Roland Jeske, Gastautor / 18.06.2021 / 15:00 / Foto: Pixabay / 7 / Seite ausdrucken

Der Patient und die Statistik: Das Simpson-Paradoxon

Von Roland Jeske.

Es gibt einen statistischen Fehler, den man medizinisch als „Volkskrankheit“ bezeichnen würde, weil zahlreiche statistische Laien regelmäßig in diese Falle stapfen. Ein Beispiel:

Bei Reiner Rauch-Guth wurde im Zuge einer Vorsorgeuntersuchung ein Lungentumor entdeckt, der operiert werden muss. Ihm stehen zwei Ärzte zur Auswahl:

- Dr. med. Georg Schwindsucht, Chefarzt im heimischen Kreiskrankenhaus

- Dr. med. Sue Yong Chop, Oberärztin einer Universitätsklinik

(Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufälliger Art und nicht beabsichtigt.)

Reiner stellt sich deshalb die Frage, in wessen Hände er sich besser begeben sollte. Seine Familie bevorzugt die heimische Dorfklinik, schon allein deshalb, weil die Anfahrten zu Krankenbesuchen weit weniger aufwändig wären als die zur entfernt gelegenen Uniklinik. Und da ist ja auch noch die Schwester des Arbeitskollegen vom Nachbarn gegenüber: Deren Schwägerin ist mit einem Neffen vom Schwindsucht Schorsch verheiratet, und der preist seinen Onkel in höchsten Tönen als medizinische Koryphäe an.

Patient Reiner, der ja immerhin die Folgen der Operation zu tragen hat, möchte sein Risiko möglichst gering halten. Ihn interessieren zunächst die Entfernung zur Klinik, die Bequemlichkeit der Familie und die Ratschläge der Nachbarschaft recht wenig. Ihm ist vielmehr das handwerkliche Geschick der Operateure wichtig. Zum Glück gibt es ja mittlerweile Internetportale, in denen sich Patienten über alles Mögliche rund um die medizinischen Dienstleistungen schlau machen können. Ein derartiges Portal liefert Reiner folgende Erkenntnisse über die beiden Mediziner zu Operationen von Lungen-Tumoren im vergangenen Kalenderjahr:

Chop, Sue Y.: 300 Operierte, davon 120 verstorben

Schwindsucht, Schorsch: 250 Operierte, davon 80 verstorben

Und nun hat Patient Reiner vermeintlich eine verlässliche Basis, um die Erfolgsbilanz der beiden Mediziner vergleichen zu können: Offenbar verursachen die Operationen vom Schorsch eine Sterblichkeit von

80 / 250 = 0,32

also 32 Prozent. Hingegen berechnet man auf gleiche Weise eine Sterblichkeit von 40 Prozent bei Chops Operationen.

Äpfel und Birnen vergleichen

Und damit dürfte es ja eigentlich klar auf der Hand liegen: Der Onkel vom Mann der Schwägerin der Schwester des Arbeitskollegen vom Nachbarn hat eine atemberaubende Bilanz und kann es mit jeder Expertin am Uniklinikum aufnehmen. Warum also weit fahren, wenn das Gute doch so nah liegt?

Wenn da nicht noch eine Kleinigkeit wäre, denn es gibt bekanntermaßen für Tumore, und damit natürlich auch für Reiners Lungen-Tumor, eine Unterscheidung in gutartige (beligne) und bösartige (maligne) Fälle. Und schaut man sich das Ergebnis unserer beiden Mediziner hinsichtlich dieses Details an, so erhält man nun:

Chop, Sue Y.:

250 bösartige Tumore operiert, davon 120 verstorben
50 gutartige Tumore operiert, davon 0 verstorben

Schwindsucht, Schorsch:

50 bösartige Tumore operiert, davon 40 verstorben
200 gutartige Tumore operiert, davon 40 verstorben

Mit Hilfe dieser Informationen kann man nun auch die Sterblichkeitsanteile für die Untergliederungen berechnen:

