Der Name der Juden (1): Gott sei Dank

„Judas, geh nach Hause!“, brüllten aufgebrachte IG-Metaller in Bochum am 1. Mai 2003 den damaligen SPD-Generalsekretär Franz Müntefering nieder, als dieser die Arbeitsmarktreformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder verteidigen wollte. In den Wettbewerb stieg 2017 auch die damalige FDP-Generalsekretärin Nicola Beer ein. In ihrer Dieselskandal-Wut nannte sie den VW-Vorstandsvorsitzenden „Diesel-Judas“. (1) „Judas“, das ist im (sich immer noch christlich nennenden) „Abendland“ eben die Negativfigur, der Verräter schlechthin – als Einzelperson.

„Judas“ als Kollektiv – das waren natürlich „die Juden“. Diese wollte 70 Jahre zuvor die nationalsozialistisch manipulierte Vox Populi Germaniae nicht nur nach Hause schicken, sondern „verrecken“ lassen. Das geschah bald darauf sechsmillionenfach. Ob Einzelperson oder Kollektiv – Missgunst, Hass oder Gefahr ist in Sicht, wenn der „Judas“-Fluch ertönt.

Juden nennen sich auch „Israeliten“. Das ist verständlich. Dass sich die Juden „Juden“ nennen, ist eher seltsam, wenn man die religiöse Legitimationsgrundlage der Juden betrachtet, die Hebräische Bibel. „Abrahamiten“ könnten sich die Juden ebenfalls nennen, denn ihr erster Stammvater war Abraham, Israel beziehungsweise Jakob nur der dritte. Abrahams Nachwuchs-„Schar“ war allerdings einzig beziehungsweise winzig. Abraham und Sara hatten bekanntlich nur einen Sohn, Isaak. Für den Stammvater einer Stammesgemeinschaft deutlich zu wenig. Das gilt auch für Isaak, den Vater von Esau, dem erstgeborenen Zwilling, der sein Erstgeburtsrecht dem zweitgeborenen Bruder, Jakob, verkaufte.

Für einen namensstiftenden Stammvater war der biblische Isaak zu blass und ungeprägt. Ganz anders Jakob, später „Israel“ genannt, der „Gottesstreiter“: Er war eine Mischung aus Feinfühligkeit, Schlitzohrigkeit und Kraftfülle, anders als sein Bruder Esau, nicht nur Kraftprotz, sondern auch geistig kraftvoll sowie – entscheidend – gottesfürchtig. Mit Ausnahme seines Bruders fürchtete er keinen Menschen, und sogar den Kampf mit Gott oder dessen Engel nahm er auf. Juda war einer der zwölf Söhne Jakobs; nicht einmal der erstgeborene. Das war Ruben. Juda, hebräisch „Jehuda“, war Jakobs vierter Sohn. Seine Mutter war nicht die von Jakob heißgeliebte Rachel, sondern Lea, Jakobs zweite Wahl, die er wegen der List seines hinterhältigen Schwiegervaters Laban zuerst heiraten musste. Genesis 29,35: „Abermals wurde sie schwanger und gebar einen Sohn. Da sagte sie: Diesmal will ich dem Herrn danken. Darum nannte sie ihn Juda (Dank). Dann bekam sie keine Kinder mehr“, heißt es in der Einheitsübersetzung. (2) Wie so oft übersetzt die Einheitsübersetzung nicht ganz richtig, denn „Dank“ heißt auf Hebräisch „Toda“. Für „Gott“ steht in diesem Text das Tetragramm JHWH, also „Jehova“. Aus Jehova plus den „Wurzelbuchstaben“ des Wortes „Dank“ („Toda“) wird „Jehuda“. Ganz genau: Aus Leas Worten „Hapaam odeh et JHWH“ entsteht der Name „Jehuda“.

Aus der Nummer vier wurde die Nummer eins

Doch wie und warum wurde aus dem vierten Sohn der Frau zweiter Wahl der erste, der Hauptname „der Juden“? Wir schauen weiter in den Bibeltext und interpretieren danach.

