Von Wolfgang Mayr.
Die Brexit-Strategen Nigel Farage und Boris Johnson werden in die britische Geschichte als die Verschrotter Großbritanniens eingehen. Die schottische Mitte-Links-Regierung sucht nach einem eigenen Ausweg aus dem Brexit, ein Teil der Nord-Iren hat ihn schon gefunden: Sie wollen die Wiedervereinigung mit der irischen Republik.
Beim Brexit-Referendum stimmten die Nordiren, wie die Schotten auch, gegen den Austritt aus der EU. Ein Votum gegen das britische Restimperium. Spannend daran: Nicht nur die irisch-republikanischen Wähler, auch ein Teil der pro-britischen Bürgerschaft lehnte den Rückzug aus der Europäischen Union ab.
Ein zusätzlicher Schub – weg vom Schrumpf-Empire - kam von den Parlamentswahlen 2017. Die Konservativen verloren die absolute Mehrheit und können nur mit Unterstützung der pro-britischen Democratic Unionist Party DUP aus Nordirland regieren. Die DUP war bisher Koalitionspartner von Sinn Fein in der nordirischen Regionalregierung. Die britische Regierung verliert damit die neutrale Vermittlerrolle im nordirischen Konflikt, der seit dem Anfang des Friedensprozesses friedlich, also parlamentarisch, ausgetragen wird. Der Beginn einer Zeitenwende.
Die Bevölkerung wurde nicht gefragt
Nord-Irland ist seit 1920 Teil Großbritanniens. Damals erklärte das britische Parlament den nördlichen Teil der irischen Insel kurzerhand für britisch, zur Provinz Ulster. Nach dem Osteraufstand von 1916, dem Wahlsieg von Sinn Fein 1918 und dem Unabhängigkeitskrieg von 1919 war die irische Kolonie für das britischen Empire nicht mehr zu halten. Das britische Parlament entschied 1920, Nordirland von Irland abzuspalten, ohne die irische Bevölkerung einzubeziehen. Die irisch-republikanische Bevölkerung im Norden wurde zur Minderheit, der britisch-unionistische Bevölkerungsteil die Mehrheit. Ulster wurde 50 Jahre lang von der Unionist Party im Alleingang regiert.
Die Unionist Party sicherte sich mit gekonnt gezogenen Wahlkreisen über Jahrzehnte hinweg ihre Macht: Sie verwaltete das Geld aus London, zugunsten der pro-britischen Bevölkerung, sie kontrollierte die Polizei, kurzum das öffentliche Leben. Die Bürgerrechtsbewegung beklagte die Drangsalierung und Entrechtung der Nord-Iren im „protestantisch-britisch-unionistischen“ Ulster. Sie forderte gleiches Wahlrecht, anständige Wohnungen und Arbeit.
Deren friedlichen Demonstrationen wurden von pro-britischen Schlägertrupps und der nordirischen Polizei mit Gewalt erwidert. Die eingeschlafene IRA wurde dadurch zu neuem Leben erweckt. Den Mord an vierzehn Demonstranten in Derry 1972 durch Soldaten der britische Armee – der ehemalige Regierungschef Cameron entschuldigte sich später dafür - nutzte der IRA gekonnt aus. Sie wurde zur bewaffneten Verteidigerin der nordirischen Interessen.
Gewalt und Gegengewalt
Auf den Terror der IRA reagierten loyalistische, pro-britische Untergrundgruppen ebenso mit Anschlägen und Morden, meinst unbehelligt von den britischen Sicherheitsdiensten. Der langjährige Vorsitzende der Sinn Fein, Gerry Adams, leitete mit seinem Dialog über den Umweg USA den nordirischen Friedensprozess ein. Pate der Verhandlungen war US-Präsident Clinton, er brachte die irische, die britische Regierung sowie die Vertreter der nordirischen Konfliktparteien an einen tisch. Das sogenannte Karfreitagsabkommen wurde unterzeichnet.
Die Bürger der Republik Irland und der Provinz Ulster stimmten bei einem Referendum für das Abkommen. Die IRA stellte ihren Terror ein, ebenso die loyalistischen Gruppen, Sinn Fein gab ihre orthodoxe politische Opposition auf. Laut dem Abkommen sind Irland und Großbritannien die Garanten für das Abkommen und für die Selbstverwaltung der britischen Provinz. Sinn Fein bildete mit der DUP die Regionalregierung in Belfast. Einen Schönheitsfehler hatte das gemeinsame Verwaltungskonstrukt – es steht noch immer ein Nordirland-Minister der nordirischen Regionalregierung vor und die britische Regierung hat die Finanzhoheit.
Der sozialdemokratische Journalist Brian Feeney bezeichnet den von der britischen Regierung berufenen Nordirlandminister Brokenshire deshalb als „Kolonialverwalter“. Eine autonome Provinz am Gängelband.
