Von Arthur Abramovych.
Vor dem großen Museum der Geschichte der polnischen Juden in Warschau erwartet einen keineswegs wie hierzulande die Polizei, sondern stattdessen ein monumentales Denkmal, das dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 gewidmet ist. Und auch sonst gibt es eine Reihe wohltuender Auffälligkeiten. Nicht der Antisemitismus, sondern das Judentum selbst steht im Vordergrund
In jüdischen Museen in Deutschland dominieren zumeist zwei Themen: die Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis sowie die Unterdrückung der „Palästinenser“ durch die Israelis. Hinter hohen Absperrungen und nicht selten unter Polizeischutz darf der deutsche Besucher sich aufklären lassen über die Taten seiner Großeltern, um anschließend, bewaffnet mit einem guten Gewissen ob seiner gelungenen Entnazifizierung, zu erfahren, was er schon immer wusste: nämlich dass die Juden gar keinen eigenen Staat bräuchten und überhaupt, dass heutzutage „auch den Perspektiven anderer religiöser und ethnischer Minderheiten Raum“ in jüdischen Museen gegeben werden müsse. Salopp gesagt also: dass die Moslems die neuen Juden sind und die Juden die neuen Nazis.
Wer dieses Programm genießen möchte, kommt allemal auf seine Kosten im Jüdischen Museum Berlin, wo (vorzugsweise jüdische) linke Intellektuelle wie Judith Butler unter dem zweifellos als rhetorische Frage gemeinten Titel „Gehört der Zionismus zum Judentum“ erläutern, dass BDS das einzige Mittel gegen den israelischen Kolonialismus sei.
Ganz anders verhält es sich mit jüdischen Museen abseits des Landes. In Warschau, vor dem großen Museum der Geschichte der polnischen Juden (eröffnet 2013) erwartet einen keineswegs die Polizei, sondern stattdessen ein monumentales Denkmal, das dem jüdischen Aufstand im Warschauer Ghetto von 1943 gewidmet ist. Sogar die Straße, in der das Museum steht, ist nicht etwa nach einem Opfer der Gaskammern benannt, sondern nach Mordechaj Anielewicz, einem der Anführer jener jüdischen Erhebung gegen die Nazis.
Die Geschichte der polnischen Juden lässt man hier auch keineswegs 1939 einsetzen, sondern dort, wo sie tatsächlich begann: im Hochmittelalter, während der Kreuzzüge, als die katholische Kirche nicht länger imstande war, die Juden in deutschen Landen vor dem aufgebrachten Mob zu schützen und es massenhaft zu Pogromen kam. Die Reaktion darauf war eine Auswanderungsbewegung der aschkenasischen Juden noch Osten.
Nicht der Antisemitismus, sondern das Judentum selbst steht im Vordergrund
Das älteste Ausstellungsstück ist denn auch eine jüdische Münze aus dem 13. Jahrhundert, geprägt von aus dem Heiligen Römischen Reich in die damaligen polnischen Herzogtümer ausgewanderten Juden. Dass die Anfänge schwer waren in diesen Herzogtümern, wo es zuvor keinerlei jüdische Präsenz gegeben hatte, dokumentiert die Dauerausstellung anhand des innerjüdischen intellektuellen Diskurses jener Zeit; die Juden in Polen galten den Brüdern im Reich und in Böhmen als in religiösen Belangen besonders ungebildet. Dieser Umstand legte sich, als nach und nach Rabbiner aus Prag und zahlreichen deutschen Städten nach Polen gingen, um die dortigen Juden anzuleiten.
In den nachfolgenden Jahrhunderten nahm die Zahl der polnischen Juden stetig zu. Dass es den Juden in Polen besser erging als wohl in allen übrigen Staaten Europas, führte zu einer jüdischen Legendenbildung um König Kasimir den Großen, Gründer der Universität Krakau; er soll, ganz wie der persische König Ahaschwerosch im biblischen Buch Esther, eine jüdische Geliebte desselben Namens gehabt und daher derart aufgeschlossen gewesen sein gegenüber jüdischen Belangen.
