Heute hat die Bundeskanzlerin zu recht an die Reichspogrom-Nacht erinnert. Von der Maueröffnung war keine Rede. Bei der Jubiläumsfeier letztes Jahr hatte der evangelische Posaunenchor das Lied von Einigkeit und Recht und Freiheit nicht drauf. Der 9. November ist mehr als Judenmord und Freiheitsbewegung. Heute, wenn das Parlament mit einfacher Mehrheit die Bürgerrechte aus vermeintlichen Seuchengründen kassiert, denkt man sich, eine Erinnerung an den deutschen Schicksalstag sollte mehrdimensial gefeiert werden und nicht von einem Medienstatement Merkels abgefertigt werden. Ein Text, den ich im letzten Jahr verfasste, ist von unveränderter Gültigkeit. Hier ist er:
Seit 1918 kristallisiert sich an diesem Tag in der deutschen Geschichte immer wieder die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Kollektivismus, zwischen Rechtsstaat und Diktatur, zwischen Freiheit und staatlichem Zwang heraus. Das ist in anderen Gesellschaften nicht anders, fällt aber bestimmt nur auf ein anderes Datum. Dass die Deutschen sich beim Erinnern nur auf 1989 konzentrieren, ist immer noch das Ergebnis des mangelnden Selbst- und Geschichtsbewusstseins seiner Eliten.
1918
Die Zustände auf den Straßen kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Es herrschte die Novemberrevolution, und Gesinnungsfragen zwischen Anhängern des Kaisers und Kommunisten wurden mit Waffengewalt im Straßenkampf ausgetragen. Reichskanzler Prinz Max von Baden verkündete eigenmächtig die von seinem Sekretär, dem konvertierten, anglophilen Juden Kurt Hahn entworfene Abdankungserklärung des Deutschen Kaisers. Eine jahrtausendealte Geschichte der Monarchie fand ihr Ende. Der Sozialdemokrat Friedrich Ebert wurde vom vaterlandslosen Gesellen zum Reichspräsidenten.
Vom Balkon des Reichstagsgebäudes verkündete der Sozialdemokrat Phillip Scheidemann die deutsche Republik und kam so dem Kommunisten Karl Liebknecht zwei Stunden zuvor, der vom Balkon des Berliner Stadtschlosses die deutsche Räterepublik verkündete. 1919 ließen die Sieger des Ersten Weltkriegs der ersten Republik mit dem Frieden von Versailles und der einseitigen Zuweisung der Kriegsschuld an Deutschland keine Chance. Die erzwungenden Reperationen verhinderten einen Wiederaufbau. Die erste deutsche Demokratie war so zum Scheitern verurteilt.
Zur Beratung und Beschluss der Verfassung zog man sich nach Weimar zurück, weil in Berlin weiterhin zwischen Stahlhelm und Rotbund der Straßenkampf tobte, bis bald auch die SA in den Bürgerkrieg eingriff. Später würde man feststellen, dass die Kraft der Ordnungsmacht nur dazu ausreichte, Rotbund oder SA zu verbieten. Die Weimarer Verfassung ist nicht an sich selbst gescheitert, sondern an den Verhältnissen und einer Elite, die selbst an die Vorzüge der Republik nicht glaubte. Auch das Grundgesetz hätte Weimar nicht gerettet.
1923
Am 9. November wurde von der bayerischen Staatspolizei vor der Münchner Feldherrnhalle der Hitler-Ludendorff-Putsch niedergeschlagen.
Nach dem Abbruch des “Ruhrkampfes” gegen die Besetzung durch Frankreich verhängte die Reichsregierung den Ausnahmezustand über die bayerische Räterepublik und setzte den früheren Ministerpräsidenten von Kahr als “Generalstaatskommisar“ ein. Bayern hatte sich vom Reich lossagen wollen.
Der verhielt sich jedoch nicht botmäßig und scharte die rechten Kräfte um sich. Adolf Hitler, der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands plante einen Marsch auf Berlin nach dem Vorbild Mussolinis.
Zu den Erfolgsaussichten trug scheinbar bei, dass das Politbüro der KPdSU und die kommunistische Internationale den Aufstand der KPD in Deutschland beschlossen hatten und es im “deutschen Oktober” mit den “Proletarischen Hundertschaften” zum Putsch kommen sollte.
Der Putsch des 8. Novembers wurde nicht nur durch die Nationalsozialisten, sondern auch andere rechtsradikale Kräfte, als deren Gallionsfigur der Weltkriegsgeneral Erich Ludendorff diente, unternommen.
