Oliver Zimski / 08.05.2020 / 11:37 / Foto: Tim Maxeiner / 67 / Seite ausdrucken

Der Osten: Eine 75-jährige Geschichte des Vergessens

Kants Kategorischer Imperativ, Klein-Posemuckel als Sinnbild von Provinzialität, die von Oskar Troplowitz entwickelte Nivea-Creme, Königsberger Klopse, Schmorgurken auf schlesische Art, Tilsiter Käse, Rügenwalder Leberwurst, Echt Stonsdorfer Kräuterlikör, diverse Kinder- und Weihnachtslieder wie die Vogelhochzeit, Oh Tannenbaum, Schneeflöckchen-Weißröckchen oder Leise rieselt der Schnee – eine alte Schatzkiste mit spontan zusammengewürfelten Fundsachen, die alle einen gemeinsamen Ursprung haben: im ehemaligen deutschen Osten.

All die seltsamen Namen, die ich als Kind in meiner Umgebung wahrnahm: Sobieraj hieß die Religionslehrerin, Kaczmarek der Tante-Emma-Laden-Besitzer um die Ecke, Piontek der Handwerksmeister im Nachbarhaus, Thomalla die alte Kräuterhexe, die uns mit schwerem östlichen Akzent beschimpfte, wenn wir wieder einmal den Ball über ihren Zaun geschossen hatten. Ich war fasziniert von den Rübezahl-Sagen, die mir als Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen wurden, doch als ich vorschlug, ins Riesengebirge zu fahren, bekam ich nur ein rätselhaftes „Momentan nicht möglich!“ zur Antwort. Viel später fand ich heraus, dass fast die Hälfte meiner Freunde und Bekannten – ob mit oder ohne slawisch klingenden Nachnamen – ihre familiären Wurzeln jenseits von Oder und Neiße hatten, dass aber nur wenige von ihnen Näheres über diese Wurzeln wussten oder sich überhaupt für sie interessierten.

Warum liegt die alte Schatzkiste so tief vergraben? Eine Vermutung: Weil der historische Osten Deutschlands zusammen mit dem Nazireich unterging, wird er nur mit Krieg, Schuld und Leid assoziiert und ist im kollektiven Gedächtnis der heutigen Deutschen hinter einer riesigen Wand aus Verdrängung verschwunden.

Nach Westen!

In zahlreichen Zeitungsartikeln zum 75. Jahrestag des Kriegsendes werden zwar die NS-Menschheitsverbrechen thematisiert, doch der auf dem Fuß folgende Verlust eines Viertels des deutschen Staatsgebietes und die größte ethnische Säuberung der jüngeren europäischen Geschichte (sowie die Installierung eines weiteren Viertels Deutschlands als sowjetischer Satellitenstaat) völlig ignoriert, was den Eindruck erweckt, als hätten die Deutschen den verlorenen Krieg eigentlich glimpflich überstanden und als wäre ihr Hauptproblem in den vergangenen Jahrzehnten nur ein mentales gewesen: endlich einzusehen, dass der 8. Mai 1945 auch für sie ein reiner „Tag der Befreiung“ gewesen sei. Das ist eine stark „westbezogene“ Sichtweise, die sich ihrer Schlagseite nicht einmal bewusst ist.

Denn 1945 ging zusammen mit dem Dritten Reich auch der Osten Deutschlands unter, in einer Apokalypse biblischen Ausmaßes: Das Land wurde in weiten Teilen verwüstet, seine Bewohner – soweit sie nicht vorher geflüchtet oder umgekommen waren – vertrieben, seine Geschichte von den Siegern ausgelöscht. Dies festzustellen, ist keine „Aufrechnung“ oder „Relativierung“, sondern beschreibt schlicht die Tatsachen, die allerdings nur in der Abfolge von Ursache und Wirkung verständlich werden: Der Vernichtungskrieg, den Hitlerdeutschland in Osteuropa geführt hatte, schlug mit Wucht auf seinen Urheber zurück; dabei musste der Osten für ganz Deutschland büßen. Dass dies verdrängt, vergessen oder ignoriert wird, ändert nichts an der historischen Wahrheit.

