Henryk M. Broder soll gesagt haben, dass nicht alles schlecht gewesen wäre im Nationalsozialismus? Schon ein aus dem Zusammenhang gerissener Halbsatz reicht manchen Journalisten für aufwallende Empörung.
„Broder hat das Recht über den NS Witze zu reißen verwirkt, als er begann, das Andenken nicht nur seiner Familie wie Dreck zu behandeln. Den kleinen Kapo zu verteidigen, ist arische Genugtuung, nehme ich an.“
Dies hat der WDR-Journalist Lorenz Beckhardt in einem mittlerweile gelöschten Twittereintrag geschrieben. Warum er den Eintrag gelöscht hat, ist so unerklärlich wie die Frage, warum er ihn überhaupt geschrieben hat.
Wurde der Kommentar zurückgezogen, weil erkannt wurde, dass es schon ein leichtes Geschmäckle hat, wenn ein öffentlich-rechtlicher Journalist darüber entscheidet, wie lange ein Jude in Deutschland ein Recht darauf hat, über den Nationalsozialismus Witze zu machen?
Oder wurde der Kommentar zurückgezogen, weil es einfach nur unfassbar unterirdisch ist, dem jüdischen Sohn einer dem Holocaust entkommenen Familie vorzuwerfen, er würde das Andenken seiner Familie mit Füßen treten? Es hört sich fast so an, als würde von Seiten des WDR geraunt: Solche Juden hat Deutschland nicht verdient.
Lorenz Beckhardt nennt Henryk Broder einen „kleinen Kapo“. Kapos waren Häftlinge, die in den Konzentrationslagern von der SS ausgewählt wurden, um der Lagerleitung zu helfen und die anderen Häftlinge zu beaufsichtigen. Dabei hatten sie die Möglichkeit, sich durch besondere Brutalität gegen die anderen Häftlinge Vergünstigungen und Privilegien zu „verdienen“, zum Beispiel Alkohol oder den Besuch von Lagerbordellen.
Einen Juden als Kapo zu beleidigen, ist besonders in der jüdischen Gemeinschaft ein extrem niedriger Tiefschlag. Er erfolgt, wenn überhaupt, nur in persönlichen Streitigkeiten. In der Öffentlichkeit ist eine solche Beleidigung nur eine laute, böse Zunge. Vielleicht ist das der Grund für den Rückzug des Kommentars, denn auch in der Brust von Lorenz Beckhardt schlägt ein Herz, das den Rhythmus des Anstands kennt.
„Grundmantra jeder Diktatur“
Lorenz Beckhardt mag Henryk Broder nicht. Das ist klar. Aber was hat Beckhardt derart entgleisen lassen, dass er Broder einen „kleinen Kapo“ genannt hat? In einem aktuellen Interview mit der WELT hat Broder folgende These formuliert:
„Die Sache mit dem guten Zweck, der die Mittel heiligt, das ist das Grundmantra jeder Diktatur.“
Danach nannte Broder zur Verdeutlichung zwei Diktaturen in Deutschland, die von sich selbst erklärt hatten, gut zu sein, nämlich den Kommunismus und den Nationalsozialismus. Zum Kommunismus erklärte er, er habe auf „einem guten Fuß“ angefangen und die Idee war „vielleicht auch gut“ und er zitierte die Logik der Nazis, dass unter den Nationalsozialisten schließlich auch nicht alles schlecht gewesen sei, zum Beispiel „kamen die Arbeitslosen von der Straße.“ Für Broder aber „zählt das alles nicht“, für ihn zählt nur, „dieser mafiose Auftritt dieser Menschen, die etwas Totalitäres mit sich bringen“.
Henryk Broder sagte in dem Gespräch nichts anderes als das alte und bekannte Sprichwort, das immer mal wieder George Bernard Shaw zugeschrieben wird, obwohl niemand so genau weiß, woher der Spruch eigentlich kommt:
„Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, nicht mit schlechten. Alle Menschen haben gute Absichten.“
Wer sich mit den Texten von Broder beschäftigt, bemerkt schnell, er kritisiert alle Ideologien, die glauben, die Zukunft sei nur dadurch zu retten, dass in der Gegenwart Menschen geopfert werden. Wer glaubt, dass die Welt mit Sicherheit untergeht, wenn jetzt nicht gehandelt wird, der ist bereit, dafür selbst die krassesten Opfer zu bringen, besonders wenn diese Opfer von Anderen erbracht werden müssen.
Wenn ein Weltenretter glaubt, dass die ganze Menschheit und der ganze Planet in Gefahr ist, wenn gewisse Menschen ihr Verhalten nicht ändern, dann sieht sich jener gute und gerechte Weltwehrdienstleistende dazu berechtigt, die gefährlichen Menschen mit allen Mitteln an ihrer Weltgefährdung zu hindern. Das ist das „Grundmantra jeder Diktaur“, von dem Broder spricht.
Deshalb bringt er auch die beiden Beispiele Kommunismus und Nationalsozialismus, denn dort hat sich dieses Grundmantra in perverser Form manifestiert. Der Kommunismus wollte mit Gewalt das Paradies auf Erden schaffen und der Nationalsozialismus wollte den guten, gesunden und natürlichen Volkskörper; was gesund, gut und natürlich war, das erklärten die Nazis natürlich selbst.