Rund 2.000 Menschen marschierten über die Münchner Ludwigstraße auf die Feldherrnhalle zu, die bayerische Polizei geriet mit den teilweise bewaffneten Putschisten in ein Feuergefecht. Der lange Marsch auf Berlin von Hitler und Ludendorff, der im Bürgerbräukeller begonnen hatte, endete an der Feldherrnhalle. 20 Menschen starben. Die NSDAP wurde verboten, Hitler zur Festungshaft verurteilt. In Landsberg verfasste er wohl “Mein Kampf”.
1938
Der 9. November war nur der Höhepunkt der mehrere Tage andauernden Pogrome, bei denen ungefähr 800 jüdische Mitbürger ermordet, 1.400 Synagogen, jüdische Betstuben und sonstige Versammlungsräume zerstört und jüdische Friedhöfe geschändet und verwüstet wurden. Tausende Geschäfte, die Juden gehörten, und ihre Wohnhäuser und Wohnungen wurden verwüstet. Tragende Kräfte waren die bewaffneten Paramilitärs von SA und SS, man könnte auch uniformierte Brandschatzer und Schlägertrupps sagen. Die Bevölkerung zeigte sich wenig angetan, es zeigte sich aber auch keine Zivilcourage.
Die Kritik Görings an Goebbels, dem die “politische Verantwortung” zugeschrieben wurde, richtete sich nicht gegen dessen Antisemitismus, sondern dagegen, dass gegenüber der Bevölkerung die ungezügelte Gewalt zutage trat. Diejenigen, die die “Reichskristallnacht” betrieben haben, sollen enttäuscht darüber gewesen sein, dass die Unterstützung der Bevölkerung nicht so breit war wie erwartet.
Anders als noch 1923 wurde hier offenbar, dass der Faschismus gesiegt hatte und an die Stelle des staatlichen Gewaltmonopols die Willkür der Diktatur, die über Teile Deutschlands bis 1989 herrschen sollte, getreten war.
Diese Bemerkung stößt auf, weil die Diktatur der DDR doch ungleich weniger grausam war als das Dritte Reich. Aber willkürlich und grausam war sich auch. Errichtet wurde sie von Josef Stalin, einem der größten Völkermörder der Geschichte.
1969
Die jüdische Gemeinde Berlins gedachte der Shoa und der Reichspogromnacht am 9. November. Das Gemeindehaus an der Fasanenstraße war mit rund 250 Gemeindemitgliedern und den Spitzen der Gemeinde vollbesetzt, unter ihnen natürlich viele Überlebende des Holocaust.
Die “Tupamaros” hatten in einem Mantel in der Garderobe eine Bombe versteckt, die viele Tote und Verletzte verursacht hätte. Der Initiator Dieter Kunzelmann sagte dem Bombenbauer Abi Fichter: Man wolle ein kleines Feuerwerk unter den Zionisten veranstalten. Weil ein V-Mann des Verfassungsschutzes seine Hände im Spiel gehabt haben sollte, wird vermutet, dass der den Bau der Bombe sabotiert hatte. Andere sprechen von einem verrosteten Draht, der die Zündung verhindert hätte. Das wäre dann nur ein glücklicher Zufall. Wegen des Attentatsversuchs kam es zu keinem Prozess und keiner Verurteilung.
Die Attentäter waren keine Rechtsradikalen. Kunzelmann war einer der ersten “Bewohner” der Kommune 1, einer der Keimzellen der 68er-Bewegung. Heute tritt manchmal noch Rainer Langhans mit den Legenden vom freien Sex in Talk-Shows auf, vermutlich verdient er sich was zur Rente dazu. Schon 1967 hing in der Kommune für die Besucher ein Schild “Erst blechen, dann sprechen“.
Ob Kunzelmann sich damals gerade schon in einem palästinensischen Camp der heute als gemäßigt geltenden Fatah in Jordanien im praktischen Terrorismus unterweisen ließ oder schon wieder im Berliner Untergrund agierte, ist nicht überliefert.
Man stelle sich nur mal vor, das Attentat vom 9. November 1969 der linksradikalen Terroristen wäre gelungen und Opfer des Holocaust wären ein zweites Mal zu schaden gekommen und getötet worden. Kunzelmann und Konsorten wollten später ihren feigen Mordversuch nicht mit Antisemitismus begründet sehen, sondern mit “Antizionismus” und mit Solidarität mit dem palästinensischen Terror auch in München und der “Landshut”. 1976 in Entebbe war es ein deutscher Terrorist, der die Juden selektierte und die mitfliegenden nichtjüdischen Passagiere der Air France Maschine nach Hause schickte.