Der Kampf um die Seelower Höhen im April 1945 sei die blutigste Schlacht gewesen, „die je auf deutschem Boden ausgetragen wurde“, heißt es in verschiedenen Publikationen, wie auch von der dortigen Gedenkstätte. Von 100.000 Gefallenen ist dort die Rede. Doch schon ab Januar 1945 rückte die Rote Armee über den damaligen Osten Deutschlands vor, trieb die panisch flüchtende Zivilbevölkerung vor sich her und zerrieb ihre Angriffsspitzen an zwar weit unterlegenen, aber dennoch meist bis zum Schluss kämpfenden Verbänden von Wehrmacht, Waffen-SS und Volkssturm. Viele der Schlachten hier – ob um Ostpreußen und Königsberg, der Kampf um Hinterpommern, Ober- und Niederschlesien oder die Belagerung Breslaus – forderten teilweise deutlich mehr Opfer als der Kampf auf den Seelower Höhen. Allein im Kampf um Breslau starben 170.000 Zivilisten, 6.200 deutsche und 13.000 sowjetische Soldaten. Mit der Ausblendung der ehemaligen deutschen Ostgebiete aus dem kollektiven Gedächtnis werden auch diese Opfer ausgeblendet, zu denen neben Hunderttausenden deutscher und sowjetischer Soldaten mindestens eine halbe Million deutscher Zivilisten zählen.

Vor der sowjetischen „Walze“ flüchtete alles, was Beine hatte. Nach ersten Gräueltaten durch Rotarmisten an der ostpreußischen Zivilbevölkerung, die von der NS-Propaganda weidlich ausgeschlachtet wurden, flohen Millionen Menschen in den letzten noch fahrenden Zügen, auf Ostseeschiffen, in Pferdewagen und zu Fuß, immer nur in eine Richtung: so weit wie möglich nach Westen, die sowjetischen Panzer immer im Nacken. Bis sie endlich dort anlangten, wo Amerikaner und Briten stehengeblieben waren. Die späteren Westzonen bildeten das Hauptsammelbecken für die Versprengten, Geflüchteten und Vertriebenen des untergegangenen Reiches – insgesamt etwa 15 Millionen –, mit denen die eingesessene Bevölkerung fortan zusammenleben musste. Manche der neugegründeten Bundesländer – etwa Schleswig-Holstein – verdoppelten nahezu ihre Einwohnerzahl.

Diese 15 Millionen waren die ersten „Gastarbeiter“ der jungen Bundesrepublik (und in geringerem Maße auch der DDR). Als (zwangsläufig) fleißige, bescheidene und billige Arbeitskräfte trugen sie maßgeblich zu Wiederaufbau und Wirtschaftswunder bei, ohne dass auch nur ein Hahn danach gekräht hätte, welchen Diskriminierungen, Ausgrenzungen oder Ressentiments („Polacken!“) sie ausgesetzt waren.

Die 1949 gegründete Bundesrepublik erhob offiziell zwar den Alleinvertretungsanspruch für ganz Deutschland (zunächst noch in den Grenzen von 1937), doch ihre Menschen wollten verständlicherweise neu anfangen, nach vorn schauen, nicht mehr zurück. Die Verdrängung der Vergangenheit war gewissermaßen konstitutiv. Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“ bezog sich nicht nur auf eine etwaige Mitschuld an den Naziverbrechen, die erst allmählich in ihrer ganzen Monstrosität ins allgemeine Bewusstsein drangen, sondern auch auf das erlittene eigene Leid. Beides zusammen bildete den Kloß in der Kehle der letzten Kriegsgeneration und war verantwortlich für ihr bleiernes Schweigen.

Der Verlust des Ostens

Mit der neuen Grenzziehung an Oder und Lausitzer Neiße wurde die Zeit sozusagen um neunhundert Jahre zurückgedreht, zu den Anfängen deutscher wie polnischer Staatlichkeit, als etwa in derselben Region Piasten- und Ottonenreich aneinandergrenzten. So wurden im Ergebnis des von Hitler entfachten Krieges viele Jahrhunderte wechselvoller gemeinsamer Geschichte von Deutschen und Polen ausgelöscht. Dabei war die Abtrennung des deutschen Ostens mitnichten eine „gerechte Strafe“ für Vernichtungskrieg und Holocaust, sondern entsprang vor allem geostrategischen Überlegungen. Übrigens blieb möglicherweise nur wegen der Vertreibung im Osten Millionen von Westdeutschen zwischen Wilhelmshaven und Aachen ein ähnliches Schicksal erspart, denn gewichtige holländische Stimmen forderten als Wiedergutmachung auch die Annexion großer Teile Nordwestdeutschlands.

