Die Russen überfallen Kaukasusvölker wie vor 100 Jahren, die Chinesen prahlen chauvinistisch wie zu Kaisers Zeiten, die Amerikaner denken so national als seien sie allein auf der Welt. Eben noch dachte man, dass im 21. Jahrhundert alle Kosmopoliten werden. Doch jetzt passiert das Gegenteil: Der Neo-Nationalismus ist da. Die Weltpolitik dieser Tage verhält sich wie im 19. Jahrhundert, es geht wieder um Stolz und Grenzen und Kanonenboote, der Zeitgeist steckt plötzlich in Landesfahnen als wäre das 20. Jahrhundert und seine Tragödien und seinem Aufbruch in die Globalisierung nicht gewesen…
Die Russen entdecken sogar die zaristische Großmacht als Figur des Stolzes neu – zum Schrecken ganz Europas. Denn die Glieder dieser Traditionskette rasseln kalt. Georgien wird zur Blaupause für Konflikte im Baltikum, in der Ukraine und Moldawien, aber auch in Zentralasien. Denn Russland testet gerade die Möglichkeiten des Neo-Nationalismus aus. Wie weit kann man gehen? Gilt wieder das Recht der Stärkeren? Ist Europa ein Machtfaktor oder nur eine Business-Lounge?
Wenn die Welt Moskau im Kaukasus freie Hand lässt, dann wird sich die Ukraine vor Interventionen kaum erwehren können. Schon hört man aus dem russischen Parlament, es lebten mehr als 50 Millionen Russen „außerhalb der jetzigen Grenzen“. Sie „heimzuholen“ wird zur Legitimations-Metapher der neo-nationalistischen Expansion. Wie weiland im alten Bismarck-Europa verheißt der Sublimations-Nationalismus nichts Gutes. Kosovo und Georgien drohen zu ersten Dominosteinen einer Kettenreaktion von Nationalkriegen zu werden. Die Idee der Europäischen Union steht auf dem Spiel, die Idee nämlich, dass Recht gelten soll und nicht Macht.
Europa wird der neo-nationalistischen Neuordnung freilich wenig entgegen setzen. Die großen Staaten, allen voran Deutschland, haben überhaupt kein Interesse an ernsten Konflikten oder gar Kriegen mit Russland. Zugleich hat man auf dem Balkan Fehler gemacht, indem dort unter Europas Ägide ein neo-nationalistischer Flickenteppich von Staaten entstanden ist, der niemanden sicheren Stand gewährt. Die Anerkennung Kosovos als eigenständiger Staat erweist sich rückblickend als Fehler. Denn Russland verweist mit gutem Recht auf just diesen Fall, wenn es mit dem Argument der Selbstbestimmung von Völkern nun andere Staaten an seiner Grenzen zerlegt und destabilisiert.
Schon in der ersten Phase des Nationalismus fiel Nietzsche auf, dass die Europäer „nur in ihren schwachen Stunden Patrioten wurden“. Der alte wie der neue Nationalismus ist nicht nur ein Zeichen von Minderwertigkeitskomplexen mancher Staaten. Er funktioniert ganz offenbar als Stabilisator von modernisierungsbeschleunigten, also instabilen Ländern. Je schneller sich einzelne Staaten der Modernisierung öffnen, desto nationalistischer treten sie auf, um ihre eigene Unsicherheit zu kaschieren. Der Patriotismus fungiert offensichtlich als Kitt, der aufbrechende Gesellschaften zusammenhalten kann. Vor allem Gesellschaften, die sich von ihrer eigenen Geschichte bewusst oder unbewusst abschneiden.
Darum erleben wir derzeit in Osteuropa, in Russland und China nicht nur einen neo-nationalistischen Furor sondern auch ein Fanal des Vergessens. Beim Hineinstürmen in die Moderne gilt dort die Erinnerung an die Tragödie der kommunistischen Diktaturen nur als lästig, als Störfaktor ihrer neuen Erfolgsstory. Als hätten die Völker zwischen Warschau und Wladiwostok, von Prag bis Peking ihre Rendezvous mit dem Schicksal, so suchen sie ein Morgen ohne Gestern.
