Als ich ein Knabe war, in den damals endlos glücklich scheinenden 1970er-Jahren, gehörten die Pippi-Langstrumpf-Filme zu den Höhepunkten der Freizeitbeschäftigung in unserer Familie und Nachbarschaft. Selig, gebannt, viel zu pünktlich traf man sich gemeinsam vor einem Fernseher, wenn die Filme endlich einmal auf dem Programm standen, und wir Kinder ergötzten uns an einem Leben, das es zu Hause so nicht gab: In der Villa Kunterbunt, wo Pippi wohnte, wurde nie aufgeräumt, man konnte essen, was man wollte, und wenn nötig den Teller auch unberührt stehen lassen.
Manchmal steckte ein Pferd seinen Kopf durchs Fenster, und ein Affe, Herr Nilsson, sprang frei herum; nie musste Pippi in die Schule gehen, und was uns allen am meisten auffiel: Hier gab es keine Eltern, die einem überflüssige Vorschriften machten. Von einer Mutter sah man in der Villa Kunterbunt nie etwas – sie war gestorben; und vom Vater hörte man sporadisch, wenn er als Kapitän für kurze Zeit auf Urlaub kam, wobei er, ein liebenswürdiger Seebär, Pippi dann nur verwöhnte, ihr nichts vorschrieb – und bald wieder zur See fuhr, um Pippi für Wochen, ja Monate alleine und unbehelligt zurückzulassen.
Idealere Eltern, so fanden wir, konnte man sich nicht vorstellen – nichts machte uns Kindern mehr Eindruck, und unbewusst festigte sich bei manchem von uns das Vorurteil, dass auch das Land, wo Pippi Langstrumpf herkam, Schweden, so liberal und glückselig sein musste, wie es die Zustände in der Villa Kunterbunt nahelegten.
Jahre später, als ich älter war und mich zum Linken verwandelt hatte, verpuppte sich das alte positive Vorurteil zu einer politischen Überzeugung: Ich bewunderte Schweden, das ich kaum kannte, denn Schweden, ein reiches, durchaus kapitalistisches Land, hatte es fertiggebracht, so schien es mir, alle Dilemmata der Moderne zu lösen, indem es einer starken Wirtschaft einen starken Wohlfahrtsstaat gegenübergestellt hatte. Wovon die Linke – ob in der Schweiz, Deutschland oder Amerika – nur träumte, einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu beschreiten – das war den schwedischen Sozialdemokraten offenbar gelungen.
Ein monumentales "Volksheim"
Seit 1932 praktisch ununterbrochen an der Macht, hatten sie aus ihrem grossen Land ein monumentales "Volksheim" gebaut, wie sie es selber nannten, wo Kapitalisten und Arbeiter, wo Arm und Reich, Jung und Alt, Schweden und Schwedinnen, friedlich, gerecht und glücklich zusammenlebten, in einer Art politisch korrekten Villa Kunterbunt, wo nur selten ein Störenfried auftauchte. Während andere Länder unter sozialen Spannungen litten, ritt Pippi Langstrumpf auf ihrem Pferd in den ewigen schwedischen Sommer. Widersprüche fielen mir nicht auf.
Dass die Erfinderin der Pippi Langstrumpf, die grosse Schriftstellerin Astrid Lindgren, einmal so hohe Steuern zu zahlen hatte, dass sie 1976 zur Abwahl der Sozialdemokraten aufrief, was prompt auch zu deren erstem Machtverlust seit 44 Jahren beitrug: Das kümmerte mich kaum. Lindgren hatte ihre Einkünfte zu einem Grenzsteuersatz von 102 Prozent versteuern müssen, was selbst ihr, einer eingeschriebenen Sozialdemokratin, etwas zu viel des Guten schien. Dass das schwedische Modell schon in den 1980er-Jahren fast untergegangen wäre, weil es nicht mehr finanzierbar war: Auch das verunsicherte mich wenig. In den 1990er-Jahren, als ich meine Verehrung für Schweden pflegte, folgten einschneidende, neoliberale Reformen, die ich kaum wahrhaben wollte.