Da die Sowjetunion den 1939 gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt annektierten östlichen Teil Polens nicht zurückgeben wollte, sollte der neue polnische Staat im Westen auf Kosten Deutschlands entschädigt werden. Dass dies nicht nur bis zur Glatzer Neiße mitten in Schlesien, sondern noch einmal zweihundert Kilometer weiter westlich geschah, hatte mit der Unwissenheit und Nachgiebigkeit der Westalliierten zu tun und entsprach den Maximalforderungen polnischer Nationalisten, die schon vor dem Ersten Weltkrieg die kürzest mögliche Grenzlinie zwischen Ostsee und Sudeten verlangt hatten. Als Draufgabe gab es auch noch die eigentlich westlich der Oder gelegene Hafenstadt Stettin, die bis in den Sommer 1945 hinein von deutschen Kommunisten verwaltet wurde. Stalins Kalkül war es, durch die neue Grenze ewige Feindschaft zwischen Deutschen und Polen zu säen und auf diese Weise den unsicheren Kantonisten Polen an sich zu binden. Formal betrachtet, blieb jedoch die endgültige Festlegung der deutschen Ostgrenze einem zukünftigen Friedensvertrag vorbehalten.

Während die kommunistischen Behörden in der weit nach Westen verschobenen Volksrepublik Polen verbliebene sowie nach Kriegsende zurückgekehrte Deutsche aussiedelten (bis auf Oberschlesier und Masuren, die als „zwangsgermanisierte“ Autochthone zum Teil bleiben durften) und alles daran setzten, sämtliche Spuren der deutschen Vergangenheit in den „Wiedergewonnenen Gebieten“ auszumerzen, hielten in der Bundesrepublik Politiker Sonntagsreden für die Vertriebenen, so lange sie als Wähler interessant waren. Im Zuge der neuen Ostpolitik der siebziger Jahre galten ihre Verbände wegen ihres Festhaltens an der verlorenen Heimat mehr und mehr als Störenfriede und Ewiggestrige, bis sie schließlich jede gesellschaftliche Bedeutung verloren

Die Westbindung der Bundesrepublik, die Joschka Fischer in seiner Bilanz der 75 Jahre seit Kriegsende als historische Errungenschaft beschwört, weil sie Deutschland von seiner Mittellage erlöst habe, mit der es angeblich „nie umgehen konnte“, trug dazu bei, dass der westliche Teilstaat dem Osten den Rücken zukehrte, und zwar nicht nur den verlorenen Ostgebieten, sondern – je länger die deutsche Teilung andauerte – auch dem historischen Mitteldeutschland als neuem „Osten“. Und da sich die DDR in ihrem Bemühen um Abgrenzung von der BRD mittlerweile zur eigenständigen „sozialistischen Nation“ erklärt hatte, betrachteten viele Bundesbürger nun eben allein die Bundesrepublik als „Deutschland“.

Als die beiden deutschen Staaten 1990 wiedervereinigt wurden, war die endgültige Entscheidung über den Status der ehemaligen Ostgebiete nur noch Formsache. Bei den 2+4-Verhandlungen erkannte Deutschland die Oder-Neiße-Linie offiziell als seine Ostgrenze an. Abgehakt und erledigt. Warum also können wir die alte Kiste – zumal im Zeitalter einer grenzenlosen Europäischen Union – nicht lassen, wo sie ist: im Orkus der Geschichte, tief vergraben im kollektiven Unbewussten der Deutschen?

Die Wiederkehr des Verdrängten

Eine Gruppe 15-jähriger Berliner Schüler im Austausch mit gleichaltrigen Polen in Masuren. Letztere fangen abends beim gemeinsamen Lagerfeuer an zu singen, erst polnische Lieder, dann sogar zwei extra einstudierte deutsche Volkslieder. Danach fordern sie ihre Berliner Altersgenossen auf, es ihnen nachzutun. Die Reaktion ist Schweigen. Peinlich berührt starren die Schüler mitsamt ihren beiden Lehrern ins Feuer. Niemand kennt irgendein deutsches Lied. Der gemütliche Abend geht schnell zu Ende, Deutsche und Polen werden nicht warm miteinander.