Chop, Sue Y.: 

Sterblichkeitsanteil bei bösartigen Tumoren: 0,48, bei gutartigen: 0,00

Schwindsucht, Schorsch:

Sterblichkeitsanteil bei bösartigen Tumoren: 0,80, bei gutartigen: 0,20

Mit anderen Worten, in beiden Teilbereichen schneidet Dr. Chop sehr viel besser ab: Bei den schwierigen bösartigen Fällen stirbt zwar auch bei Chop fast jeder Zweite, aber es überleben eben auch etwas mehr als die Hälfte der Operierten – beim Schorsch hingegen überlebt nur jeder fünfte maligne Fall. Bei den gutartigen Fällen bleibt beim Dorfchirurgen jeder Fünfte der Operierten auf dem Tisch, während in der Uniklinik die einfachen Fälle offenbar überhaupt keine Todesfälle nach sich ziehen.

Krankenhäuser würden sich um die leichten Fälle reißen

Weil aber natürlich Patienten mit schwerwiegender Symptomatik sehr viel häufiger in die Uniklinik gehen, dreht sich dieses Ergebnis in der Gesamtbilanz genau um. Nach der ersten Beschreibung (vgl. Simpson, 1951) eines solchen Phänomens durch Edward H. Simpson wird ein solcher Sachverhalt, bei dem sich das Ergebnis von Verhältniszahlen in Teilgesamtheiten aufgrund struktureller Effekte bei der Betrachtung der totalen Gesamtheit ins genaue Gegenteil umdreht, als Simpson-Paradoxon bezeichnet.

Wenn der Präsident des Robert Koch-Instituts während der schwersten – vermeintlich gesundheitlichen, sicher aber wirtschaftlichen – Krise, die das deutsche Volk seit dem Zweiten Weltkrieg durchgemacht hat, trotz Anmahnung der Deutschen Statistischen Gesellschaft monatelang nichts anderes kann als einfache unbedingte Sterblichkeiten zu berechnen und damit offenbar die billigende Unterstützung vom Gesundheitsministerium erfährt, dann mag man erahnen, welche Art von Erfolgsbilanz berechnet würde, wenn – wie auf politischer Ebene immer wieder diskutiert wird – dereinst eine Vergütung von Krankenhausleistungen an der „Qualität“ der Operation gemessen würde. Denn das würde für die Alltagspraxis bedeuten, dass die Krankenhäuser, auch die Uni-Kliniken, sich um die leichten Fälle reißen würden. Gleichzeitig würden aber Controlling-mäßig intelligent aufgestellte Kliniken ihren Ärzten Anreize setzen, keine schwierigen Fälle mehr anzunehmen aus Angst vor einer Verschlechterung der Erfolgsquote und damit sinkender Einnahmen.

Dann gnade Ihnen der liebe Gott, wenn bei Ihnen eine schwierige Krebsform festgestellt werden würde: Sie würden Klinken von Kliniken putzen müssen, um jemanden zu finden, der Sie dann noch operieren würde. Vielleicht müssten wir in einem solchen Fall wie beim Zahnersatz auch ins Ausland reisen? Allenfalls als potenzieller Ersatzteillieferant könnten Sie dann für bestimmte Kliniken noch interessant werden, aber ob das Ihre Heilungschancen erhöhen würde? Man bewahre uns daher vor derartigen Überlegungen von Evaluationen im Gesundheitsbereich, zumindest so lange, wie kaum Statistik-affine Personen in Behörden und Ministerien des Gesundheitswesens Entscheidungen treffen dürfen. Denn das Krankenhaus-Controlling würde unter den ihm von Politik und Krankenkassen vorgegebenen Rahmenbedingungen seine Kosten minimieren und die Erträge maximieren. Dazu sind die Controller schließlich auch eingestellt, und eine derartige Strategie würde vermutlich rein intern auf Leitungsebene – mit aller Verschwiegenheit nach außen – besprochen werden.