Davor sei aber geschichtlich Bekanntes ins Gedächtnis zurückgerufen: Der Großteil der alttestamentlichen Texte wurde ungefähr zwischen 500 und 300 vor Christus verfasst. Sie basierten oft auf „älteren“ Überlieferungen. Zu diesen dürfte die Genealogie Jakobs gehört haben. Hier war Juda beziehungsweise Jehuda die Nummer vier. Von 721 bis 586 vor Christus gab es nicht mehr zwölf „jüdische“ Stämme in zwei „jüdischen“ Königreichen, „Israel“ und Judäa (plus Benjamin), sondern nur noch eines: Das Königreich Jehuda beziehungsweise „Judäa“. 586 vor Christus zerstörte Babylons König Nebukadnezar sowohl Judäa als auch den Ersten, Salomonischen Tempel. Das erste Exil folgte.

518 hatten die Perser und Kyros Babylon besiegt und den „Juden“ die Rückkehr nach „Zion“ erlaubt. Zion, das war ungefähr identisch mit Jerusalem und dem Rest des einstigen Königreiches Judäa. Seit 721 war also der Stamm des viertgeborenen Jakob-Sohnes Juda der einzig verbliebene der einstigen Zwölferschar. Auf dem Weg vom Mythos zur jüdischen Geschichte blieb von zwölf Söhnen und Stämmen nur noch einer, Jehuda. Dessen Bedeutung war im Mythos beziehungsweise der Bibel viertrangig. Seiner historischen Erstrangigkeit fehlte jedoch die biblisch, mythologische Legitimations- beziehungsweise Rechtfertigungsgrundlage. Dem geschichtlich entstandenen Gewicht wurde das biblische Narrativ (die biblische Erzählung) offensichtlich nachträglich angepasst, eben in der Zeit von (ungefähr) 500 bis 300 vor Christus. Und so wurde aus Jehuda, der biblischen Nummer vier, auch biblisch die Nummer eins. Textethisch und grundsätzlich gerechtfertigt wurde eine solche Umplatzierung und Umgewichtung durch die vorangestellte Geschichte von Esau und Jakob, in der die spätere Nummer eins, Jakob, zunächst die Nummer zwei war. Meister vergleichbarer Uminterpretationen und Umgewichtungen, teils auch Umwertungen, ohne Textveränderungen wurden – viel später allerdings – die talmudischen Weisen. In meinem Buch „Juden und Christen“ habe ich diesen Weg vom Alten Testament zum Talmud nachgezeichnet und beschrieben. (3)

Vom Mythos zur Geschichte

Der historische und daraus abgeleitete narrative Prozess der Juda-Monopolisierung der zwölf Stämme – nennen wir sie die „Judaisierung“ der Juden und des Judentums – dürfte sogar älter sein. Über die genaue Datierung mögen Alttestamentler und Althistoriker streiten. Hier begnügen wir uns mit dem Legitimationsweg vom Mythos zur Geschichte. Unser Schlüssel ist dabei die alttestamentliche Josefsgeschichte.

Josefs Brüder sahen „ihn von weitem. Bevor er jedoch nahe an sie herangekommen war, fassten sie den Plan, ihn umzubringen.“ (Gen 37,18). „Ruben hörte das und wollte ihn aus ihrer Hand retten.“ (Gen 37,21). Vorerst warfen sie Josef bekanntlich in die Zisterne. Zweifelsohne handelte bis hierher Ruben als Nummer eins. Dann die Wende in Genesis 37,26 f. Juda, die Nummer vier, wird Nummer eins: „Da schlug Juda seinen Brüdern vor: Was haben wir davon, wenn wir unseren Bruder erschlagen und sein Blut zudecken? Kommt, verkaufen wir ihn den Ismaelitern.“

Auch Thomas Mann hat, allerdings ohne realgeschichtliche Erwägungen sowie unendlich wortverliebter und -reicher als das alttestamentliche Original, in „Joseph und seine Brüder“ den faktischen Führungswechsel von Ruben auf Juda beschrieben. (4)

Nichts ist an den kanonisierten Bibeltexten Zufall. Ohne Sinn und Zweck kein Rangwechsel. Dessen Ursprung sollte historisch erklärt werden – im Sinne der „Judaisierung“ der jüdischen, sprich: jüdisch-fokussierten Geschichte.