Auf einer Fete erzählt eine Frau von ihren multikulturellen Wurzeln. Sie sei auf keinen Fall „rein deutsch“, denn ihre Großeltern stammten aus „Wrotzlaff“ (eigentlich Wrocław, aber im Bemühen, deutsche Ortsnamen zu meiden, nehmen viele Deutsche leider gar keine Rücksicht auf die polnische Sprache). „Meinst du Breslau?“, frage ich. „Nein, Wrotzlaff!“ – „Haben sie denn Polnisch gesprochen?“ – „Polnisch?“, überlegt die Frau. „Ich glaube nicht.“

Ein alter Mann reist per Bus mit einer Touristengruppe nach Danzig. Als sie am Frischen Haff Pause machen, sinniert er über die Flüchtlingstrecks, die hier im Januar 1945 ins Eis einbrachen. „So viele sind umgekommen…“ Ein Jüngerer zuckt die Achseln: „Dann hätten sie eben nicht alle Hitler wählen dürfen!“

Was haben diese sämtlich nach 2004 – dem Jahr von Polens EU-Beitritt – datierten Situationen, denen ich aus eigenem Erleben Dutzende ähnliche hinzufügen könnte, gemeinsam? Eine erschütternde Unkenntnis der deutschen Geschichte wie auch der eigenen Familiengeschichte. Ein radikales Abgeschnittensein von den eigenen Traditionen und Bräuchen. Das krampfhafte Bemühen, sich „korrekt“ auszudrücken und zu verhalten. Und eine totale Empathielosigkeit, wenn es um das Leid von angeblichen „Nazis“ geht. Neudeutsche Entmenschlichung.

„Deutsche Täter sind keine Opfer!“ Mit dieser dumpfen Totschlag-Parole brüllen linke Gruppen regelmäßig das Gedenken an Opfer des Bombenkrieges nieder oder stören Wiedersehenstreffen der allerletzten noch lebenden Vertriebenen. Wie bequem ist so ein schablonenhaftes Schwarz-Weiß-Denken, wie geschichtsvergessen, gefühl- und geistlos! Waren die Alten, Mütter und Kinder, die auf der Flucht erfroren oder von Panzern überrollt wurden, wirklich alle „Täter“ und hatten „Hitler gewählt“? Muss 75 Jahre nach Kriegsende das Unrecht, das Deutschen infolge der in deutschem Namen begangenen NS-Verbrechen zugefügt wurde, immer noch krampfhaft beschwiegen werden, aus Angst, die Wahrheit könnte von den „Falschen“ – von Neonazis, Rechtspopulisten, der AfD – instrumentalisiert werden? Wieviel Misstrauen gegenüber der eigenen Bevölkerung spricht aus einer solchen Angst, wieviel Unsicherheit sich selbst gegenüber?

Ignoranz und Kaltherzigkeit

Im Übrigen waren hunderttausende von Deutschen aus dem Baltikum, Bessarabien und anderen Regionen Osteuropas, die Hitler gar nicht gewählt haben können und nach dem Hitler-Stalin-Pakt bereits 1940 kollektiv ihrer angestammten Heimat entrissen und ins besetzte Polen umgesiedelt wurden, ebenso Opfer der NS-Volkstumspolitik wie andere ethnische Gruppen. Und die Wolgadeutschen, die immerhin eine autonome Sowjetrepublik bewohnten, wurden 1941 von Stalin kollektiv der Kollaboration bezichtigt und in Güterzügen nach Kasachstan und Sibirien deportiert, von wo sie nach 1989 mehrheitlich als Spätaussiedler in die Bundesrepublik kamen – sehr zum Missfallen vieler dortiger Linker, die diese Art von Migranten wegen ihrer „Spießigkeit“ und „Heimatverbundenheit“ ablehnten. Auch alles deutsche „Täter“?

