Gunter Weißgerber / 22.07.2023 / 14:00 / Foto: Alek Tretiak / 35 / Seite ausdrucken

Der Krieg als schwieriges Thema unter Freunden

Ein Besuch bei Freunden in Ungarn. Vieles verbindet uns seit vielen Jahren und jetzt steht der Ukraine-Krieg zwischen uns. Einig sind wir: Er soll unsere Freundschaft nicht zerstören. Aber wir können den Krieg auch nicht ignorieren und darüber schweigen.

Wir waren vor kurzem wieder einmal bei unseren Freunden in Ungarn. Es war wie immer sehr schön, und das Essen schmeckte toll. In unseren Gesprächen lief es auch vertraut ab. Ob Politik, Gesellschaft, Bildung, Erziehung, Grundwerte, wie immer waren wir dicht beieinander. Den Kulturkampf der EU gegen Ungarn und Polen befanden wir in unseren Gesprächen gleichermaßen für dumm und der europäischen Idee abträglich. An einem einzigen Punkt unserer großen Liste an Übereinstimmung stellten wir unterschiedliche Sichtweisen fest. Das war eine schmerzhafte Situation, die wir auf zivilisierte Weise für den Moment retteten. Die Sicht auf den russischen Angriffskrieg in Ungarns Nachbarland ist zwischen uns in diesen Tagen eine andere. Wir beschlossen, uns darin einig zu sein, dass wir uns an einem Punkt nicht einig sind. Unsere Freundschaft wollen wir nicht mit einem Konflikt belasten, zu dessen Lösung wir ohnehin keine Chance haben.

Ich nehme das Erlebnis zum Anlass, meine Sicht darzulegen. 1989/90 sprach ich montags regelmäßig zu den hunderttausenden Demonstranten in Leipzig. Mein Ziel war die endgültige Absicherung der frisch gewonnen Freiheit. Nur in der deutschen Einheit und damit in der Mitgliedschaft in der NATO sah ich das gewährleistet. Ich wusste aus der Geschichte der Volksaufstände 1953 in der DDR und 1956 in Ungarn sowie im Niederschlagen des „Prager Frühlings“ 1968 in der CSSR, dass ein Moskauer Herrscher blutig wiederkommen könnte, wenn er die Chance dazu hat. Zum Glück ließ Gorbatschow nicht die Panzer auf uns los und hielt sich an seine „Sinatra-Doktrin“ von 1988. „Jedes Land sollte seinen Weg gehen dürfen“, sagte er damals. Wäre ein Putin 1989 sowjetischer Staatschef gewesen, wäre Leipzig womöglich im Blut erstickt worden, und ich könnte das alles heute nicht schreiben. So wie es Putin drei Jahrzehnte später für die Ukraine vorsieht. Viktor Orban sagte dazu in Berlin, ich war anwesend, die Ungarn haben ihren eigenen Selenskyj namens Imre Nagy

Unsere Freunde sprachen neben vielen anderen Punkten die fehlende US-Hilfe 1956 für die aufständischen Ungarn an. Das war eine fürchterliche Erfahrung. Ich glaube ähnlich dem Trauma von Trianon. Aber 1956 konnten die Amerikaner den Ungarn nicht helfen. Ungarn lag im sowjetischen Herrschaftsgebiet. 1989 hoffte ich auch nicht auf die militärische Hilfe der USA. Das war abwegig. Die Amerikaner bzw. die NATO können erst helfen, seit die Sowjetunion ihre Nachbarn nicht mehr unterdrücken kann. Genau deshalb wollte nicht nur ich junger Mann aus Leipzig in die NATO, sondern die Polen, die Balten, die Tschechen, die Slowaken, die Bulgaren, die Rumänen und auch die Ungarn. Aus denselben Gründen sind die Finnen auch dabei und werden die Schweden folgen. Die Freiheit muss gesichert sein.

Was auch für Ukraine gilt. 1991 stimmten 90,3 Prozent der Bevölkerung für die Souveränität. Selbst die Krim stimmte mit 54,19 Prozent für die Unabhängigkeit. Russland akzeptierte das in vielen Verträgen. 1994 zwangen die USA die Ukraine zur Übergabe ihrer Atomwaffen an Russland. Im Gegenzug entwickelten sie mit Russland, Großbritannien und China das „Budapester Memorandum“, welches die Unverletzlichkeit der Ukraine garantieren sollte. 2014 brach Putin das Abkommen und die anderen Garantiemächte, USA, Großbritannien und China ließen, das geschehen. Die Ukraine war 1994 die drittstärkste Atommacht der Welt. Diese solcherart geschützte Ukraine hätte Putin ganz sicher nicht angegriffen. 