Kunzelmann wurde Teil des Establishments und Abgeordneter der Berliner Alternativen Liste von 1983–85, die mit den Grünen assoziiert waren und zumindest als der Rechtsvorgänger der heutigen Berliner Regierungspartei gelten können. Später fristete er sein Dasein als Angestellter des Berliner Rechtsanwalts Hans-Christian Ströbele, der 1990/91 als Bundessprecher der Bündnis90/Grünen agierte und bis zum Ende der letzten Legislaturperiode im Bundestag saß. Zweimal errang er in Kreuzberg ein Direktmandat.
Anders als Kunzelmann, der später nur für Eierwürfe immerhin Haftstrafen kassierte und einsitzen musste, wurde Ströbele 1980 zu 18 Monaten auf Bewährung verurteilt, weil er als Anwalt ein illegales Informationssystem zwischen den verurteilten und inhaftierten Terroristen der Roten Armee Fraktion und natürlich den Sympathisanten unterhielt.
1989
Am 9. November implodierte der Repressionsapparat der DDR. Was kaum erinnert wird: Unter dem Vorsitz von Egon Krenz tagte zeitgleich das Zentralkomitee der SED. Er hatte bei dem Chef der DDR-Plankommission Gerhard Schürer eine 22-seitige Analyse der wirtschaftlichen Lage in Auftrag gegeben, die sich in vier Worten zusammenfassen lässt: Die DDR war pleite. Sie hatte rund 50 Milliarden DM Auslandsschulden und war zahlungsunfähig, die Produktivität lag bei etwa einem Viertel der Bundesrepublik. ZK-Mitglied Günter Ehrensperger fasste die Erkenntnisse zusammen. “Mindestens seit 1973 haben wir trotzdem über unsere Verhältnisse gelebt. Alte Schulden wurden mit neuen Schulden bezahlt.” Tatsächlich reichte das Volkseinkommen nicht mal für die Begleichung der Zinsen. Während den höchsten DDR-Funktionären erzählt wurde, was sie schon wussten, implodierte ihre Staatsmacht an der Bornholmer Straße in Berlin. Auf sich gestellt, öffnete ein einziger Stasi-Offizier den Schlagbaum und brachte so den Rest zum Einsturz.
Vorher waren immer mehr DDR-Bürger auf die Straße gegangen und hatten die idealistischen Bürgerrechtler, denen ein reformierter Sozialismus vorschwebte, in die Minderheit gedrängt. Denen ging es weniger um Frieden und Freiheit als um freies Reisen und Farbfernseher. Um materielle Lebensqualität, so wie sie sie im westdeutschen Werbefernsehen jeden Abend besichtigen konnten. Das Schürer-Papier kannten sie nicht. Aber sie hatten unter den Folgen der Zwangswirtschaft zu leiden wie alle Osteuropäer, die unter der Besetzung und Unterdrückung der Sowjetunion zu leiden hatten. Die war nur mittlerweile so marode, dass sie sich den Sprit für die Panzer nicht mehr leisten konnte, um von Berlin-Karlshorst bis zum Brandenburger Tor zu fahren. Gorbatschow nahm schlicht eine Frontbegradigung vor, um wenigstens in Moskau seine Macht zu retten. Was ihm misslang.
2019
Bei der offiziellen Gedenkfeier an der Bornholmer Straße kommt man ohne Abspielen und Singen der Nationalhymne aus. Der angeheuerte evangelische Posaunenchor hatte sie wohl nicht im Repertoire. Und zumindest in der offiziellen “Gedenkfeier” fehlt auch das Symbol des Staates, gegen den die Mauer errichtet wurde und wegen dem so viele an der Mauer starben und ihr Leben riskierten. Die deutsche Fahne weht nicht, die für siebzig Jahre Frieden in Freiheit steht. Soviel Respekt hätten die Toten der Mauer wohl verdient gehabt. Wenigstens hatten die evangelischen Blechbläser keine Blockflöten.
