Der Narzisst als Opfer

Heute tendieren viele dazu, sich bei einer Debatte oder Diskussion relativ schnell angegriffen oder verletzt zu fühlen. Statt Argumente zu widerlegen und Denkarbeit zu leisten, geht man dann in die Opferrolle und klagt an. Statt aufzuzeigen, warum gewisse Ideen schlecht sind, zeigt man lieber auf, warum gewisse Menschen schlecht sind. Schlechte Menschen: das sind Täter. Gute Menschen: das sind Opfer. 

Auch in der öffentlichen Diskussion zeigen sich Politiker oder Aktivisten öfters verletzt. Sie inszenieren sich als Stimme von Opfern der Gesellschaft, um sich selber mit moralischer Überlegenheit auszustatten. Es ist dann natürlich wichtig, den politischen Gegner gezielt zu missverstehen und ihm zum Beispiel rassistische, sexistische oder rechtsradikale Aussagen zu unterstellen, die er nie gemacht hat, und böse Absichten, die auf einen bösen Charakter hinweisen.

Es gehört zum moralischen Überlegenheits-Wahn, dem Publikum einen möglichst bösen Täter zu präsentieren, um im Vergleich dazu selber möglichst gut dazustehen. Ein Verhaltensmuster, das man „Opfer-Narzissmus“ nennen könnte. Es geht um Selbstgerechtigkeit, um ein übertrieben unschuldiges Selbstbild auf Kosten des Täters. Der Opfer-Narzisst sagt im Grunde: „Behandelt mich gut und verurteilt den Täter. Betrachtet alle meine Ansprüche als legitim, denn ich bin das Opfer.“

Zahlreiche Gruppen entdecken für sich den Opferstatus und erwecken den Eindruck, die Gesellschaft produziere immer mehr Unterdrückte. Das nehmen die Medien dann auf: Arme als Opfer von Reichen, Frauen als Opfer von Männern, Nicht-Weiße als Opfer von Weißen, Nicht-Heterosexuelle als Opfer von Heterosexuellen. Wenn das so weitergeht und sich der Opferstatus überall durchsetzt, werden auch reiche, weiße, männliche Heterosexuelle eines Tages als Opfer dastehen wollen. Als Opfer derer, die sie als Täter brandmarken. Dann wird man verzweifelt nach neuen, noch unentdeckten Tätern suchen, aber man wird keine mehr finden. Und vielleicht wird man endlich wieder erkennen, dass die Annahme der eigenen Unschuld weder das Herz noch die Gesellschaft besser macht. Wie es schon die jüdische Weisheit aus dem babylonischen Talmud (6. Jahrhundert) gelehrt hat: „Der Mensch soll sich zur Hälfte für unschuldig halten und zur Hälfte für schuldig.“

 

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. Sein neuer Roman „Der letzte Feind“ ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. 

Foto: www.giuseppe-gracia.com

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Leserpost

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Frances Johnson / 19.10.2020

Ja absolut, der Mensch ist ein Zebra, immer bösegut in unterschiedlichen Schattierungen, Und Papst Benedikt war zweifellos ein Opfer.

Jörg Themlitz / 19.10.2020

@Ricardo Sanchis; Sehr geehrter Herr Sanchis, ich treibe mich nicht auf Schulhöfen herum und kann mir dazu aus eigenem Erleben keine fundierte Meinung, die Sie mir unterstellen, bilden. Darum geht es in dem obigen Artikel überhaupt nicht. Es geht um Opfer Inszenierung. Inszenierungen ähnlich z. B. Hubert L`Hoste bei den internationalen Sozialisten, Herbert Norkus bei den nationalen Sozialisten und oh Schreck bei uns jetzt auch, Greta bei den grünen Sozialisten.  Da Sie explizit Juden und Schwule erwähnen. Die Juden und Schwule aus meinem bisherigen Gesprächs-, Geschäfts- und Bekanntenkreis waren alles Menschen die mit mehr oder weniger Erfolg, meist mehr Erfolg als ich, im Leben standen / stehen. Die kamen / kommen nicht mal ansatzweise auf die Idee, sich als Opfer zu sehen. Außer als Opfer vom Finanzamt.