Die Ungarn haben den Krieg im Nachbarland

Unsere Freunde sprachen auch die Nationalitätenpolitik in der Ukraine an. Gerade die Ungarn dort haben viel Grund zur Klage. Mir ist das selbstverständlich bekannt, doch sehe ich das als großrussisches/sowjetisches Erbe. Die Völker unter der Knute Moskaus machten viele Jahrhunderte schlimme Erfahrungen mit der Russifizierung. Die kannten das alle nicht anders und verhielten sich oft ähnlich gegenüber anderen Völkern im Herrschaftsgebiet. Das entschuldigt gar nichts, erklärt aber einiges.

Ich erinnere mich bei diesem Punkt an eine Abgeordnetenreise nach Ungarn 1997. Es ging um den kommenden EU-Beitritt und speziell um die Situation der deutschen Minderheit in Ungarn. Damals hatte Ungarn noch Nachholbedarf im Umgang mit nationalen Minderheiten. Die Idee des Vorzugsmandats für Minderheiten wurde damals besprochen. Das alles gehörte zu den Voraussetzungen für den Beitritt zur EU. Heute ist Ungarn schon lange vorbildlich im Umgang mit seinen Minderheiten. Die Ukraine muss sich in Beitrittsverhandlungen auch auf diesem Feld den europäischen Standards angleichen. Ohne vorbildliche Behandlung ihrer Minderheiten gibt es kein Eintrittsticket. Definitiv!

Doch zuerst muss die Ukraine ihren Abwehrkampf möglichst erfolgreich führen können. Das sehe ich so. Ich sehe auch, dass ich mich 1.500 km von der Ukraine in Sicherheit wiegen kann und die Ungarn den Krieg neben sich erleben müssen. Das zieht andere Sichtweisen nach sich. Das ist mir völlig klar. Vor diesem Hintergrund kann ich Kritikern der ungarischen Haltung viel erklären. Die Ungarn wollen nicht in den Krieg gezogen werden und wollen nie wieder russische Truppen im Lande haben. Aber dasselbe wollen die Ukrainer auch nicht haben. Ich auch nicht. Mein Tag der Befreiung ist nicht nur der 8. Mai 1945. Es ist der 31. August 1994. An diesem Tag zogen die letzten russischen Soldaten aus Ostdeutschland ab.

Unsere Freunde sprachen auch über die ukrainischen Getreidelieferungen in die EU zu Lasten der einheimischen Getreideproduktion. Damit haben sie recht. Doch kann die Ukraine dafür nicht in Verantwortung genommen werden. Es ist die EU-Politik, genauer: die dumme Energiewendepolitik. In der EU werden immer mehr landwirtschaftliche Flächen stillgelegt oder für Wind- und Solarparks zweckentfremdet. Hier ein interessanter Beitrag dazu: „Ukraine: Getreide für Afrika? Nein, für China und Europa!“ Nur ein Bruchteil geht in die bedürftigen Länder. Das meiste nach China, EU, Türkei. 

2024 wird in der Europäischen Union wieder gewählt. Hier gibt es immerhin die Chance, für eine vernünftigere Politik aus Brüssel zu votieren. 

Foto: Alek Tretiak

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Leserpost

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Henri Brunner / 22.07.2023

“Wäre ein Putin 1989 sowjetischer Staatschef gewesen, wäre Leipzig womöglich im Blut erstickt worden, und ich könnte das alles heute nicht schreiben” Meine Güte, kleiner gehts ja nicht mehr - aber sowas Aufgeblasenes muss man ja auch mal schreiben können, ohne dabei peinlich berührt rot zu werden. Genausogut könnte man sagen: wäre Putin an Churchills Stelle gewesen, wären ALLE deutschen Städte mit Kund und Kegel in Grund und Boden gebombt worden .... so wars (Churchill sei Dank) barmherzigerweise nur gerade Dresden und wenige andere Städte. Wer hier Spott, Hohn, Sarkasmus findet: ja, genau da ist er zu finden. Und über die amerikanische Art, Krieg zu führen (mal zuerst alles Niederbomben) wollen wir jetzt nicht sprechen. Immerhin gut: trotz seinem typisch deutschen Furor hat der Autor sich dazu durchringen können, die Differenz zu seinem Freund stehen zu lassen - das können die meisten verstrahlten Deutschen nicht.

