Die Kriegsparteien in der Ukraine reißen sich gegenseitig die Denkmäler ab, und längst beerdigt geglaubte Symbole untergegangener Totalitarismen feiern eine Renaissance.
Ich bin mir nicht sicher, ob es der Geschichts- oder der Russischunterricht war, in dem ich den Namen Soja Kosmodemjanskaja zuerst hörte. Jedenfalls gehört er zu dem schlecht sortierten Scherbenhaufen russischer Vokabeln und Namen, die in meinem Kopf ein eher unbeachtetes Dasein führen. In letzter Zeit und aus gegebenem Anlass – etwa, weil ich mühsam ein paar kyrillische Buchstaben in einer Meldung auf Facebook oder Twitter entziffern muss – setzen sich einige der Scherben wieder zusammen wie auch der Name Kosmodemjanskaja, einer Partisanin aus dem Raum Moskau, Heldin der Sowjetunion, Ikone des Widerstands und Säulenheilige, nach der in der DDR Schulen und NVA-Panzerdivisionen benannt wurden. Gefangen und hingerichtet von der deutschen Wehrmacht am 29. November 1941 im russischen Dorf Perischtschewo. So kann man es auf Wikipedia nachlesen.
Anlass des Erinnerns war ein Video auf Facebook, in dem offensichtlich ein etwa lebensgroßes Denkmal Kosmodemjanskaja von mehreren Männern mit Seilen grob von seinem lädierten Sockel gezogen und zerstört wurde. Es war nicht allzu schwer herauszufinden, ob das Video echt ist und wo es aufgenommen wurde. Mit großer Wahrscheinlichkeit stammt es aus der nordukrainischen Stadt Tschernihiw und wurde im April 2022 aufgenommen (Hier sehen Sie das Ergebnis).
„Wer tut sowas?“, war die offensichtliche Frage und in der ukrainophoben Fraktion meiner Landsleute war die Antwort auf die Frage schnell bei der Hand. Nur die faschistischen Ukrainer würden sich derart brutal an der Erinnerung an eine russische sowjetische Antifaschistin vergehen!
Vergleiche kommen einem in den Sinn, die jedoch nur auf den ersten Blick treffend sind. Etwa als die Iraker in Bagdad mit Hilfe amerikanischer Militärtechnik das gigantische Standbild Saddam Husseins vom Sockel zerrten. Doch gehörte Kosmodemjanskaja nicht zu den Guten? Schließlich kämpfte sie für ihre Heimat und gegen die deutschen Besatzer, während Saddam recht eindeutig der Despot seines Landes und verantwortlich für ein brutales System der Unterdrückung war. Kosmodemjanskaja unterdrückte niemanden, ihr Denkmal in Tschernihiw wurde lange nach ihrem Tod errichtet, noch zu Zeiten der Sowjetunion. Was macht sie also bei den Ukrainern vor Ort so verhasst, dass diese nun auch Krieg gegen Steine führen? Und ist hier wirklich Faschismus am Werk, wie die Lautsprecher des Kremls es heute gern allem Ukrainischen anlasten?
Nirgends ein kleinster gemeinsamer Nenner mehr
Die ersten Statuen, die in der an heroischen Memorablen nicht gerade armen DDR abgeräumt wurden, waren die Stalins. Klammheimlich und ohne große Erklärungen verschwanden Denkmäler und Straßennamen aus den Stadtbildern. Die unter Chruschtschow verordnete Entstalinisierung war freilich auf den Straßen leichter durchzuführen als in den Köpfen. Mit dem Untergang der DDR verschwanden schließlich auch Lenins steinerne Handweisungen, jedoch recht zivilisiert mit Hilfe von Kran statt Hammer.
Auch wenn die zerfallende Sowjetunion damals genug mit sich selbst beschäftigt war, waren die Verantwortlichen im wiedervereinten Deutschland klug genug, nur eine gescheiterte imperiale Ideologie von den Sockeln zu holen und – etwa in Berlin-Treptow – die Gedenkorte an den Blutzoll der Roten Armee intakt zu lassen. Man nahm ihnen zwar das Pathos, die Patina jedoch ließ man ihnen.
Im Moment sieht es jedoch so aus, als wolle man überall „Tabula rasa“ machen mit allem, was irgendwie russisch oder – was in der Wahrnehmung der Welt schon immer identisch war – sowjetisch ist. Nicht nur in der überfallenen Ukraine werden Denkmäler geschleift. Auch in anderen Ländern, die der Westen zumindest lange Zeit gern und großzügig der „russischen Einflusssphäre“ zuordnete, findet sich Vergleichbares. Auch in Polen werden gerade Denkmäler der Roten Armee abgerissen. Ein Wunder eigentlich, dass sie ausgerechnet dort so lange gestanden hatten.
