Wieder einmal haben es etliche Wähler gestern mit einer Weckruf-Wahl versucht. Trotz aller Warnungen haben wieder mehr von ihnen rechts gewählt. Doch die Weckruf-Adressaten wollen das womöglich wieder nicht verstehen.
Die Bürger der EU-Staaten durften in den letzten Tagen wieder einmal ein Parlament wählen, dessen Abgeordnete im Vergleich zu den nationalen Parlamentariern der EU-Staaten immer noch ziemlich beschränkte Rechte haben. In Deutschland – wo bekanntlich gestern gewählt wurde – hatten Regierung, Parteien sowie etliche Institutionen und Vereine die Teilnahme an dieser Wahl trotzdem zu einem wichtigen Beitrag zur Rettung der Demokratie erklärt und zum Wählen aufgerufen. Dieser Aufruf wurde oft mit der Aufforderung verbunden, „demokratisch“ zu wählen. Das sollte heißen – und wurde so mal mehr, mal weniger klar benannt – bitte nicht „rechts“, bzw. konkret die AfD zu wählen. Mit Aufwand, Geld und Mühe organisierten engagierte Institutionen zu diesem Zweck noch am Tag vor der Wahl entsprechende Demonstrationen und Kundgebungen.
Das alles war offenbar nur eingeschränkt erfolgreich. Zwar stieg die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den letzten Wahlen zum EU-Parlament, doch die Wahlergebnisse verschoben sich dennoch etwas nach rechts. Die AfD gewann immerhin knapp fünf Prozentpunkte im Vergleich zur letzten EU-Wahl hinzu und wurde mit 15,8 Prozent zur zweitstärksten Partei hinter CDU/CSU mit 30,1 Prozent, aber vor der Kanzlerpartei SPD mit 14 Prozent. (Die Zahlen geben noch nicht das vorläufige amtliche Endergebnis wieder, das Sie hier finden.)
Deutlicher als die AfD hatte nur das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hinzugewonnen, mit 6,1 Prozent auf 6,1 Prozent. Kleinere Gewinne konnten nur noch die Kleinpartei Volt (+1,9 Prozent), die CDU/CSU (+1,2 Prozent) sowie die Freien Wähler (+0,5 Prozent) für sich verbuchen.
Im Gegenzug verloren die Grünen 8,7 Prozent und kamen auf 12 Prozent. Die Verluste der SPD lagen zwar nur bei 1,9 Prozent, aber dennoch sind ihre 14 Prozent das schlechteste Ergebnis, das die SPD jemals bei einer bundesweiten Wahl bekam. Dass die FDP nur 0,2 Prozent verlor und auf 5,2 Prozent kam, war zwar ein besseres Ergebnis, als die Partei erwartet hatte, aber dass die Regierungsparteien zusammen nur noch 31,2 Prozent der Stimmen bekamen, ist ein deutliches Misstrauensvotum der Wähler.
Erfolg bei jungen Wählern
Wahrscheinlich hatten sich die regierenden Parteien auch von der Senkung des Mindestwahlalters auf 16 Jahre mehr versprochen. Statt nun aber AfD-Wahlergebnisse zu verdünnen, stimmten von den Wählern, die das Europaparlament zum ersten Mal wählten, sogar 17 Prozent für die AfD, hieß es am Wahlabend in der ARD-Wahlsendung. Ebenso hoch soll der Stimmenanteil der CDU bei diesen Wählern im Alter von 16 bis 24 Jahren gewesen sein. Mehr Zuspruch hatte keine einzelne Partei – nur alle Kleinparteien zusammen lagen mit 27 Prozent an erster Stelle.
Im Osten ging die AfD beinahe flächendeckend als stärkste Partei aus der EU-Wahl hervor. Einige TV-Kollegen wirkten so, als würden sie sich jetzt gern wieder an der Erzählung vom Rechtsruck als Ost-Phänomen festhalten. Aber das ging nicht. Dass sich der Protest-Rechtsschwenk der deutschen Wähler trotz der östlichen AfD-Stärke nicht mehr allein als ein Werk renitenter Ossis erklären lässt, ist auch öffentlich-rechtlichen Redakteuren klar. Stimmgewinne hatte die AfD schließlich auch im Westen zu verzeichnen.