Noch unter sozialdemokratischer Herrschaft wurden die Steuern gesenkt und der Sozialstaat zurückgenommen, es wurde dereguliert und privatisiert, bis das Land zwar von Neuem konkurrenzfähig war, doch die linke Seele hatte das Land verloren, bald gab es sogar eine bürgerliche Regierung, das Volksheim stand zwar nicht leer, aber es wirkte wie eine alte Villa, die man mit ein paar geschmacklosen Baumassnahmen zur Unkenntlichkeit entstellt hatte. Dass es – aus meiner Sicht – noch schlimmer kommen könnte, hätte ich mir zu jener Zeit, gegen Ende der 1990er-Jahre, allerdings nie träumen lassen.
Heute wählen die Schweden ein neues Parlament. Traut man den Umfragen, liegt es im Bereich des Möglichen, dass die Schwedendemokraten, eine rechtspopulistische Partei, die zum Teil auf Neonazis und andere Spinner zurückgeht, über 20 Prozent der Stimmen machen. Wenn es ganz übel wird – in den Augen der Konkurrenz –, könnte sich die Partei sogar zur stärksten Kraft in Schweden aufschwingen. Sicher ist: Schweden zu regieren, dürfte noch schwieriger werden, denn alle übrigen im Parlament vertretenen Parteien, sieben an der Zahl, haben sich bisher geweigert, mit den Rechten zu koalieren, sodass weder Mitte-links noch Mitte-rechts auf eine Mehrheit kommen. Die Schwedendemokraten bringen die angeschlagene schwedische Demokratie zum Stillstand. Lichterlöschen in der Villa Kunterbunt.
Der unaufhaltsame Aufstieg der Schwedendemokraten
Wenn etwas zeigt, welch beispielloser Wandel in Europa und Amerika vonstattengeht, dann ist es dieser unheimliche, anscheinend unaufhaltsame Aufstieg der Schwedendemokraten in jenem Land, das wohl als das politisch korrekteste unter den vielen politisch korrekten Ländern des Westens gelten darf. Im Land, das mit Tausenden von Kinderkrippen, extralangen Vaterschaftsurlauben, umfassender Sozialhilfe, tollkühner Umverteilung oder zahllosen Antidiskriminierungsmassnahmen versuchte, ein Paradies des Anstands und der sozialen Gerechtigkeit zu schaffen, ausgerechnet in diesem Land bringen es die rechten Populisten fertig, dieses so alte, vielleicht immer etwas allzu blasierte Selbstverständnis der Schweden als gute Menschen schlechthin zu erschüttern.
Was ist geschehen? Kaum ein Land zeigt so deutlich, wie gefährlich und disruptiv eine unkontrollierte Einwanderungspolitik wirken kann. Politikern, die das noch immer nicht zu erfassen scheinen, sei Schweden als Anschauungsbeispiel empfohlen.
1988, als die Schwedendemokraten zum ersten Mal bei Wahlen antraten, erhielten sie etwas über tausend Stimmen im ganzen Land, was ein jämmerliches Ergebnis darstellte. Statistiker bemassen ihren Wähleranteil als 0,0 Prozent. Zwar befand sich Schweden wirtschaftlich in Not, und Einwanderer gab es auch damals schon, wenn auch wenige, doch die zentrale Botschaft der Schwedendemokraten: weniger Immigration, das Land Schweden den Schweden, interessierte kaum jemanden. Zehn Jahre später kam die Partei auf 20.000 Stimmen oder einen Anteil von 0,4 Prozent, auch zu diesem Zeitpunkt waren die Schwedendemokraten noch eine Partei im Nichts.
Doch bereits 2006 zeichnete sich ab, was bald unübersehbar war: Die Partei wuchs stetig von Wahl zu Wahl, am Ende dramatisch. 2010 zog sie mit nun 5,7 Prozent erstmals in den Reichstag ein, bloss vier Jahre später verdoppelte sie diesen Anteil auf 12,9 Prozent. Jetzt hatte sie 800.000 Stimmen erhalten, in einem Land von an die zehn Millionen, oder mit anderen Worten: Das entsprach 800-mal mehr Stimmen als 1988. Was die Partei zustande gebracht hatte, war ein spektakulärer Zuwachs, der zu einem grossen Teil auf eine einzige Ursache zurückging: Immigration.
Jedes Problem für inexistent erklärt
Schweden war nie ein wirkliches Einwanderungsland, noch besitzt es eine multikulturelle Tradition. Zwar wanderten immer Leute ein, aber stets in verschwindend kleiner Zahl, was mit der unvertrauten Sprache zu tun haben mag oder der peripheren Lage des Landes, sicher auch liegt es am unwirtlichen Klima, jedenfalls war Schwedens Bevölkerung deshalb stets sehr homogen, sowohl ethnisch, sprachlich als auch konfessionell, fast jedermann war Lutheraner und redete Schwedisch. Als Minderheiten lebten im Land Finnen, die Samen im Norden, die man einst Lappen nannte, es gab Juden und Roma, alle aber in relativ überschaubarer Zahl.