 

Roland Jeske ist Professor für Quantitative Methoden an der Hochschule Kempten. Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem neuen Buch „Statistiken aus schwierigen Verhältnissen – von Armut bis Corona“ von Roland Jeske. Bestellmöglichkeit hier.

Foto: Pixabay

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Leserpost

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Klaus Müller / 18.06.2021

Wirklich eine gute Erklärung des Simoson Effekts, aber was genau wollen Sie uns damit sagen? Welche Teilgesamtheiten bei Covid würden Sie gerne unterscheiden? Was würde das zeigen? Und was genau hat das wiederum mit skrupellosem Controlling im Gesundheitssystem zu tun? Ok den Zusammenhang von Controlling und Simpson ist klar und ein alter Hut. Das habe ich schon in den 1990ern in Vorlesungen behandelt. Aber nochmal: was hat Covid damit zu tun?

Stephan Bender / 18.06.2021

Ick wiederhol datt Janze mal für die vielen Laien: Ein in 1000 Meter Höhe fliegendes und ein gerade abgestürztes Flugzeug ergeben laut mathematischer Statistik zwei friedlich in 500 Meter Höhe fliegende Flugzeuge. Wegen des Simpson-Effekts muss man nun bedenken, dass beim ersten Flugzeug strahlender Sonnenschein und problemloses Wetter herrschen, während bei der abstürzenden Maschine gerade ein Tornado tobt, beide Triebwerke ausgefallen sind und sich der Pilot ohnehin in suizidaler Stimmung befindet, weil seine heiß geliebte Stewardess mit dem Copiloten durchgebrannt bzw. die beiden während des Fluges mit einem Fallschirm abgesprungen sind. Da man beide Ereignisse nun nicht mehr so einfach miteinander vergleichen kann, wurde eine Ethikkommission einberufen, die nach sechstägigen Beratungen zu dem Schluss gekommen ist, dass per definition beide Flugzeuge in 250 Metern Höhe dahingleiten, um keinen der Piloten zu benachteiligen. ... Richtig?

Andreas Rochow / 18.06.2021

Die Abschaffung der dualen Krankenhausfinanzierung und Einführung der Fallbauschalen Ulla SchmIdt, SPD) hat das Leistungsspektrum und die Angebotspalette der Krankenhäuser grundlegend verändert. Dass im zweiten Schritt die Krankenhäuser privatisiert wurden und aus Gründen der Wirtschaftlichkeit hohe Einnahmen und möglichst geringsten Personalkosten erzielen mussten, ist eine Realität, die typisch für das deutsche Gesundheitswesen ist. Invasive Diagnostik der Herzkranzgefäße (Herzkatheter), Stent und Bypass-Operationen, Gelenkersatz an Knie und Hüfte boomten in der Folge und nahmen im internationalen Vergleich Rekordwerte ein. Ein Regionalkrankenhaus in der Nähe hat Einnahmen generiert mit Wirbelsäulenoperationen, die, wie der aufmerksame Radiologe des Hauses herausfand, in einer hohen Rate nicht indiziert waren. Zudem wuden sie von einem Belegarzt durchgeführt, der vom Verwaltungsdirektor bei der Op.-Planung inkl. Personal dem Chirurgiechef des eigenen Hauses vor die Nase gesetzt wurde. - DAS sind die Dinge, die im Krankenhauswesen schief laufen und die Indikations-Schwelle für teure und große Eingriffe gesenkt und die Kosten für die Krankenkassen erhöht haben. Wenn man bedenkt, wie sich der Staat regelmäßig an den Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen vergreift, um Milliardenbeträge zweckentfremdet einzusetzen, kann man nur staunen. Dieser Raub wird Jahr für Jahr in allen möglichen Gesetzen versteckt, aber vom Parlament immer wieder durchgewinkt. Kein Wunder: Die Damen, Herren und Diversen Volksvertreterinnen dürften kaum gesetzlich krankenversichert sein. Sie verkörpern das “gute Risiko” und werden statistisch seltener und weniger schwer krank. Prof. Simpson könnte auch diesen Sachverhalt statistisch belegen. Covid-Minister Jens Spahn und seine Crew setzen andere Prioritäten.