Die verbreitete Ignoranz und Kaltherzigkeit denen gegenüber, die stellvertretend für das ganze Land die NS-Verbrechen gebüßt und dabei ihre Heimat oder gar ihr Leben verloren haben, ist nur in den psychologischen Kategorien von Projektion und Verdrängung zu erklären.

Eine als Kleinkind aus Schlesien vertriebene pensionierte Lehrerin, die sich in einem zwielichtigen Verein für die Rechte der Palästinenser engagiert, aber fuchsteufelswild reagiert, als sie gefragt wird, ob ihr Engagement etwas mit der eigenen Kindheit zu tun haben könnte. Dieser übereifrige Einsatz für die „vertriebenen“ Palästinenser, deren Vertriebenenstatus sich von Generation zu Generation weitervererbt und deren Nachkommen auch noch 74 Jahre nach der Gründung des Staates Israel in provisorischen Lagern hausen und sich von Extremisten instrumentalisieren lassen. Die pauschale Umetikettierung von Wirtschaftsmigranten aus aller Welt zu „Flüchtlingen“ durch deutsche Politiker und Journalisten, wider besseres Wissen, aber offenbar getrieben von einem tiefen inneren Bedürfnis.

Kompensiert das überbordende Mitleiden mit wildfremden Menschen aus fernen Kulturen die Unfähigkeit, um das verlorene Eigene zu trauern? Verbirgt sich dahinter die „Wiederkehr des Verdrängten“? Der Autor und Maler Raymond Unger, der sich in seinen Büchern mit den „transgenerationalen Traumata der Kriegsenkel“ beschäftigt, stellt die These auf, große Teile der Baby-Boomer-Generation, die heute in Deutschland den Ton angibt, seien aufgrund der „Nicht-Wahrnehmung des eigenen Schattens“ nicht erwachsen geworden, sondern verharrten im Zustand einer „moralistischen Infantilisierung“. Eine These, die kaum zu entkräften ist.

„Schläft ein Lied in allen Dingen“

„Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“, dichtete der Oberschlesier Eichendorff, der übrigens auch fließend Polnisch sprach. Wie lautet das Zauberwort? Vielleicht „Erinnerung“. Vorausgesetzt, das Erinnern ist vollständig und wird nicht aus ideologischen Gründen selektiv eingeschränkt.

Um ein chronisch unbewältigtes Trauma verarbeiten zu können, muss man sich zunächst einmal den Verlust bewusst machen, ihn betrauern können. Was wir als Deutsche (kollektiv) verloren haben, sind nicht nur besondere „Volksstämme“ und Dialekte, Landstriche sowie materielle und kulturelle Güter, sondern auch sprachlich-kulturelle Nachbarschaften, die alltägliche Begegnung mit Polen, Litauern (an die heute noch Familiennamen wie Wowereit, Theweleit, Kurbjuweit etc. erinnern) und Tschechen. Deren jahrhundertelange Symbiose mit den Deutschsprachigen Böhmens und Mährens wurde 1945 ebenfalls gewaltsam beendet. Nein, auch diese waren natürlich nicht alle „Täter“, wie etwa das Beispiel der sudetendeutschen Sozialdemokraten zeigt, die von Anfang an im Widerstand gegen die Nazis gestanden hatten, aber trotzdem vertrieben wurden.

Wenn wir dem Osten weiterhin den Rücken zukehren, werden wir auch geistige Werte verlieren, wichtige Teile unserer Geschichte: die der Kreuzritter im Pruzzenland, die keineswegs so einseitig düster ist, wie sie früher aus polnischer Sicht dargestellt wurde; die der deutschen Ostsiedlung, deren Verlauf zur Vermischung der oft von polnischen Fürsten ins Land gerufenen westfälischen, fränkischen oder holländischen Siedler mit den ansässigen Slawen und zur Gründung vieler Städte nach Magdeburger Recht führte; der Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht, die für damalige Maßstäbe fortschrittlich und tolerant gegenüber Minderheiten war, nicht denkbar ohne Königsberg oder die schillernde Persönlichkeit Friedrichs des Großen; das Breslau der Befreiungskriege oder das der modernen Architektur in der Weimarer Republik; nicht zuletzt die Adligen vom „Kreisauer Kreis“, die ihren Widerstand aus Gewissensgründen gegen Hitler mit dem Leben bezahlten. Dies alles und noch viel mehr findet sich in der alten Schatzkiste.