Seit den 1960er-Jahren erfuhr zwar auch Schweden eine stärkere Zuwanderung von Menschen, besonders aus Südeuropa, da eine florierende Industrie dringend auf mehr Arbeitskräfte angewiesen war, und dies sahen seinerzeit nicht alle Einheimischen nur positiv. Es kam zu politischen Verwerfungen und Debatten, aber kaum eine Partei nahm sich dieses Themas an, und weil Schweden im Gegensatz zur Schweiz keine direkte Demokratie kennt, wurde darüber explizit auch nie in einer Volksabstimmung entschieden. Man blieb "liberal", will heissen: liess gezielt so viele Arbeitskräfte ins Land, wie man brauchte, wofür auch die mächtigen Gewerkschaften sorgten, während man rhetorisch die "multikulturelle" Gesellschaft feierte, die es so ausgeprägt noch gar nicht gab. Wenn Rezession herrschte, schickte man die Ausländer in ihre Heimat zurück, blühte die Wirtschaft, holte man sie oder andere wieder nach Schweden.
Am Ende stellte sich die Integration der Zuzüger als weitgehend problemlos dar, was auch darauf zurückzuführen ist, dass der Ausländeranteil in Schweden stets auf tiefem Niveau verharrte.
Das alles hat sich in der jüngsten Vergangenheit geändert, besonders seit Beginn des 21. Jahrhunderts, als die Zuwanderung aus aussereuropäischen Ländern sprunghaft anzog. In den letzten zehn Jahren hat die Bevölkerung von Schweden um gut eine Million Menschen zugelegt, mehrheitlich infolge Immigration, und alle die damit einhergehenden Schwierigkeiten, die wir mittlerweile überall im Westen kennen, überraschten auch die Schweden: Die Stimmung in Teilen der Bevölkerung ist hier jedoch besonders vergiftet, weil die politischen Eliten jedes Problem im Zusammenhang mit der Immigration schlechterdings für inexistent erklärten.
Es ist ein epochaler Aufruhr im Gang
Gleichzeitig, als ob man vom Rumoren in Kreisen der Einheimischen nichts wissen wollte, blieb die (linke) Regierung sehr grosszügig: Allein 2015 nahm Schweden rund 160.000 Asylbewerber auf. Seither rudert man zurück. Doch mit Blick auf die anhaltende Popularität der Schwedendemokraten dürfte das zu spät sein. Um wie viel zu spät, mag dieses Paradox verdeutlichen: Kaum einem Land in Europa geht es wirtschaftlich derzeit so gut wie Schweden, und trotzdem herrscht fast nirgendwo eine derart grenzenlose politische Misere. In Umfragen geben die Schweden an, kein Thema mache ihnen so grosse Sorgen wie die Immigration. Den vielen politisch korrekten, menschenfreundlichen Politikern im Land dürfte das wehtun – begriffen, was ihnen geschieht, haben vermutlich die meisten noch immer nicht.
Es ist ein epochaler Aufruhr im Gang. Ob in Italien, Frankreich, Deutschland, den USA, Grossbritannien, in Österreich, Polen oder eben in Schweden: Überall grassiert das Misstrauen gegenüber den etablierten Politikern und deren Ideologien, deren Werten oder deren Leistungsbilanz. Überall steigen die Populisten auf.
Die 1990er-Jahre, als so viele jener dem Establishment nun so teuren Ideen entstanden sind, werden abgewählt. Parteien lösen sich wie Zuckerwürfel im Wasser auf, Politiker gehen unter, und ungeprüfte Kräfte drängen an die Oberfläche und an die Macht, darunter Scharlatane und Talente. Wer das nicht merkt und meint, es handle sich bei der Frage der Immigration allein um ein emotionales Thema, das sich zufällig zur politischen Bewirtschaftung eignet, irrt. Es sind reale Probleme, die reale Menschen beschäftigen und mitunter zur Verzweiflung treiben. Die glücklichen Tage in der Villa Kunterbunt gehören der Vergangenheit an.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Basler-Zeitung.