Es gibt ein grundlegendes Problem bei den sogenannten „sozialen“ Medien. Dort werden Einträge gelöscht, wenn sie von vielen Menschen gemeldet werden. Diese Methode hat einen großen Fehler: Sie stärkt den Mob und schwächt das Individuum.
Zurzeit werden auf Twitter wieder massenhaft Menschen gemeldet und teilweise für Tage blockiert, weil sie es wagen, der Biologin Marie-Luise Vollbrecht in ihrer Analyse zuzustimmen, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt. Der Meldemob holt die digitalen Mistgabeln heraus.
Mit Menschen, die sich einer kollektiven Ideologie unterwerfen, sodass das Individuum in einem Mob verschmilzt und sich in einer Legion der Vielen auflöst, kann man nicht reden. Ein Mob hört nämlich nicht zu. Ein Mob schreit, lärmt und wütet. Wenn der Mob dann auch noch in der Gewissheit der moralischen Überlegenheit marschiert, wird es besonders gefährlich. Dabei ist es irrelevant, was das Ziel des heiligen Zorns ist. Die Methode des Mobs ist stets die Gewalt der aufgebrachten Masse. Es ist ein Rausch.
Schreckensherrschaft der Tugend
Wenn sich Menschen, die sonst wenig gemeinsam haben, in der Herabwürdigung eines anderen Menschen vereinen, wenn der Hass identitätsstiftend wird, marodiert der Mob. Dabei kann es dann auch Menschen treffen, die so unfassbar kontroverse Dinge behaupten, wie etwa, dass es nur zwei biologische Geschlechter gibt. Diese Behauptung wird heute von einigen Zeitgenossen als so unfassbar ketzerisch empfunden wie einst die Behauptung, die Erde sei keine Scheibe und drehe sich zudem um das Zentrum des Sonnensystems, in dem sich die Sonne befindet. So wie die Schriften der Wissenschaft einst von blinden Fanatikern verbrannt wurden, so werden sie heute von woken Fanatiker*innen gelöscht.
Der Mob lässt andere Perspektiven nicht zu und erklärt stattdessen, Worte seien Gewalt, nur um so dann selbst physische Gewalt gegen die Redner rechtfertigen zu können. Ein Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht zum Beispiel musste abgesagt werden, da nicht mehr für ihre Sicherheit garantiert werden konnte.
Der Mob erklärt jeden Abweichler und jeden Kritiker zu einer Gefahr, gegen die auch Gewalt angewendet werden darf. Es ist schließlich Notwehr.
„Wehret den Anfängen“ brüllen diese selbstgerechten Putztruppen und meinen damit doch nur die Anfänge einer Zukunft, die sie aus ihrer eigenen Angst heraus konstruieren. Aus dieser selbstgeborenen und selbstgefütterten Angst nimmt der Mob andere Menschen als Geisel einer Vermutung. Diese Angst ist die Wurzel des totalitären Denkens, die Gewalt über Gedanken als Präventivschlag ermöglicht.
Das Mittel des Mobs: Bilder des Bösen
Um einen Mob gegen einen Menschen aufzustacheln, muss dieser Mensch zum Bösewicht erklärt werden. Im Mittelalter wurden Menschen zu Hexen, Schwarzmagiern, Kinderfressern, Brunnenvergiftern und Teufelsanbetern erklärt, um Gewalt gegen sie zu rechtfertigen. Diese Menschen wurden dann verbrannt, weil sie angeblich für das gute Leben, die reine Lehre und die ganze Menschheit gefährlich waren. Heute sind es weniger religiöse oder mythische Verunglimpfungen, die Menschen der Masse ausliefern, sondern politische Unterstellungen. Heute ist der zu löschende Gegner ein Nazi oder Faschist. Ihm wird vorgeworfen, rechtspopulistisch oder gar rechtsradikal zu sein.
Auch heute noch gilt der Kritiker als Ketzer, der mit dem Teufel und seinen Jüngern in Verbindung steht. Wer der Teufel ist, hängt davon ab, welches Bild des Bösen gerade Konjunktur in der Gesellschaft hat. Lange Zeit waren es die CSU und die FDP, heute ist es recht zuverlässig immer die AfD.
So wie die Menschen im Mittelalter überall Hexen sahen, so sehen sie heute überall Nazis. Es ist ein Wahn, geboren aus der Überzeugung, selbst dem einzig wahren, guten Glauben anzugehören.
Wer Worte verbieten möchte, weil daraus Gewalt erwachsen kann, muss auch für ein Verbot der Bibel oder des Korans plädieren. Unzählige Terroristen haben schließlich mit den Parolen des Korans auf den Lippen gemordet. Nicht mal Jesus konnte verhindern, dass seine Worte missverstanden werden. Hätte Jesus daher die Bergpredigt besser nicht halten sollen? Für ihn selbst wäre es vermutlich besser gewesen, denn Jesus wäre höchstwahrscheinlich nicht gekreuzigt worden, hätte es die Zensur verhindert, dass seine Worte einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden.
Gedanken verschwinden nicht, nur weil sie nicht gesprochen werden. Nur wer die Gedanken hört, kann sich wehren. Das Verbieten von Worten bringt rein gar nichts. Worte und Meinungen sind weit weniger gefährlich als eine Legion, die sich so im Recht fühlt, dass sie glaubt, Feuer legen zu dürfen, um die Gefahr der Gedanken auszumerzen.
Wer alles verbannt und verbrennt, was ihm nicht gefällt, wird blind für das, was in der Gesellschaft vor sich geht. Andere Meinungen auszuklammern, ist so effektiv wie das kleine Kind, das sich die Hände vor die Augen hält und glaubt, so sei die Gefahr verschwunden.
Die Löschung von Internetseiten ist die Bücherverbrennung von heute
Heute werden nicht mehr so viele Bücher verbrannt, dafür umso mehr Internetseiten gelöscht. Die erfolgreichen Sperrungen der Texte feiern die Fundamentalisten von heute jedoch immer noch so ab, wie einst jene, die die Worte dem Feuer übergaben. Die Putztruppen des Meldemobs führen wahre Zermürbungskriege gegen Menschen, die selbst oft nichts anderes haben als die Waffe des freien Worts. Sie wehren sich mit Worten gegen Gewalt, während die Gewalttätigen Worte zur Gewalt erklären.
Diese Gewalt wird von den sozialen Medien unterstützt, indem sie die Menschen blocken, die von dem Mob gemeldet werden. Die Gewalt wird aber auch von jenen unterstützt, die sich von den vermeintlichen Hexen distanzieren, aus Angst davor, selbst in die Schusslinie des Meldemobs zu geraten. Manchmal erklären sie sogar öffentlich, jegliche Beziehung mit den Hexen zu unterbinden, um ja nicht durch Kontakt schuldig zu werden. Die neue Hexenjagd unterscheidet sich in dieser Angelegenheit kaum von der alten Hexenjagd.
Ein Mob beherrscht die Netzwerke. Es ist ein Sieg des Gefühls der Masse über die Vernunft des Individuums.