Der letzte Besatzer ist immer der Schlimmste
Von Deutschland aus betrachtet, erscheint es kleinlich, ja kindisch, sich an Steinen abzuarbeiten, die aus der Vergangenheit auf uns gekommen sind. Es ist und bleibt Vandalismus, und den werde ich nicht entschuldigen. Doch sollten wir bei der Betrachtung der zerstörten Statue in Tschernihiw etwas zurücktreten und auf Weitwinkel zoomen. Am 3. März 2022 begannen die russischen Luftschläge gegen die Stadt Tschernihiw. Es war die Zeit des Vormarsches der Russen in Richtung Kiew, und als Standort des ukrainischen „Armeekommandos Nord“ war Tschernihiw direkt Kriegsschauplatz. Die Kämpfe in der Region endeten erst am 4. April, etwa 700 Menschen kamen laut ukrainischen Angaben ums Leben.
Schaut man sich das Bild der zerstörten Statue der Kosmodemjanskaja genauer an, fallen am Gebäude im Hintergrund die kaputten Fenster und die Einschusslöcher in der Fassade auf. Ich weiß es natürlich nicht wirklich, aber es ist plausibel, dass Kämpfe auch dort stattfanden. Zoomt man noch ein wenig weiter raus, sieht man vielleicht, wie der „Krieg der Steine“ auf der anderen, der russischen Seite geführt wird. Verschiedene Meldungen (ich verlinke hier eine türkische) zeigen, dass im von Russland eroberten Mariupol eine Statue der „Großmütterchen Anya“ errichtet wurde. „Als Symbol des Mutterlandes für die gesamte russische Welt“. In den Händen hält sie die Fahne der Sowjetunion. In Henitschesk, einer kleinen, nun ebenfalls besetzten Stadt am Asowschen Meer, klebten die neuen Herren das im Jahr 2015 abmontierte Denkmal Lenins wieder zusammen. Die ukrainischen Nachrichtenseiten schäumen vor Wut, wenn sie über solche Vorfälle berichten und verbergen ihre Genugtuung nicht, wenn sowjetische Denkmäler abgerissen werden. Im Krieg der Steine laufen Abriss und Errichtung von Denkmälern gewissermaßen um die Wette.
Russische Kritzeleien im Berliner Reichstag
Dass dies alles einer wiedererwachten faschistischen Gesinnung entspringt, kann nur glauben, wer in dem wechselseitigen Steineverschieben ein Zeichen von Stärke sieht. Es handelt sich meiner Meinung nach um Zeichen der Schwäche. Auf beiden Seiten. Die Ohnmacht der Ukraine, die russische Invasion zu beenden und die fadenscheinige Rechtfertigung Russlands für die Invasion, für die man die toten Symbole einer gescheiterten Epoche bemühen muss. Und weil die letzten Besatzer immer die schlimmsten und bedrohlichsten sind, holt man in der Ukraine gegen die Gespenster der sowjetischen Zwangsgemeinschaft jene der Feinde der Sowjetunion aus dem Zweiten Weltkrieg hervor. Nicht wissend oder sehen wollend, dass nationalistische oder gar faschistische Gespenster Putin nicht erschrecken, sondern mühelos als Grund und Anlass dienen können.
Der Krieg der Steine wird weitergehen in der Ukraine, und er ist nur eines von vielen Schlachtfeldern, auf dem jeder genau die Bilder von Ungeheuerlichkeiten finden wird, die er sucht und glauben will. Der Hass auf alles, was die jeweils andere Seite ausmacht und definiert, ist so groß und alt, dass es, selbst wenn der Krieg heute enden würde, lange dauern würde, bis man in Russland und der Ukraine wieder Anknüpfungspunkte und sowas wie einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ finden kann.
Wer heute das Untergeschoss des Reichstagsgebäudes in Berlin besucht, kann dort die restaurierten Kritzeleien der Soldaten der Roten Armee betrachten, die diese nach ihrem Sieg im Jahr 1945 dort hinterlassen haben. Nur einige besonders obszöne wurden auf Wunsch der russischen Botschaft bei der Restaurierung des Gebäudes entfernt. Eines Tages, wenn dieser Krieg endet, so hoffe ich, wird solches auch in der Erinnerungskultur zwischen Russen und Ukrainern endlich möglich sein. Dann wird man den Lenin in der Ukraine endgültig abmontieren und hoffentlich auch Obszönitäten wie seine Mumie an der Kremlmauer verscharren und die Statue der Kosmodemjanskaja wieder auf ihren Sockel in Tschernihiw stellen.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.