Zeit lang in den Medien darüber diskutiert, dann werden die Ereignisse schnell wieder relativiert, weil diejenigen, die an den Schaltstellen in Medien und Politik sitzen, kein Interesse an einer tiefgreifenden Debatte haben.
Wir verlieren unsere Freiheit nicht, weil sich die Welt um uns herum verändert, und auch nicht, weil wir von den Mächtigen daran gehindert werden, unser Potenzial zu entfalten. Wir verlieren sie, wenn wir die Mauern unseres Gefängnisses nicht als solche erkennen, wenn wir nicht in der Lage sind, die Muster zu erkennen, in die wir immer wieder fallen: Feigheit, Selbsttäuschung, Rechthaberei, Denkfaulheit, Gereiztheit und Gier. Wir werden unfrei, wenn wir alles so lassen wollen, wie es ist, und gleichzeitig die Zukunft auf unserer Seite erwarten. Wir verlieren unsere Freiheit, wenn wir sie für uns selbst in Anspruch nehmen, sie aber denen verweigern, die anderer Meinung sind als wir. Wir bleiben unfrei, wenn wir nicht bereit sind, für die Freiheit einen Preis zu zahlen. Freiheit ist keine schöne Geschichte, die wir uns ausdenken, um uns von den unangenehmen Seiten des Lebens abzulenken. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass wir uns den Schwierigkeiten des Lebens mutig stellen und nicht daran zerbrechen. Sie ist keine Erdbeere, die uns jemand schenkt, sondern ein Baum, den wir selbst pflanzen, gießen und schützen, bis er Früchte trägt. Freiheit ist kein Happy End, sondern ein ständiges Bemühen, umsichtig, verantwortungsbewusst, wachsam und bereit für Veränderungen zu sein. Sie ist unsere Art, dem Leben dafür zu danken, dass wir leben dürfen!
Hamed Abdel-Samad, 1972 bei Kairo geboren, kam 1995 nach Deutschland und ist deutscher Staatsbürger. Obwohl er seit mehr als zehn Jahren, nachdem eine Fatwa gegen ihn erlassen wurde, unter permanentem Polizeischutz lebt, lässt sich der hierzulande bedeutendste Kritiker des politischen Islam nicht mundtot machen. Abdel-Samad betreibt einen millionenfach frequentierten Youtube-Kanal in arabischer Sprache, dort interpretiert er den Koran historisch und politisch.
Auszug aus dem Buch "Der Preis der Freiheit", das am 17.10.2024 erscheint. Die Buchpremiere findet am 23.10. im Berliner Pfefferberg-Theater statt. Dort diskutiere ich mit Thea Dorn und Hasnain Kazim über die Thesen des Buches. Auch in Heidelberg diskutiere ich die Thesen des Buches mit Ijoma Mangold am 3.11. im Deutsch-Amerikanischen Institut.
Details über diese beiden Veranstaltungen finden Sie in den Kommentaren auf Hamed Abdel-Samads Facebookseite, wo dieser Buch-Auszug zuerst erschien.
„Der Preis der Freiheit“, 288 Seiten, erscheint am 17. Oktober 2024, dtv. Hier vorbestellbar.
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