Juda genießt das Monopol und wird zum Erstgeborenen

Von nun an wächst Judas Einfluss auf seine Brüder und den Vater. Wir übertragen das alttestamentliche Narrativ auf die historische Ebene: Das Königreich „Israel“ und die elf Stämme gibt es seit der Rückkehr nach Zion (518 vor Christus) nicht mehr, nur noch Judäa, zwar klein, aber allein. Allein Judäa spricht für die Juden, allein Judäa repräsentiert das Jüdische schlechthin. „Repräsentiert“ im ganz wörtlichen Sinne von „gegenwärtig setzen“.

Ihm, Juda, und nicht Ruben (Gen 42,37 ff.) vertraut Vater Jakob in Genesis 43,8 ff. seinen jüngsten Sohn, den heißgeliebten Benjamin an, Rachels zweiten Sohn. Diesen hatte Josef in Ägypten quasi als Pfand von seinen Brüdern verlangt. „Ich verbürge mich für ihn, aus meiner Hand magst du ihn zurückfordern“, hatte Juda dem greisen Jakob versprochen (Gen 43,9). Juda verpfändete sich also selbst. Ruben war nicht so weit gegangen, er schickte lieber andere vor (Gen 42,37): „Da sagte Ruben zu seinem Vater: Meine beiden Söhne magst du umbringen, wenn ich ihn [= Benjamin; M. W.] dir nicht zurückbringe.“

Judas = Judäas jüdisch-weltliche Vorrangstellung wird auf diese Weise jüdisch-religiös legitimiert. Juda – Judäa, das ist nun fortan pars pro toto, also für alles Jüdische, alles, was Juden und Judentum ist und betrifft. Aus zwölf wird eins, Juda genießt das Monopol und wird sozusagen zum Erstgeborenen. Höhepunkt dieses ebenso historischen wie theologischen Legitimierungswegs ist der Jakobssegen in Genesis 49,8 ff.: „Juda, dir jubeln die Brüder zu, / deine Hand hast du am Genick deiner Feinde. / Deines Vaters Söhne fallen vor dir nieder … Nie weicht von Juda das Zepter, / der Herrscherstab von seinen Füßen, / bis der kommt, dem er gehört, / dem der Gehorsam der Völker gebührt.“

Ohne Juda kein Jesus

„Dem der Gehorsam der Völker gebührt.“ Das kann, immanent jüdisch-alttestamentlich, im Sinne der Propheten, allein Gott sein. Christlich wäre es auch als Rechtfertigung Jesu zu verstehen. Jesus stammte bekanntlich aus Judäa, worauf die neutestamentliche Genealogie den größten Wert legt. Doch „Gehorsam“ gegenüber Jesus als Christus? Liebe würde man neutestamentlich eher erwarten. Mit Jesus-Bezug bedeutete dies fürs Christentum: Ohne Juda, ohne Juden und Judentum kein Jesus, kein Christus, kein Christentum.

Doch neben diesem Juda gab es „den“ Judas, den Verräter an Jesus. Deshalb wäre eine Judas-orientierte Christologie doppelbödig und somit delegitimierend. Tiefer bohrend ließe sich freilich auch folgendermaßen argumentieren: Ohne diesen Verräter-Judas keine Kreuzigung, ohne Kreuzigung keine Auferstehung und ohne Auferstehung kein Christentum. So viel (und noch mehr) beinhalten diese wenigen Sätze.

Das erste Buch der Chronik 5,1 ff. benennt den historisch-politischen Sachverhalt unumwunden: „Ruben war der Erstgeborene. Da er aber das Bett seines Vaters entweiht hatte, wurde sein Erstgeburtsrecht den Söhnen Josefs, des Sohnes Israels, gegeben. Doch richten sich die Stammeslisten nicht nach dem Erstgeburtsrecht; Juda erlangte nämlich die Herrschaft über seine Brüder, und einer aus ihm wurde der Fürst, obwohl das Erstgeburtsrecht bei Josef war.“

Harter innerjüdischer Macht- und Moralkampf

Man löse das Erzählte vom Genalogischen und Biblischen zum Historischen und finde mühelos die Rechtfertigung des jüdischen „Judenmonopols“. Mit den älteren Bibelpassagen von Rubens Erstgeburt und Jakobs Josef-Bevorzugung ließe sie sich nicht rechtfertigen. Eine neue Geschichte konnte und durfte nicht ge- oder erfunden, die alte nur umgewichtet werden, um Juda als den, den einzig verbliebenen und relevanten jüdischen Stamm zu kennzeichnen.