Die gewaltsame Verwandlung von deutschem in polnischen und russischen Boden und die damit verbundene Odyssee von Millionen Menschen hat unzählige Geschichten hervorgebracht, die ein extremes Spektrum menschlicher Erfahrungen abdecken, von unbeschreiblicher Grausamkeit und Tragik bis zu unverhofft erfahrener Hilfe und Mitmenschlichkeit, von lebenslanger Sehnsucht und Heimweh bis hin zu kraftvoll bewältigten Neuanfängen. Darunter sind sogar märchenhafte Romanzen wie die zwischen einer deutschen Fabrikantentochter und einem polnischen Neusiedler.

Mehr Neugier für die Wurzeln?

Die meisten dieser Geschichten wurden nur im Familienkreis weitergegeben. Deshalb gibt es, abgesehen von Werken der Nachkriegsliteratur, in denen Autoren den Verlust ihrer Heimat verarbeiteten (Grass, Lenz, Surminski, Leonie Ossowski u.a.) nur wenige gute Romane („Altes Land“ von Dörte Hansen) oder Filme (der TV-Zweiteiler „Die Flucht“), die Schätze aus der alten Kiste gehoben haben. Was für ein weites Feld, welch reichhaltige Stoffe böten sich heutigen Künstlern und Autoren, wenn sie ein wenig Interesse und Neugier aufbrächten.

Etwa für die Übergangszeit 1945 bis 1948, als Neusiedler – teils aus dem zerstörten Zentralpolen, teils aus den von der Sowjetunion annektierten Gebieten – in den „Wilden Westen“ kamen und sich die Häuser mit verbliebenen Deutschen teilen mussten, die erst nach und nach ausgesiedelt wurden, weil die Behörden sie noch als Fachkräfte benötigten.

Oder auch für mehr als drei Millionen Menschen im heutigen Deutschland, die in der Öffentlichkeit – ganz im Gegensatz zu anderen Migrantengruppen – nur ein äußerst stiefmütterliches Dasein fristet: die Spätaussiedler aus Polen, Rumänien, Russland, der Ukraine oder Kasachstan. Was hätten diese Menschen für aufregende Geschichten über die von ihnen erlebten Schicksale zu erzählen!

Als nach 1989 die Kommunisten in Ostmittel- und Osteuropa nicht nur mit ihrem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, sondern auch mit dem Versuch gescheitert waren, Geschichte durch Sprach- und Denkverbote umzuschreiben, als in Nord- und Westpolen die Angst vor einer Rückkehr der Deutschen abgeklungen war und die Menschen sich sicher und heimisch fühlten, entfaltete sich dort ein doppeltes Interesse: erstens an den eigenen Wurzeln, die ebenfalls oft weit im Osten liegen. Endlich konnten die Nachkommen der Zuzügler wieder öffentlich die Erinnerung an ihre eigene verlorene Heimat in Lemberg oder Wilna pflegen.

Zweitens an denen, die vor ihnen das Land geprägt hatten. Die neuen Bewohner öffneten die alte Schatzkiste und versöhnten sich mit der Vergangenheit. Schüler erforschen die Geschichte ihrer Heimatorte. Im ostpreußischen Allenstein/ Olsztyn wurde die Borussia – Stiftung und Kulturgemeinschaft gegründet. Polnische Schriftsteller schreiben erfolgreiche Krimi-Serien mit Protagonisten aus dem Vorkriegs-Breslau. Längst werden Architekturdenkmäler nicht mehr abgerissen, alte Inschriften nicht mehr weggemeißelt, sondern restauriert. Persönlichkeiten, die sich um ihre alte Heimat verdient gemacht haben, werden Ehrenbürgerschaften verliehen, Straßen und Plätze nach ihnen benannt. Einige der Vertriebenen sind sogar als Rentner zurückgekehrt, haben Polnisch gelernt und leben freundschaftlich mit ihren Nachbarn.