Dr. Ralph Buitoni / 22.07.2023

Wie die deutschen Linken so dröhnend über die Ereignisse 2014ff schweigen können belegt, dass diesen Deutschen einfach nicht zu trauen ist. 1994 mag die Krim für die Unabhängigkeit gestimmt haben, aber als 2014 die von den USA installierte Putschregierung ankündigte, alles russische in der Ukraine ausmerzen zu wollen (und dem sofort mit Truppenentsendungen Nachdruck verleihte) stimmte die Krim sofort in einem Referendum zunächst für eine ausgeweitete Autonomie. Erst als die NS-nahen zentralukrainischen Kräfte ihre Entschlossenheit zu einer gewaltsamen “Integrationspolitik” mit Angriffen und Pogromen (Odessa) Nachdruck velieh stimmte die Krim für die Losläsung von der Ukraine. Dass die deutschen Linken über diese Ereignisse schweigen (obwohl es dazu genug Dokumentationen aus der Zeit durch “Putinsender” wie ARTE, BBC, selbst ZDF und ARD existieren) zeigt, dass das rot-grüne Problem in Deutschland viel tiefer geht als Parteiassoziationen suggerieren, ja, dass dieses Land einen tiefgehenden braunen Untergrund in seinen “Eliten” hat, der sich nur zeitgedrungen nach 1945 rot-grün kostümierte. Leseempfehlung: The Fascist Kernel of Ukrainian Genocidal Nationalism - Grzegorz Rossolinski-Liebe 2015. Und Juden wie Max Blumenthal von “Grayzone”, oder Jacob Dreizin hätten dazu auch noch manches zu sagen. Deutschland: du mieses Stück Scheiße.

T. Schneegaß / 22.07.2023

Der Autor hat offensichtlich genau so gute Freunde in Ungarn wie wir. Wir haben sehr viele davon. Der Unterschied (zum Glück): Vieles verbindet uns seit vielen Jahren und auch der Ukraine-Krieg steht nicht zwischen uns. @T. Weidner: Soviel Wahrheit haben Sie entdeckt?

Thomas Szabó / 22.07.2023

Das Schicksal meines Heimatlandes Ungarn sollte eine Warnung für Europa sein. Ungarn wurde im Laufe der Geschichte von vielen Kriegen heimgesucht. Die ausgedünnte ungarische Bevölkerung wurde durch Migration wettgemacht. Ungarn wurde ein Vielvölkerstaat. Der im 19 Jahrhundert aufkommende Nationalismus spaltete die Völker. Die Ungarn wollten vom Habsburgerreich weg, die ungarischen Minderheiten wollten von Ungarn weg. Ungarn reagierte auf die Unabhängigkeitsbestrebungen mit Druck und wollten die Völker mit Zwang assimilieren. Das war falsch. Großungarn feierte sein 1000 jähriges Bestehen 1896. Nach dem 1 Weltkrieg fiel die Monarchie auseinander. Ungarn spaltete sich von Österreich ab, die Minderheiten Ungarns wurden neuen Staaten angeschlossen: Rumänien, Serbien, Ukraine, etc. Ungarn verlor mit dem Vertrag von Trianon dreiviertel seines historischen Territoriums. Während des 2 Weltkriegs kooperierte Ungarn mit dem 3 Reich und gewann einige Gebiete zurück, die nach dem Krieg wieder verloren gingen. Vielerorts wurden die ungarischen & deutschen Bevölkerungsanteile aus ihrer Heimat vertrieben. Heute behaupten die neuen Herren der abgeschnittenen ungarischen Territorien, dass diese Gebiete ihnen zustehen und bezichtigen die Ungarn panisch des Nationalismus & Faschismus, wenn sie Großungarn gedenken. (Die Deutschen kennen das mit Polen.) Ein Nationalist & Faschist ist derjenige, der wem anderen seine Heimat nimmt, dessen Nationalstolz auf Diebstahl, Vertreibung, Lügen fußt. Bis nach dem Ende der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts galten Eroberungskriege, Kolonialismus und zwangsweise Assimilation nicht als verwerflich. Gerade die historischen Sieger, diejenigen die ihr Territorium vergrößert haben, haben oft nur wenig aus der Geschichte gelernt. Manche Völker haben die Mentalität von Dieben: “Sieh mein Sohn, dieses Land hat noch dein Großvater gestohlen! Bewahre sie für deine Kinder und Kindeskinder!”

Gudrun Meyer / 22.07.2023

EU-Wahlen sind Scheinwahlen. 2019 hat eine deutsche Politikerin mit Unterstützung durch die französische Regierung und vermutlich vor allem durch ein paar wichtige Vorstände die EU-Wahlen “gewonnen”, obwohl sie auf keiner einzigen Kandidatenliste stand. Vor der Wahl hatte die Union behauptet, wer sie wähle, stimme damit für Manfred Weber. Nee, die Mühe, 2024 zur EU-Wahl zu dackeln, werde ich mir nicht mehr machen. Auf den Arm nehmen kann ich mich selbst. Etwas mehr Hoffnung setze ich auf die Landtags- und Bundestagswahlen in Deutschland selbst.

Marcel Seiler / 22.07.2023

Die Sichtweise des Autors Weißgerber hat meine Zustimmung. Für Zuschriften, die Russlands Brutaldiktaturen verharmlosen, habe ich kein Verständnis.

Peter Holschke / 22.07.2023

Abwehrkampf? Abwehrkampf? Hat der Autor wirklich Abwehrkampf geschrieben, als Garnierung der verkürzten Geschichtsfälschung? Liebe Leute, das Wort “Abwehrkampf” stinkt nach LTI aus der Hexenküche v9n Goebbels. “Abwehrkampf im Osten”.

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