Ethisch fleckenfrei blieb das jüdische Juda-Monopol selbst nach dessen Kanonisierung nicht. Der innerjüdische Macht- und Moralkampf muss hart gewesen sein, sehr hart. Wer den Bibeltext historisch und ethisch-legitimationshistorisch kritisch liest, muss nicht lange rätseln. Kapitel 38 der Genesis packt ohne jede Beschönigung zu beziehungsweise aus.

Makel eins (Gen 38,1): Juda zog von seinen Brüdern hinab. „Wajired“, auf Deutsch und im Klartext: Er verließ das Heilige Land, denn das Verb „laredet“ bedeutet „absteigen“ und absteigen bedeutet, dass man das Heilige Land verlässt. Wer ins Heilige Land kommt, steigt hinauf, versteht sich. „Jerida“, „Abstieg“, war Judas Auswanderung. Der biblische Text ist eindeutig.

Ebenso eindeutig ist Makel Nummer zwei: Juda „nimmt sich“ eine Frau und heiratet sie später.

Aus jüdischer Sicht ist auch Makel drei eindeutig. Jene Frau namens Schua ist (was Wunder nach der Jerida-Auswanderung) eine Kanaaniterin, also Götzendienerin. Juda nahm Schua, und sie gab ihm „Er“, den Erstgeborenen. Der war (überrascht es?) „dem Ewigen missfällig“ und starb, nachdem er Tamar geehelicht hatte (Gen 38,7). Mit ihr verehelichte Juda, wie das biblische Gesetz es befahl, seinen und Schuas zweiten Sohn, Onan.

Makel vier: Onan treibt Gotteslästerliches: Er onaniert, er vergießt seinen Samen und lässt ihn „zur Erde hin verderben, um seinem Bruder keinen Samen zu geben“ (Gen 38,9 f.) (5). Da ließ der Ewige „auch ihn sterben“ (Gen 38,11).

Makel fünf: Schela, Judas Drittgeborener, wurde der zweifach verwitweten Tamar versprochen, aber doch verweigert.

Makel sechs: Tamar rächt sich. Sie verführt Juda, der sie dabei nicht erkennt, nach dem Ableben seiner Frau Schua. Tamar wird schwanger.

Makel sieben erinnert an Judas Vater Jakob und wiegt deshalb wohl nicht gar so schwer, wenn überhaupt: Judas Vergnügung mit Tamar hat eine doppelte Folge: die Geburt der Zwillinge Perez und Serach. Dieser schien bei der Geburt den Leib der Mutter zuerst verlassen zu können, wurde aber von Perez sozusagen kurz vor dem Ziel überrundet.

Viele Chaosgeschichten über Ehebruch

Das ist nicht das Ende biblischer Erstgeburt-und-Geschwister-Geschichten oder -Probleme. Waren da nicht außer den heute kaum bekannten Außenseitern Perez und Serach auch die bereits erwähnten Ruben und Juda – und natürlich Esau und Jakob? Kann man Kain und Abel unerwähnt lassen? Wohl kaum. Kain, der Bösewicht, war zuerst geboren, Abel, das sanfte Opfer, danach. Man denke daran, dass nicht Davids Erstgeborener, Amnon, nicht sein Zweitgeborener Kilab oder der drittgeborene Sohn, Absalom, Nachfolger wurde, sondern der Nachzügler Salomon. Der war die biologische Folge des ehebrecherischen Frevels zwischen seinem Vater David und seiner Mutter Batseba. Entsprechend chaotisch verlief der Übergang von David zu Salomon.

Die vielen Chaosgeschichten über Erstgeburts-, Geschwister- und Nachfolgekämpfe der hebräischen Bibel vermitteln uns eine Botschaft: Nicht Seniorität oder Quantität entscheidet, sondern Qualität. Wieder gelangen wir zum Herz der Juda- und damit der Judäa-Geschichte: Nicht das größere Königreich „Israel“ wurde für Juden und Judentum wegweisend, sondern das kleinere „Judäa“, der kleine Bruder. Dieser kleine Bruder war genealogisch sogar noch kleiner, denn Juda war der Junior, Israel, also Jakob, der Senior, der Vater. Selbst der Stammvater tritt als Namensgeber der Juden in den Schatten des eigentlich wenig bedeutenden und nicht gerade tugendprallen Sohnes Juda. Ethisch überzeugt das alles eher kaum oder gar nicht. Man muss es politisch, historisch verstehen: Diese biblischen Geschichten legitimieren nachträglich die jüdische „Richtlinienkompetenz“ Judäas.