Wenn auch wir Deutsche uns das Gestern wieder erschlössen, würden sich Herz und Sinne vielleicht auch mehr für das Heute öffnen, für Szczecin, Wroclaw, Gdansk und Kaliningrad und ihre jetzigen Bewohner. Dann könnten wir vielleicht auch den letzten Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung, die damals Kinder waren und heute im Greisenalter sind, 75 Jahre nach Ende des Krieges den Respekt und die Aufmerksamkeit erweisen, die sie verdient haben.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Sabine Drewes / 08.05.2020

Herzlichen Dank für Ihren Beitrag, in dem Sie so vieles wieder zurechtgerückt haben, was in den vergangenen Jahrzehnten ganz bewusst ausgeblendet wurde und ausgeblendet werden sollte. Sie sprechen mir aus dem Herzen und geben meine eigenen Erfahrungen mit diesem Thema seit meiner Jugendzeit exakt wieder. Was mich das Blut in den Adern regelrecht gefrieren ließ, das war und ist die bis heute meist totale Empathielosigkeit gegenüber dem Schicksal der von Ihnen völlig zu Recht genannten und damit endlich einmal dem Vergessen entrissenen Deutschen. Danke noch einmal für Ihren Text.

Jürgen Fischer / 08.05.2020

Wenn ich mir die aktuelle Geisteshaltung und die damit verbundene Geschichtsvergessenheit so anschaue, kann ich das wie folgt zusammenfassen: Drittes Reich - böse. Weimarer Republik - böse. Kaiserreich - böse. Von der Zeit vor 1871 reden wir lieber gar nicht erst. Inzwischen wird ja schon oft genug schwadroniert, dass bis Kohls (Amtszeit-)Ende auch alles böse war. Vermutlich wird irgendwann eine Zeit kommen, in der den aktuellen Zuständen das gleiche blüht. Für uns Achse-Leser, die das “Merkel-Zeitalter” jetzt schon zu Recht als böse abstempeln, wird das allerdings zu spät sein. Im übrigen trifft der Spruch zu, der schon unzählige Klowände geziert haben dürfte (Klosprüche sind auch komplett aus der Mode, bedauerlicherweise): »Man kann aus der Geschichte lernen, dass die Menschheit nichts aus der Geschichte lernt.« Leider.

Alexander Schilling / 08.05.2020

Immerhin—in Sachen des deutschen (oder österreichischen) Südostens, insbesondere dem Gebiet des ehemaligen “Südslawien” (= Jugoslavia), scheint man sogar das Vergessen vergessen zu wollen: Und so sei an dieser Stelle wenigstens das Buch von Wendelin Gruber SJ, “In den Fängen ,des roten Drachen”, empfohlen…

Claudius Pappe / 08.05.2020

damals National-Sozialismus…………….heute Euro-Sozialismus……...….............................. Ideologie

K.H. Münter / 08.05.2020

Wer mag sich noch an die leckeren “Liegnitzer Bomben” aus Schlesien erinnern? Als ich in den 70er Jahren als Schwabe in einem gut sortierten Fachgeschäft nach “Formen” für diese Liegnitzer Bomben gefragt habe gab es nur Kopfschütteln und ein “nie davon gehört”. Und da sind diese vielen wie im Artikel erwähnten “Familien-Geschichten”. Eine Tante wurde 1945 in Stuttgart von fünf marokkanischen Soldaten vergewaltigt, der im Krieg UK-gestellte Eheman mit der MP am Bauch “ruhig” gestellt. Davon erfahren habe ich aber erst im Jahr 1989 als Tante und Onkel längst tot waren und meine Mutter sich im hohen Alter noch so manches von der Seele hat reden müssen. Damals ist mir dann auch schlagartig das Verhalten mancher Verwandten in der Nachkriegszeit verständlich geworden. Ach, es gab so viele Opfer und damit einhergehend körperliche und vor allem seelische Verwundungen auf allen Seiten der Fronten.

Claudius Pappe / 08.05.2020

Großmutter ( väterlicher Seite) auf der Flucht erschossen, Haus und Hof in Ostpreußen verloren, Vater als Kind in russischer Gefangenschaft nur durch die Gnade eines russischen Soldaten…………….lauf, Junge lauf……….überlebt. Großvater und Mutters Haus und Hof von englischen Bomben zerstört……………..nun durch Merkels Sozialismus schrittweise enteignet……………...

Gerd Heinzelmann / 08.05.2020

Sie können schön formulieren, aber Sie scheinen das Problem nicht zu verstehen.

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