Hjalmar Kreutzer / 19.10.2020

Kennt jemand einen männlichen Gleichstellungsbeauftragten?

Ricardo Sanchis / 19.10.2020

@JörgThemlitz “In meiner täglichen Wahrnehmung ist Opfer eindeutig negativ konnotiert. “ Solche Äußerung wie sie sie meinen, kenne ich zu Genüge: Du Opfer Du, Du Jude, du schwule Sau….. Was sie meinen ist das dumme rumgelalle von hirntoten Spakken und Tätern auf dem Schulhof. Solchen Tätern würde ich nur ungern die Definitionshoheit überlassen und das sollten sie auch nicht.

Christa Born / 19.10.2020

Die ältlichen weissen Frauen und Männer der Opferfindungspartei OFP (früher SPD) sind schon Opfer ihrer Opferfindungsbemühungen. Leider werden sie aber die 5% Hürde wohl doch noch mal überspringen.

Jörg Themlitz / 19.10.2020

Auch hier gehen die Medien Wirklichkeit und die wirkliche Wirklichkeit völlig auseinander. In meiner täglichen Wahrnehmung ist Opfer eindeutig negativ konnotiert. Mit “Du Opfer, Ihr Opfer” werden “Verlierer” benannt, die selbst dran schuld sind. Meist aus Arroganz, Selbstüberschätzung, Überheblichkeit und Dummheit. Oder wie der Dichter schreibt: “Oft vereint sind im Gemüte, Dämlichkeit und Herzensgüte” W. Busch

Volker Kleinophorst / 19.10.2020

Was zur Opferrolle unbedingt dazu gehört: Niemals, aber auch wirklich niemals sachlich, faktenbasiert diskutieren. Warum wohl? Wer keine Argumente hat, kann nur Haltung im Geschreimantel. Und dann fix wieder in die Täterrolle, denn Narziss Opfer sind keine Opfer. “Freie Rede ist eine gefährliche westliche Ideologie, von Faschisten erfunden, um Hass zu verbreiten.” (Titania McGrath, US-Satire-Account auf Twitter. War schon gesperrt, also gut.)

Karl Eduard / 19.10.2020

Weiße, männliche Heterosexuelle werden nie Opfer sein können, außer sie machen sich zu Frauen, Nichtweißen oder zu Angehörigen einer verfolgten Gruppe. Und ich möchte höflich daran erinnern, wie das Ganze begonnen hat. Nämlich mit dem Deklarieren eines ganz bestimmten Opferstatus. Das war der Dammbruch. Mit dem Beschwören eines in der Menschheitsgeschichte singulären Ereignisses, das so singulär genannt wurde, daß sich daraus prächtig Kapital schlagen ließ. Und wenn es nur öffentliche Aufmerksamkeit war. Was waren die Mongolenstürme über Asien, Indien und Europa? Erdnüsse! Was die Beutezüge der Azteken um Menschenopfer? Erdnüsse! Was die 2 Millionen Kambodschaner, die Pol Pot erschlagen ließ? Pillepalle. Die zig Millionen Chinesen unter den Kommunisten? Die in sowjetischen GULAGs Verhungerten, die vom NKWD Erschossenen, die 20 Millionen Toten des Krieges den die Sowjetunion zur Verteidigung führte. Nichts. Jedenfalls nicht singulär. Früher wurden solche Ereignisse als historische Ereignisse betrachtet, die es objektiv zu betrachten galt. Kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, aus Leid und Tod anderen Völkern eine immerwährende Schuld und Scham aufzubürden, weil die gegenwärtige Generation eine andere ist als die der Väter, Großväter und Urgroßväter. Man kann kein normales Verhältnis zu Menschen aufbauen, wenn man sie Töchter und Söhne von Mördern nennt und in Sippenhaft nimmt. Und die so Gescholtenen werden nie ein normales Verhältnis zu jenen aufbauen, weil man die, die einen so nennen, nie mit freundschaftlichen Gefühlen bedenken kann, außer, man verstellt sich. Oder man nimmt einen Opferstatus an, um Gleichheit herzustellen. So lange es lukrativ ist, Opfer zu sein, wird sich daran auch nichts ändern.

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