Neider kritisierten in der Frühen Neuzeit nicht nur die massive Dominanz des Adels im damals größten Staat Europas, sondern bezeichneten Polen-Litauen darüber hinaus polemisch als „Paradisus Judeorum“ (Paradies für Juden). So waren es denn auch insbesondere polnische Adlige und Juden, die Mitte des 17. Jahrhunderts unter dem Kosaken Bogdan Chmelnyzkyj und den Erhebungen jener ukrainischen Bauern und Kleinbürger zu leiden hatten, die sich mit den Moskowitern verbrüderten.
Der Niedergang des polnischen Adelsstaates im 18. Jahrhundert bedeutete auch einen Niedergang des dortigen Judentums. Die Dauerausstellung dokumentiert den Pseudomessianismus, der daraufhin im polnischen Judentum entstand, am prominentesten in der Person des falschen (und letztlich zum Islam konvertierten) Messias Schabbatai Zwi. Doch auch die Anfänge des in Polen entstandenen, volksnahen und bis heute existierenden Chassidismus in all seinen Ausprägungen werden nicht unterschlagen. Es handelt sich hier um das rare Exemplar eines jüdischen Museums, in dem nicht der Antisemitismus, sondern das Judentum selbst im Vordergrund steht.
Eine weitgehend deutschsprachige, aber genuin jüdische Kultur
Nach den polnischen Teilungen gegen Ende des 18. Jahrhunderts teilt sich auch die Geschichte der polnischen Juden auf; die Juden in Preußen wurden bald restlos assimiliert und fühlten sich nur noch als Deutsche; der in Posen geborene Dramatiker Ernst Toller sollte in seiner Autobiographie späterhin ausführen: „Die Juden fühlten sich (hier) als Pioniere deutscher Kultur. Deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz, der ans Lächerliche grenzte, ‚gehütet und gepflegt‘.“
Im habsburgischen Vielvölkerstaat hingegen, wo kaum Germanisierungspolitik betrieben wurde, waren die polnischen Juden weniger assimiliert; es entstand hier eine weitgehend deutschsprachige, aber genuin jüdische Kultur. Allerdings handelte es sich bei ihren Zentren weit weniger um die polnischen Städte Krakau und Lemberg, als vielmehr um Prag und Wien; viele Juden aus dem österreichischen Teil Polens zogen in den Westen des Landes, wovon etwa die Biographie des galizischen Juden Joseph Roth zeugt.
Nur im russisch besetzten Teil Polens kam es weder zu Assimilation noch zu massenhaftem Wegzug, da hier, unter der Zarin Katharina, ein bis 1917 bestehender jüdischer „Ansiedlungsrayon“ eingerichtet wurde. Dieser umfasste in etwa die alten Grenzen Polen-Litauens aus dem Jahre 1500, sodass die Juden im Zarenreich fast ausnahmslos in den ehemals polnischen Gebieten (heute Ostpolen, Litauen, Weißrussland sowie die West- und Zentralukraine) siedeln konnten und es etwa kaum Juden in St. Petersburg und Moskau gab. Diese massive Einschränkung der Freizügigkeit führte dazu, dass die Juden im russisch besetzten Teil Polens später zu den eifrigsten Anhängern des Zionismus avancierten; denn wenn auch der Zionismus als Bewegung von Theodor Herzl, einem in Budapest geborenen deutschsprachigen Juden, ins Leben gerufen wurde, handelte es sich bei der größten Gruppe der Delegierten auf den ersten Zionistenkongressen doch um polnische Juden.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstand Polen neu, im Anschluss an einen gewonnenen Krieg gegen die expansive Sowjetunion. In dieser Zweiten Polnischen Republik (1918–1939), insbesondere unter dem heutzutage teilweise als Faschisten geschmähten Marschall Józef Piłsudski, blühte das jüdische Leben in Polen noch einmal kurzzeitig auf. Das Museum dokumentiert zwar, wie verbreitet der Zionismus, nicht zuletzt in seiner (damals peripheren, heute aber dominanten) antisozialistisch-nationalliberalen, sog. „revisionistischen“ Spielart, unter polnischen Juden war. Benzion Netanyahu, der Vater des heutigen israelischen Premierministers, war etwa in Warschau zur Welt gekommen und wanderte als Jugendlicher 1920 nach Israel aus.