Judas „Fremdgehen“, im Sinne von „zu einer fremden, nichtjüdischen Frau gehen“, entsprach nicht den alttestamentlich theokratischen Normen der Epoche des zweiten Tempels (ab 515 vor Christus), die im Buch Esra besonders krass beschrieben wird: Die nichtjüdischen Partner(innen) und Angehörigen wurden vertrieben. Das entspricht weder unseren heutigen Toleranzvorstellungen noch allgemeinverbindlichen Vorgaben der hebräischen Bibel. Es waren nicht die unbedeutendsten Juden, die Nichtjüdinnen geehelicht hatten: Man denke an Moses, den größten religiösen und politischen „Führer“ der Juden. Seine Frauen waren Zippora, die Midjaniterin, und die „Kuschitin“, also die „schwarze“ Frau (hebräisch „kuschit“) oder die Frau aus Äthiopien (hebräisch „Kusch“). Auch der legendäre König Salomon, Davids Sohn, war alles andere als ein Verächter nichtjüdischer Frauen. Und Josef, einer der Brüder Judas? Er hatte die Ägypterin Ossnat geheiratet. Anders als Juda ließ sich Josef freilich nicht von sittenlockeren oder -losen Frauen verführen. Potifars ehebruch-lüsterner Frau verweigerte er sich. Das war geradezu lebensgefährlich, aber der sittsame Josef ist ja nicht nur das sittenstrenge Kontrastprogramm zur Mehrzahl seiner Brüder, sondern besonders zu Juda. Folgerichtig haben die Redaktoren der jüdischen Bibel die makelfreie, bezogen auf Josef, vorbildhafte Potifar-Geschichte ins Kapitel 39 Genesis gestellt. Über die lotterliche Juda-Familie berichtet Kapitel 38.

Sühne hebt Schuld auf

Doch Juda wäre texthistorisch nicht Namensgeber „der Juden“ geworden, gäbe es nicht diese bedeutsame Makel-Minderung: Juda erkennt seine frevelhafte Vaterschaft an, und Tamar wird nicht, wie eigentlich geboten, verbannt. Der schuldlos-schuldige Juda bereute und kasteite sich, denn „er erkannte sie fernerhin nicht mehr“ (Gen 38,26).

Die Rabbinen haben vor allem in der Agada, den Talmud-Erzählungen, sowie in den Midraschim, ihren Bibel-Kommentaren, diese nachfrevlerische Noblesse und Kasteiung Judas hervorgehoben – und ihn somit als Namensgeber der Juden ihrerseits nachbiblisch und nach dem historischen Exitus Judäas (70 nach Christus) legitimiert. (6) Zugleich haben sie damit eine religiös-ethische Grundlage dekretiert und fixiert: Sühne hebt Schuld auf, nach der Abkehr vom religiösen Königsweg steht jedem Umkehr offen. Diese Umkehr entspricht auch der Botschaft der Propheten, die gegen die Sünden Israels wetterten und stets die Möglichkeit der Umkehr als Rückkehr zum individuellen und national kollektiven Heilsweg zu Gott verkündeten. Diese ethische, religiöse und nationale Dimension bündelt die Juda-Geschichte. „Juda“, der Name, ist ein inhaltliches Bündel des Bundes zwischen Gott und Israel.

Letztlich obsiegte Juda (sprich: Judäa) innerjüdisch, sowohl historisch als auch machtpolitisch. Von Josef und seinen Brüdern blieb nur Juda den Juden – und den Christen, deren Heiland weltlich genealogisch aus dem jüdischen Hause Davids stammte. So gesehen verbindet auch (nicht nur!) (7) das moralisch mehrbödige Juda-Narrativ Juden und Christen gleichermaßen.