Rainer Schweitzer / 18.06.2021

Rein positivistisch auf irgendwelche, quasi gottgegebenen Zahlen zu starren, ergibt ein falsches Bild der Welt. Jeder methodologisch geschulte Wissenschaftler weiß, daß kein Weg um eine qualitative Beurteilung der Befunde herum führt. Ich wundere mich seit langem über die intellektuelle Armut des RKI und der Bundesregierung, mit ihrem Inzidenzwert. Der Kreis Gütersloh hat das brennpunktartig gezeigt, als um die 1000 rumänische und bulgarische Arbeiter bei Tönnies positiv getestet wurden, währen der Kreis ohne diese sozial weitgehend isolierte Arbeiterschaft völlig unauffällig war. Der Inzidenzwert suggeriert, daß eine Gesellschaft von 100.000 Individuen bezüglich der Muster ihrer sozialer Kontakte homogen wäre, was nicht einmal vorstellbar, geschweige denn tatsächlich so ist. Andere methodologische Probleme kommen hinzu. Daß die Bundesregierung sich so verbissen an diesen Wert klammert, der so offensichtlich in die Irre führt, nährt den Verdacht, daß es ihr gar nicht primär um eine vernünftige, angemessene Reaktion auf die Pandemie im Interesse der Bürger geht, sondern daß sie in Wahrheit einer ganz anderen Agenda folgt. Dabei sollte man sich bewußt machen, daß das RKI eben nicht unabhängig ist, sondern oberste Bundesbehörde und damit ihr Komplize. Oder sollten wir annehmen, daß wir von intellektuellem Prekariat regiert werden?

Timm Koppentrath / 18.06.2021

Puh, zum Glück kam das Wort Corona nur 1 x ganz am Ende vor, sonst hätte ich mich ermüdet abgewendet und den medialen Spin-Doktoren das Weiterköcheln der Dauerbrenner überlassen. Allgemeinbildung, für alle gut und nützlich. Man könnte sagen dieser Artikel hat etwas von “Life Hack” auf hohem Niveau, wenn dieser mich nicht im Dunkeln lassen würde, wie ich nun an die Zahlen bei der OP Verstorbenen rankomme, die noch differenzieren, ob es um einen Routine- oder Nicht-Routine- Eingriff ging. Vielleicht bekommen wir auch einmal die Unstatistik des Monats bei Achgut. Das würde mich freuen.

Marion Sönnichsen / 18.06.2021

Ich hatte es zwar in einem Kommentar schon einmal erwähnt, aber hier passt es auch, es in Erinnerung zu rufen. Und im jüngsten Beitrag des Autors Dr. Ziegler hatten einige Leser auf Ihre Contergan-Erfahrungen hingewiesen und hier eine Parallele gesehen, wenn auch nur gefühlsmäßig. Ja, auch hier lohnt es sich, auf die damalige Statistik zu blicken. Man sieht, auch wenn man nach bestem Wissen und Gewissen Statistiken erhebt (was ja bei der Führung der Corona-Statistiken noch nicht einmal das Bestreben war), so können selbst diese in die Irre führen, wie hier geschildert und man erfährt, derjenige Arzt, der als Erster auf der richtigen Spur war, dessen Warnhinweise nicht nur ignoriert wurden, wurde auch diffamiert (hier denke ich sofort an Prof. S. Bhakdi): „Die Contergan-Katastrophe: Die trügerische Sicherheit der „harten“ Daten“, Dtsch Arztebl 2007; 104(41): A-2778 / B-2454 / C-2382, Prof. Klaus-Dieter Thomann

Marc Greiner / 18.06.2021

Bei der Achse kann man praktisch jeden Tag etwas dazu lernen. Danke für die anspruchsvollen Artikel.

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