Der in Deutschland weitgehend unbeachtete Antisemitismus Stalins
Vom Reichtum des polnisch-jüdischen Kulturlebens zeugt allerdings die starke jüdische Präsenz in der damaligen polnischen Politik ebenso sehr wie die vielfältige jüdische Presselandschaft. Unter derartigen Bedingungen erstarkt der Wille, zu bleiben; viele polnische Juden engagierten sich in der Arbeiterpartei „Bund“, die sich vehement gegen die Auswanderung nach Israel aussprach. Der Schriftsteller Schalom Asch befand 1928 in der jiddischen Zeitung Hajnt: „Das Schicksal hat uns mit dem polnischen Volk vereint, und unsere Wünsche und Hoffnungen richten sich auf beide Völkern, auf eine gemeinsame, helle Zukunft.“
Diese Zukunft war den polnischen Juden bekanntlich nicht vergönnt; 1939 wurde Polen abermals geteilt, diesmal zwischen Hitler und Stalin. Die meisten polnischen Juden fielen den Nationalsozialisten zum Opfer, etliche auch den Kommunisten.
Die letzten Säle des Museums sind der Nachkriegszeit gewidmet. Dass es 1946 durch die verarmten Polen zu Pogromen an den aus KZs heimkehrenden Juden kam, wird nicht unterschlagen, ebenso wenig allerdings der in Deutschland weitgehend unbeachtete Antisemitismus Stalins. Dieser hatte bereits im Anschluss an seinen Pakt mit Hitler, 1939–41, im Zuge der Eliminierung der polnischen Intelligenz mehrere zehntausend polnische Juden nach Sibirien verschleppt sowie zu Zwangsarbeit verdammt und ließ nun, nach dem gewonnenen Krieg gegen Hitler und der Staatsgründung Israels, Schauprozesse gegen Juden als „bourgeoise Nationalisten“ sowie als vermeintliche „Agenten des amerikanischen Imperialismus“ veranstalten. Ein offizielles Gedenken der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus gab es in Polen – ebenso wie in allen übrigen sowjetisch besetzten Ländern – zunächst nicht; erst in den 1970er Jahren veranstalteten bezeichnenderweise katholische Oppositionsgruppen Vorträge und Ausstellungen über das polnisch-jüdische Kulturerbe.
Nicht das Sterben, sondern das Kämpfen der Juden steht im Vordergrund
Von den insgesamt 60 Sälen dieses gigantischen Museums ist nur eines den nationalsozialistischen Vernichtungslagern gewidmet, zwei hingegen dem Warschauer Ghetto einschließlich des jüdischen Aufstands, der dort 1943 geprobt wurde. Nicht das Sterben, sondern das Kämpfen der Juden steht im Vordergrund; und so wird hier jenen Juden, die sich wehrten, doppelt so viel Platz eingeräumt wie den wehrlosen Juden.
Auch die bis Ende des Kalenderjahres zu besichtigende Sonderstellung ist (anlässlich seines 80. Jahrestags) dem Aufstand im Warschauer Ghetto gewidmet und stellt eine detaillierte Rekonstruktion der Vorbereitungen wie der Kampfhandlungen dar. Und am Ende des gut fünfstündigen Rundgangs durch nahezu ein Jahrtausend polnisch-jüdischer Geschichte stellt man erleichtert fest: Nach Israelkritik sucht man hier ebenso vergebens wie nach Vergleichen der damaligen Juden mit den heutigen Moslems.
Artur Abramovych (geb. 23. Januar 1996 in Charkiv) ist ein deutsch-jüdischer, in Berlin lebender Literaturwissenschaftler ukrainischer Herkunft. Er lebt in Berlin und ist Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten.
POLIN Muzeum Historii Żydów Polskich
Adresse: ul. Mordechaja Anielewicza 6, 00-157 Warszawa
Eintritt regulär: 45 zł (ca. 9€)