Dies ist ein Auszug aus Michael Wolffsohns neuestem Buch „Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik“, 2020, Herder-Verlag, hier bestellbar.

Dies ist der erste Teil einer fünfteiligen Serie.

Lesen Sie morgen: Sittenstrenge Partikularisten.

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Michael Wolffsohn, Prof. Dr., geb. 1947, Historiker und Publizist, 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, hat zahlreiche Bücher, Aufsätze und Fachartikel verfasst und ist publizistisch und als vielbeachteter Vortragsredner tätig. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, der Deutsche Hochschulverband kürte Michael Wolffsohn 2017 zum Hochschullehrer des Jahres; 2018 Franz-Werfel-Menschenrechtspreis der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen.

 

Anmerkungen:

(1) Daniel Friedrich Sturm: Schröders Vermächtnis, Die Welt, 21.1.2009; Handelsblatt online, 13.12.2017, https://www.handelsblatt.com/unternehmen/industrie/diesel-judas-aeusserung-volkswagen-kontert-fdp-generalin-beer/20708260.html?ticket=ST-40122078-7dSCukJrId1mIraQdcdA-ap2 (letzter Abruf am 3.1.2020).

(2) Die Bibel. Gesamtausgabe in der Einheitsübersetzung, Augsburg 1994, S. 41.

(3) Michael Wolffsohn: Juden und Christen – ungleiche Geschwister. Die Geschichte zweier Rivalen, Düsseldorf 2008, Kapitel 4.

(4) Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Berlin 1933, hier: „Der junge Joseph“, fünftes und besonders sechstes „Hauptstück“.

(5) Die folgenden wörtlichen Übersetzungen aus Die Heilige Schrift, neu ins Deutsche übertragen von N. H. Tur-Sinai (H. Torczyner), Band I, Jerusalem o. J. (1954).

(6) Vgl. zu Agada und Midraschim, den Artikel „Judas“ in: Encyclopedia Hebraica, Band 19 (hebräisch), Jerusalem–Tel Aviv 1968, Spalte 171 f.

(7) Vgl. Wolffsohn, Juden und Christen, mit Argumenten, Fakten und Belegen.

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Bernd Hönig / 01.05.2020

“Abrahamiten” ... ja nun, warum die Juden sich nicht so nennen und dass Juda und Israel in den Zeiten der Endredaktion zur Hebräischen Bibel schon feste Titel im kulturellen Gedächtnis waren, weiß der Historiker Wolffsohn sicherlich, und auch dass dieses hier “Christen, deren Heiland weltlich genealogisch aus dem jüdischen Hause Davids stammte.” nur eine spätere Zuschreibung ist. Die Juden habens zwar in ihrer Historiografie mit Wandergeschichten von Mesopotamien bis Ägypten, doch Archäologie, Genealogie und Linguistik zeigt eben auch an, dass sie so wie andere Bewohner dieser Gegend aus dem lokalen Pool der Kanaanäer stammen.

Wilfried Cremer / 01.05.2020

Sehr interessant zu lesen! Noch 3 Anmerkungen: 1.) Was sollte Juda tun? Es gab nur Heidinnen und evtl. Schwestern. 2.) Ossnet war die Nichte Josefs. 3.) Zwei Apostel hießen Judas.

Frances Johnson / 01.05.2020

Vielen Dank, extrem interessant, aber nicht unkompliziert. Muss ich mehrfach lesen. Ich konstatiere aber: Der Vater, den ich für den Laien imposanter finde, blieb als Namensgeber für Israel, und der Bruder Josef als Namensgeber für viele Christen. Benjamin dagegen bleibt wohl in gefühlt jedem zweiten Juden erhalten. Manche mutieren dann zu Bibi ;-) Wie Sie sagen: Antijudaismus, Antisemitismus genannt, ist für Christen sinnlos und an sich, wenn man zu Abraham zurückgeht, auch für Muslime. Aber Jesus teilt die Qualität der messerscharfen Analyse mit einem anderen Juden: Sigmund Freud. Vermutlich handelt es sich um Vatermord. Wenn man davon ausgeht, dass 70-80 Prozent der Menschheit in der einen oder anderen Form psychisch krank ist, mindestens egoman und dabei neidisch wie Kain, muss man auch fürchten, dass Antisemitismus nie verschwinden wird.

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