Man bekommt zuweilen sogar den Eindruck, dass die Gesellschaften des Ostens gerade wegen ihrer manischen Fixierung auf die Zukunft besondere Dynamik entfalten. Bloß kein zögernder Blick zurück im Zorn. Historische Selbstzweifel gelten dort als Bremsklötze einer rasenden Fahrt raus aus dem Dunkel-Tunnel der Vergangenheit; also werden sie beseitigt: Putin lässt in Russland die letzten Überreste der Gulag-Lager schleifen, Tschechien will von Vertreibungen nichts hören, China feiert den Massenmörder Mao ungerührt als omnipräsenten Vater einer Nation, die längst in den Hyperkapitalismus aufgebrochen ist. Marschiert es sich leichter ohne das schwere Gepäck moralischer Revision? Sind die schuldbewussten Kulturen am Ende immer die schwächeren?
Kurzfristig vielleicht. Wir Deutschen hatten auch unsere Phase verklemmter Symbiose von Wirtschaftswunder und historischer Verdrängung. Irgendwann kam sie dann, die Erinnerung an die Schuld und mit ihr die quälende, aber notwendige Befreiung durch historische Selbstkritik. So wird wohl auch im Osten bald die Geschichte zurückkehren. Eines Tages wird eine neue Generation die Eltern fragen, was in den Gulags wirklich passierte, wieso man Mao feiert statt ihn zu verachten und wo denn die Deutschen geblieben sind, die in Breslau und Brünn lebten. Dann wird man den Vorwärtsdrang als Flucht vor sich selbst erkennen. Und den Riss in der historischen Kette spüren, weil an ihr eben auch jene älteren Glieder von Güte und Gutem hängen.
Es ist wie in dem alten Gedankenspiel, man bekäme einmal über Nacht jede ethische Erinnerung gelöscht. Wunderbar, einerseits. Aller Ärger wäre verflogen, alle Dämonen des Bewussten und Unterbewussten verschwänden, das getane und erlittene Böse – ausradiert. Und andererseits auch schrecklich. Denn mit der Kette der Erinnerung risse auch die Geborgenheit im Guten. Charles Dickens hat diese Ambivalenz in einer Geschichte von einem Mann verdichtet, der sein Leid nicht mehr ertragen mochte, die Erinnerung getilgt bekam und schließlich als herz- und hoffnungsloses Geschöpf endete. Denn Erinnerung ist nicht bloß das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann (Jean Paul). Die Kette der Erinnerung von Güte und Gutem hält immer auch den Anker jeder Hoffnung. Papst Benedikt spricht in diesem Zusammenhang vom existenziellen „Gedächtnis des Herzens“, das die Menschen und Gesellschaften im Kern trage.
Gerade darum wird Europa, das so oft so tantig wirkt, jetzt mehr gebraucht denn je. Denn dieses Europa hat seine nationalistischen Blutbäder schon hinter sich - und doch Wege zur Versöhnung gefunden. Wer heute nach dem Sinn der Europäischen Union fragt, der sollte nicht nur in sein eurobestücktes Portemonnaie schauen, sondern auch auf die Kriegsgräber Verduns.
Europa hat ein Gedächtnis des Herzens, die Demut und Reue entwickelt. Reue ist zwar immer Verstand, der zu spät kommt. Aber doch Verstand. In ihren großen Stunden besinnen sich die Europäer daher auf ihre kulturelle Gemeinsamkeit, auf diese großartige Symbiose von Sokratischem und Christlichem, von Zweifel und Glauben, von kultureller Vielfalt und ideeler Einheit. Sie wissen um die Verletzlichkeit des Miteinanders und darum, dass Nationalismus zu jung und zu eng ist, um ihre Kultur zu sein. Die Idee Europas zivilisiert seine Völker durch die Rückvergewisserung auf das geteilte Erbe ganz im Sinne Marcel Prousts: „Gemeinsame Erinnerungen sind die besten Friedensstifter.“