Die Konservativen in London verhinderten bisher aber auch, dass wichtige Teile des Friedensabkommens umgesetzt wurden. Wie die Aufklärung von Terror und Mord, für die die Armee und die Polizei sowie die loyalistischen Terrorgruppen verantwortlich sind, die Gleichberechtigung der irischen mit der englischen Sprache, die Anerkennung verschiedener Identitäten und Nationalitäten.
Das Misstrauen regiert
Die lange Geschichte der britischen Dominanz in Nord-Irland, die Demütigungen und Ausgrenzungen, die vielen Terrortoten wirken noch immer hinein in die Politik. Das Misstrauen zwischen den beiden Regierungsparteien DUP und Sinn Fein ist groß. Das Misstrauen wird auch noch geschürt durch verschiedene Korruptionsfälle, in die DUP-Politiker verwickelt sind. Wie die ehemalige Regierungschefin Arlene Forster, heute die parlamentarische Mehrheitsbeschafferin für die konservative Regierung in London. Foster soll 20 Millionen Euro EU-Fördergelder veruntreut haben.
Der Streit um die Fördergelder ließ die Koalition platzen, seitdem führt der Nordirland-Minister die Regierungsgeschäfte. Es scheint immer unwahrscheinlicher, dass die beiden bisherigen Partner zusammenfinden. Bei den Wahlen zum Stormont, dem nordirischen Parlament, im März 2017 konnte sich die DUP mit 28,1 % zwar als stärkste Partei behaupten, ihr Vorsprung auf Sinn Fein (27,9 %) schmolz auf 1000 Stimmen zusammen.
Zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands haben die pro-britischen Parteien DUP und UUP gemeinsam nicht mehr die absolute Mehrheit im Stormont. Das gute Abschneiden von Sinn Féin ging aber nicht auf Kosten der kleineren Partei des irischen Lagers wie der sozialdemokratischen SDLP, die trotz leichter Verluste ebenfalls einen Sitz zulegen konnte.
Erstmals in der nordirischen Geschichte bahnt sich ein Patt zwischen pro-britischen und pro-irischen Kräften an. Wohl ein Graus für die alte Führung. Deren Vorfahren manipulierten 1896 die Wahlkreise im damaligen Londonderry, um der pro-britischen Elite den Wahlsieg zu garantieren. 1922, nach der „Angliederung“ Nord-Irlands an Großbritannien, fand eine weitere Wahlkreismanipulation statt, kombiniert mit der Einführung des britischen Mehrheitswahlrechts. „Wir haben das County so aufgeteilt, wie wir es für das beste hielten“, kommentierten 1923 die Unionisten. Das Patt funktioniert. Bei den britischen Parlamentswahlen im Juni 2017 gingen die DUP im pro-britischen Lager mit 36% der Stimmen und 10 Sitzen sowie Sinn Féin im irischen Lager mit 29,4% und sieben Sitzen als Gewinner hervor.
Eine neue EU-Außengrenze
Der Westen, der Süden und die Hauptstadt Belfast gingen an Sinn Fein, der stärker besiedelte Nord-Osten an die DUP. Die Bewohner der westlichen und südlichen Landesteile fürchten wegen des Brexits eine drohende neue innerirische Grenze, die als EU-Außengrenze die irische Insel wieder teilrn würde Für Sinn Fein und ihre Wähler ist der Brexit eine Chance, ein vereinigtes Irland auf die Tagesordnung zu setzen. Sinn Féin fordert einen Sonderstatus Nordirlands innerhalb der EU, um eine innerirische EU-Außengrenze zu verhindern.
Die pro-irischen Wähler lehnten geschlossen den Brexit ab, offensichtlich aber auch Teile der pro-britischen Bevölkerung. Der Brexit in Nordirland bedroht beispielsweise auch die Existenz der mehrheitlich pro-britischen Farmer an der Ostküste Nordirland, die EU Subventionen und den Handel mit der Republik Irland benötigen. Die britische Regierung hat bereits wissen lassen, dass sie für verloren gegangenen EU-Subventionen an Nordirland nicht aufkommen wird. Die Brexit-Regierung in London teilte den Nordiren auch noch mit, dass deren Forderung nach Mitsprache bei den Brexit-Verhandlungen unerwünscht ist.
Die Regionalwahlen im März 2017 machten deutlich, dass es nur mehr eine Frage der Zeit ist, bis es zu einer pro-irischen Mehrheit kommt. Sie hätte Konsequenzen. Denn im Friedensvertrag ist festgelegt, dass die britische Regierung in Nordirland ein Referendum zum Austritt aus Großbritannien zulassen muss, wenn es die Mehrheit der nordirischen Bevölkerung wünscht.