Statt die Opfer mit den selbstverständlichen Symbolen des Staates zu ehren, in den sie aus der sozialistischen Diktatur fliehen wollten, ist auch in der großen Jubiläumsshow vor dem Brandenburger Tor nationalen Symbolen nichts zu sehen – nur kurz kommt mal eine Bundesflagge auf dem Reichstag im Hintergrund ins Bild, während die belanglose ZDF-Pädagogik-Show mit dem Charme des ”Telekolleg” so vor sich hin dämmert.
Wir erinnern uns: Als 1989 den deutschen Bundestag während einer Sitzung am späten Abend die Kunde erreichte, dass die Mauer unter dem Ansturm der DDR-Bürger implodiert war, standen die Abgeordneten im Wasserwerk spontan auf und intonierten voller Inbrunst das Deutschlandlied: “Einigkeit und Recht und Freiheit”. Und als Helmut Kohl bei seinem Besuch in Dresden Anfang Dezember 1989 vor der Ruine und dem Schutthaufen der Frauenkirche sprach, tat er dies vor einem Meer deutscher Flaggen, aus vielen war das DDR-Symbol von Hammer und Sichel einfach herausgeschnitten worden. Man kann selbstbewußt stolz auf seine Heimat und sein Land sein, wenn man sich zu den Verwerfungen der Geschichte genauso bekennt wie zum Erfolg, 70 Jahre in Freiheit und Wohlstand in einer solidarischen Gemeinschaft zu leben. Nur das Eingeständnis des Irrtums der Eltern und Vorfahren bewahrt vor Wiederholung.
Die Kluft zwischen der deutschen Intelligenzia, die Schwarz-Rot-Gold allenfalls in Fußballstadien duldet und sonst bestenfalls als Zeichen des Revanchismus sieht, und den Bürgern, die einen selbstbewussten Patriotismus pflegen, ist an diesem Tag wieder unübersehbar. Gleichzeitig wird die Reichsprogromnacht für den “Kampf gegen Rechts” instrumentalisiert, und man ignoriert, dass der Judenhass (Ich empfinde Antisemitismus als verniedlichend) auch in der Linken ein weit verbreitetes Phänomen war und ist. Antisemitismus und Totalitarismus sind wohl zwei Seiten einer Medaille. Im Grunde sind die ideologischen Unterschiede zwischen den Rechts- und Linksextremen so gering, dass sie nicht argumentieren, sondern prügeln müssen, damit ihren jeweiligen Anhängern das nicht so auffällt.
Freiheit scheint ein seltenes Gut zu sein, das man nur dann wahrnimmt, wenn sie fehlt. In Deutschland ist längst der Kollektivismus wieder auf dem Vormarsch. Der Bürger hat sich einem hehren Ziel zu unterwerfen. Niemand Geringeres hat die Fiktion vom freiheitlichen Rechtstaat so zerstört wie die Bundeskanzlerin: “Wir schaffen das”. Wir, das ist das nationale Kollektiv. Jeder hat hier seine individuellen Wünsche und Bedürfnisse zugunsten dem gemeinsamen höheren Ziel zurückzuziehen, an der Stelle, an die er gestellt wurde. Das war unter Merkel erst der Euro (“Scheitert der Euro, dann scheitert Europa”), dann die Flüchtlingsfrage und heute ist es die Rettung der Welt vor der Klimakatastrophe, die uns allen Verzicht und Disziplin abverlangt. Die neuen Kollektivisten achten darauf, dass das noch nicht mit einem zu hohen Wohlfahrtsverlust einhergeht. Wer weiß schon, wie das Zahlungssystem der EZB funktioniert, für die Versorgung der Schutzsuchenden wird ein milliardenschwerer Schattenhaushalt eingerichtet und die CO2-Steuer wird so dosiert, dass man noch nicht zu sehr darunter leidet. So wie die Erhöhung der Flugticket-Steuer dazu führt, dass die Kinder auf Malle zwei Colas weniger trinken. Merkel macht das, was die Bürgerrechtler 1989 wollten: eine bessere DDR. Die war ja damals nur schlecht gemacht.
Doch auf den Straßen marschiert die Linke längst. Und viele, die mitmarschieren, ahnen nicht, was Rackete und Neubauer von ihren Ghostwritern zwischen die Buchdeckel gepinnt bekommen haben: die Abschaffung des freiheitlichen Rechtsstaates und der sozialen Marktwirtschaft zulasten einer Zwangswirtschaft, deren Neomarxismus in seiner Radikalität an Pol Pot oder die Taliban erinnert: Der Mensch wird der Rettung der Welt geopfert.