Ungeachtet der deutschen Ost-West-Unterschiede zeigen auch die Wahlergebnisse in der EU insgesamt einen Rechtsschwenk. Von den EU-Bürgern wollten damit offenbar so einige gegen die Politik der EU-Führung unter Ursula von der Leyen, gegen den sogenannten Green Deal, gegen mehr Restriktionen in allen Lebensbereichen und Wohlstandsverlust im Namen der „Klimarettung“ stimmen. Die EU agiert ja unter der Regentschaft der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen recht vormundschaftlich und übergriffig. Das sorgt mehr und mehr auch für Unmut in Kreisen, die der Idee eines verlässlichen und organisierten europäischen Zusammengehens eigentlich eng verbunden sind. Muss man also auch den europäischen Rechtsschwenk (wie auch Erfolge mancher linken Partei) als einen Weckruf etlicher Europäer an das EU-Führungspersonal verstehen, den Kurs zu wechseln?
Nicht wenige deutsche Wähler wollten mit ihrer Stimmabgabe aber auch einen Weckruf an die eigene Regierung richten. Von denen wollten offenbar mehr als bisher ihre Stimme so einsetzen, dass sie die Regierenden aufschrecken lässt, weil ein Weckruf ja nur dann wirkt. Und welches Votum die regierenden und die etablierten Parteien am stärksten aufschreckt, das wurde den Bürgern in inzwischen unzähligen Kampagnen gegen rechts unübersehbar mitgeteilt. Es ist schon ein wenig verwunderlich, wie viele Journalisten sich angesichts dessen wieder bestürzt fragen, warum erneut so viele Wähler die AfD gewählt haben.
Wie setzt man ein Signal zum Umsteuern?
Viele von ihnen wollen ein Umsteuern – weg von einer teuren Energiewende- und Wirtschaftspolitik, die zu einem dramatischen Abbau an Wohlstand und Zukunftschancen führt, weg von zu viel Bevormundungen, Sprechverboten und Sprachregelungen, weg vom schleichenden Freiheitsverlust, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Aber ganz zentral geht es um die verheerende Politik der ungesteuerten und unbegrenzten Asylzuwanderung. Und wer an dieser Stelle mit seiner Stimme ein Signal zum Umsteuern setzen möchte, dem lässt das derzeitige Parteienangebot in Deutschland wenig Möglichkeiten. In Dänemark kann, wer eine rationale und die eigene Gesellschaft nicht gefährdende Zuwanderungspolitik wünscht, auch die dortigen Sozialdemokraten wählen, die eine solche Politik nicht nur versprechen, sondern auch umsetzen. In Deutschland nicht.
Nachdem der Mord eines abgelehnten afghanischen Asylbewerbers und Islamisten an einem Polizisten bei dem Angriff auf einen Islamkritiker für überregionales Entsetzen gesorgt hatte, reagierten hierzulande die Vertreter einiger der Parteien, die für die Zuwanderungspolitik der letzten zehn Jahre verantwortlich sind, bemerkenswert. Sie forderten lautstark die Abschiebung solcher Straftäter auch nach Afghanistan und Syrien. Es waren ja nur wenige Tage bis zur gestrigen Wahl. Nur leider konnte kaum ein Bürger glauben, dass die Politiker, die jahrelang nichts unternommen hatten, jetzt plötzlich in dieser Form durchgreifen wollten. Für das Signal an die Wähler, dass die Regierenden das Zuwanderungsproblem jetzt nicht mehr kleinreden möchten, sondern dringenden Handlungsbedarf erkennen, war es etwas zu spät. Und eine richtige Wende in der Migrationspolitik mochten sie auch gar nicht versprechen.
Als die Wahlverlierer am Wahlabend nach den Ursachen der Niederlage gefragt wurden, fielen kaum einem der Befragten solche Dinge ein. Die Verantwortlichen würden die Fehler nach gründlicher Analyse finden, es sollten aber keine Sündenböcke gesucht werden, hieß es beispielsweise von SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert am Wahlabend in der ARD. Die Parteivorsitzende Saskia Esken ergänzte später sinngemäß: Wir werden dieses Ergebnis nicht ohne Fragezeichen analysieren. Wolkiger geht es kaum. Und viel mehr war – neben dem unvermeidlichen Eingeständnis der Niederlage – auch von Vertretern der Grünen nicht zu hören.
Eine Vertrauensfrage?
Die Vertreter der stärksten Partei, der CDU, fühlten sich ebenfalls als Wahlsieger, obschon ihr Zugewinn klein war. Aber im Vergleich zu den Ampel-Parteien, die zusammen nicht einmal mehr ein Drittel der Stimmen bekamen, konnte sich das natürlich wie ein Sieg anfühlen.
CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sah in dem Ergebnis die Bestätigung für den richtigen Weg der Partei unter Friedrich Merz und fragte, ob der Kanzler angesichts von einem 14-Prozent-Ergebnis der Kanzlerpartei noch die nötige Legitimation besitze oder ob er nicht die Vertrauensfrage stellen müsse.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte noch am Wahlabend auf das schlechte Abschneiden seiner Partei mit einer klaren Entscheidung reagiert. Dort hatte der rechte Rassemblement national die Wahl mit 31,5 Prozent gewonnen, während die Liste der Präsidenten-Partei mit 14,5 Prozent nicht einmal auf die Hälfte kam. Macron löste daraufhin die Nationalversammlung auf und verkündete Neuwahlen schon am 30. Juni.
In Deutschland kann der Bundestag nicht so leicht aufgelöst werden. Das kann der Bundespräsident erst tun, nachem der Bundestag dem Bundeskanzler die Vertrauensfrage mehrheitlich negativ beantwortet hat. Aber es ist unwahrscheinlich, dass er das derzeit tun wird.
Doch zurück zur CDU. Deren früherer Bundesgesundheitsminister Jens Spahn erklärte in einer Talkrunde tatsächlich zum Wahlgewinn der AfD, dass deren Stärke an der Ampel-Regierung läge. Irgendwie scheinen manche deutsche Christdemokraten ihre Regierungszeit unter Kanzlerin Angela Merkel vergessen zu haben. Ohne deren für „alternativlos“ erklärte sogenannte Euro-Rettungspolitik und die von ihr befeuerte grenzenlose Zuwanderung hätte die AfD nicht so wachsen können, bzw. wäre gar nicht erst gegründet worden.
Wagenknecht eher für SPD- als für AfD-Wähler interessant
Diese Partei ist nun Wahlgewinner, auch wenn viele Beobachter ursprünglich ein stärkeres Ergebnis – je nach Perspektive – erwartet, erhofft oder befürchtet hatten. Interessant ist das Verhältnis zum zweiten Wahlgewinner, dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Als diese neue Partei auf der politischen Bühne erschien, hatten viele der AfD-Bekämpfer gehofft, sie würde ihre Stimmen vor allem aus dem AfD-Reservoir schöpfen. Jetzt konnte man zum ersten Mal sehen, ob diese Erwartung richtig war. Und die Zahlen zur Wählerwanderung, die die ARD am Sonntagabend zeigte, belegten nun, wie falsch diese Erwartung war. Zwar hat sie demnach tatsächlich die Stimmen von 140.000 früheren AfD-Wählern bekommen, aber 520.000 Stimmen kamen von früheren SPD-Wählern. Die allermeisten Wähler haben die Wagenknecht-Anhänger aber – wie zu erwarten war – von der Linkspartei mitgenommen. Der AfD hat die neue Partei also diesmal kaum geschadet. Trotz des Gleichklangs bei den grundsätzlich kritischen Positionen zur Asylpolitik kommen ihre Wähler offenbar doch eher aus unterschiedlichen politischen Milieus.
Dies unterstrich Sahra Wagenknecht, als sie von einer ARD-Moderatorin mit dem Vorwurf konfrontiert wurde, sie würde mit ihrer Kritik an der Migrationspolitik „rechte Positionen“ vertreten. Wagenknecht konterte richtigerweise, dies wären keine „rechten Positionen“. Eine andere Asylpolitik sei gerade im Sinne von sozial Schwachen.
Eigentlich hätte in den letzten zehn Jahren gerade so mancher Linker (egal aus welcher Partei) erkennen müssen, dass ein Sozialstaat, also eine Solidargemeinschaft, dringend Grenzen und Kontrolle benötigt. Ein unbegrenzter Zustrom an zusätzlichen Sozialleistungsempfängern, ohne dass die Zahl derer, die in dieses System einzahlen, wächst oder deren Produktivität adäquat steigt, muss irgendwann zum Zusammenbruch dieses Systems führen. Müsste das nicht jeder einsehen, der rechnen kann?
AfD und BSW sind also die Gewinner dieser Wahl, bei der es um die Rettung der Demokratie gegangen sein soll. Beide Parteien sind im Osten besonders stark. Im September wählen bekanntlich erst Sachsen und Thüringer, dann etwas später auch Brandenburger neue Landtage. Was passiert wohl, wenn es die etablierten Parteien dort wieder versäumen, den Bürgern glaubhaft zu zeigen, dass sie durch den gestrigen Weckruf geweckt wurden und die Notwendigkeit einer Kurskorrektur verstanden haben? Ziehen die sich enttäuscht zurück? Wohl kaum. Ihr Weckruf dürfte im Gegenteil nur lauter werden. Werden dann wieder alle Meinungsbildner erschrocken und erschüttert sein, weil dann noch mehr Menschen die AfD gewählt haben? Werden Sie sich dann über die Wähler beschweren?