Nur einen Schnipsel sehen
Seit Jahrzehnten schon analysiert Broder den Hang des Menschen zu totalitären Heilsversprechen und den Judenhass, der dort immer wieder anzufinden ist. Warum also glaubt jemand ernsthaft, Broder würde nun ein totalitäres Regime verharmlosen oder rechtfertigen? Haben die Leute, die ihm das vorwerfen, vielleicht nicht verstanden, was er sagen wollte?
Die Möglichkeit besteht, denn ich habe im Netz einen zusammengeschnittenen Schnipsel des Interviews gefunden, in dem man nur folgende Worte von Broder hört:
„… die Idee war vielleicht auch gut, aber nicht mehr und es war auch nicht alles schlecht im Nationalsozialismus, nicht wahr, die Arbeitslosen kamen von der Straße, ja …“
Wer sich das ganze Interview anschaut, wird sofort erkennen, dass sich der erste Teil des Satzes noch auf den Kommunismus bezieht und der zweite Teil des Satzes das Selbstverständnis der Nazis aufzeigt, dass sie sich für die Guten gehalten haben.
Ich fürchte daher, dass Lorenz Beckhardt nur diesen Schnipsel gesehen hat und dann einfach geurteilt hat, weil er Henryk schlicht und ergreifend nicht mag. Anders kann ich mir seinen Ausfall nicht erklären. Das würde allerdings bedeuten, dass beim WDR Menschen arbeiten, die sich derart von ihren Gefühlen leiten lassen, dass sie darüber ganz das Recherchieren vergessen.
Ganz abwegig ist diese Vermutung nicht, denn es gibt noch eine andere Person, die beim WDR arbeitet und offensichtlich Broder entweder missverstanden hat oder missverstehen wollte. Georgine Kellermann schreibt auf Twitter:
„Nichts, absolut nichts war gut am Nationalsozialismus. Die Arbeitslosen kamen von der Straße, weil sie Panzer bauen mussten. Das Geld dafür stammte unter anderem aus der ‚Arisierung jüdischer Unternehmen‘.“
Georgine Kellermann schreibt diese Worte so, als würde sie tatsächlich glauben, Broder wüsste das alles nicht. So kann nur ein Mensch über Broder schreiben, der nicht gut über ihn denkt. Henryk Broder braucht keinen Nachhilfeunterricht in Sachen Vergangenheitsbewältigung, schon gar nicht von Hofberichterstattern des öffentlich-rechtlichen WDR.
Katastrophen für die Zukunft
Für Broder ist die deutsche Vergangenheit des Nationalsozialismus nicht etwas, das er nicht vergessen will, weil er daraus eine Lehre ziehen möchte, er kann die Vergangenheit nicht vergessen, weil die Nazis seiner Familie Dinge angetan haben, die man nicht vergessen kann. Die Nazis haben seine Eltern verfolgt, eingesperrt und beinahe ermordet. Wie glücklich wäre Broder, wenn er den ganzen Horror einmal vergessen könnte. Er kann es aber nicht, denn die Wunden sind da. Da braucht er nun wirklich keine Gouvernante vom WDR, die dem bösen Juden nun auf die Finger klopft.
Henryk Broder hat seine Art, mit dem Horror umzugehen. Erinnert sei nur an die Satiresendung „Entweder Broder“, in der er vor über zehn Jahren zusammen mit seinem Kollegen Hamed Abdel-Samad unter anderen die Erinnerungsstätte des Konzentrationslager Dachau besucht hatte, sofort in die Kantine ging, um dort zu essen und festzustellen, dass sich das Essen im Lager, seit seine Eltern dort waren, durchaus verbessert habe. Danach ging er noch in den Souvenirladen, kaufte sich eine Postkarte von Dachau und schrieb sie an seine Frau mit den Worten: „Wish, You were here“.
Jeder Mensch mit Restbeständen von Anstand im Leib erkennt sofort, dass dies ein schmerzhaft-brüllend-komischer Weg ist, mit dem Horror umzugehen. Unanständige Menschen würden jedoch schreiben: Der kleine Kapo Broder möchte jetzt auch noch seine Frau ins KZ schicken.
Für Henryk Broder liegt die Katastrophe in der Vergangenheit. Für die Klimaaktivisten jedoch liegt der Horror in der Zukunft. Darum ging es nämlich in dem Interview mit der WELT. Es ging um jene Menschen, die heute glauben, zu den Mitteln der Gewalt und der Nötigung greifen zu dürfen, um die Welt vor dem vermeintlichen Untergang zu retten.
Broder nennt jene Menschen, die zur Erschaffung einer angeblich gerechten Welt präventiv zur Gewalt greifen „Ökofaschisten“, da sie versuchen, die Zukunft, die sie aus Angst und Panik vermuten, durch Aktionismus zu verhindern. Sie sind derart verengt mit der Zukunft beschäftigt, dass sie darüber vergessen, die Vergangenheit zu reflektieren. Auch für diese Verhaltensweise hat Broder bereits vor einigen Jahren den passenden Satz formuliert:
"Wenn ihr euch fragt, wie das damals passieren konnte: weil sie damals so waren, wie ihr heute seid."