Die Geschichte von einer Kindergärtnerin, einem bestellten Louis-Vuitton-Rucksack und einem gelieferten Klappstuhl wirft die Frage auf, was wir vom Leben erwarten.
Die Geschichte geht so: Jennifer N., 32 und Kindergärtnerin, hat einen sehnlichen Wunsch. Ihr Herz hängt an einem original Louis-Vuitton-Rucksack. „Seit ich 20 war, möchte ich so eine Tasche“, sagt sie laut BILD und BZ. Jeder Mensch hat einen Herzenswunsch, dieser ist der ihre. Nun begab sich die Angelegenheit, dass Jennifer von ihren Eltern Geld geschenkt bekam, was vielleicht ein bisschen unpersönlich war, aber durch die Umwandlung in den heißersehnten Rucksack durchaus personalisiert und manifestiert werden sollte.
Jennifer N., 32 und Kindergärtnerin, pfiff auf Umwelt und CO2-Verbrauch und das andere Gutmenschengedöns und orderte den Rucksack fürs Leben direkt auf der Homepage des bei vielen Frauen beliebten Herstellers von Statussymbolen, die natürlich nur einer exklusiven Elite von russischen Oligarchenehefrauen und irgendwelchen Clan-Dilaras vorbehalten sein sollten und dank ihres exorbitanten Preises nicht für die Zielgruppe Kindergärtnerin geeignet sind. Aber wer 2.000 € zu viel hat, darf sie gerne für etwas werbebedrucktes Leder ausgeben und im Müttertreff in der Goethestraße dann eine Spielerfrauen-Imitation geben. Jeans für 35 Euro, Handy für 1 Euro aus dem Handy-Vertrag, Rucksack für 2.000 Euro, so soll es sein.
Louis Vuitton nimmt auch gerne das Geld und verschickt die Ware. Laut UPS. Am 17. Oktober. Am 18. Oktober meldet sich UPS und will den Rucksack fürs Leben ausliefern, doch da Jennifer N. keine Oligarchenfrau ist, muss sie leider arbeiten. Sie bekommt aber den Termin für den zweiten Zustellversuch, dieser soll am 19. Oktober um exakt 12.09 Uhr erfolgen, was ich schon fast eine brutal pünktliche Taktung finde. Nicht 12.08 Uhr, nicht 12.10 Uhr, nein, exakt 12.09 Uhr. Wer wieder nicht da ist, ist Jennifer N. Es geht ja auch nur um einen 2.000-Euro-Rucksack, den kann man auch mal im Treppenhaus abstellen.
Ein Klappstuhl, nicht von Louis Vuitton
Am Abend des 19. Oktober entdeckt Jennifer N. schließlich einen großen, flachen Karton vor ihrer Haustüre. Und wundert sich, wieso ihr 2.000 Euro teurer und schicker Rucksack in einem großen, flachen Karton angeliefert wird. Die Überraschung klärt sich schnell, denn als Jennifer N., 32 und Kindergärtnerin, das Paket auspackt, findet sie dort: einen Klappstuhl. Und es ist nicht einmal ein Louis-Vuitton-Klappstuhl, sondern einfach nur ein verdammter schnöder Campingklappstuhl in roter Farbe. Im Wert zwischen 58 und 88 Euro.
Nun wären andere Leute froh, sie hätten einen roten Campingklappstuhl, nicht aber die doch zu Recht verärgerte Jennifer N. Die ruft nämlich sofort den Hersteller für übertrieben teuren Lifestylefirlefanz und auch UPS an, denn Adresse und Versandnummer sind korrekt. Zuerst einmal tut sich: nichts.
Mitte November erhält Jennifer N, auf ihrem roten Campingklappstuhl sozusagen sitzend, einen Anruf einer ihr unbekannten Dame, die auch ihren Namen nicht nennen möchte, die behauptet, der Zusteller habe an Eides statt versichert, das Paket eigenhändig ausgehändigt zu haben. Es gäbe wohl auch ein Video, wie das Paket in den UPS-Transporter geladen würde. Leider nur nicht davon, wo es wieder ausgeladen wurde. Louis Vuitton ermittelt auch selbst, aber es ist kompliziert, das könne dauern, wird Jennifer N. getröstet.
Das Glück und das Leben – zwei Scherzkekse
Nach weiterem Schweigen will Jennifer N., die nicht einsieht, für einen roten Campingklappstuhl ohne Louis-Vuitton-Label 2.000 Steine zu latzen, ihr Geld via PayPal zurückzuholen. Das wiederum verstimmt den guten Louis, der jetzt zum Besten gibt, die Bestellung am 22. Oktober – also vier Tage, nachdem die Tasche laut UPS das erste Mal zugestellt werden sollte, mit dem richtigen Etikett versehen zu haben. Da dieses Etikett nicht mit dem des gelieferten Klappstuhls identisch sei, sei Jennifer N. wohl auf einen Betrüger hereingefallen. Tja. Und selbst für den Klappstuhl hat sie keine Rechnung erhalten. Jetzt sitzt Jennifer N. auf einem roten Campingklappstuhl der Marke Timber Ridge, während irgendeine andere Person stolz wie Bolle mit ihrem Louis-Vuitton-Rucksack den Müttertreff in der Goethestraße besucht. Oder einen roten Camping-Klappstuhl reklamiert, weil sie sich beim Angeln nicht auf die Tasche setzen kann. Man weiß es nicht.
Ja, dieser Artikel klingt spöttisch und wahrscheinlich ist er es auch. Wenigstens ein bisschen. Und er klingt nach „hebe nicht das Bein mit den großen Hunden, wenn du nicht Wasser lassen kannst“, was ebenfalls unfair ist. Jennifer wollte sich einen Traum erfüllen, geleitet von der Vorstellung, ein Louis-Vuitton-Rucksack sei ihr Eintrittsticket in die Welt fadenscheiniger Reicher und Schöner, denn „Du bist nichts, Dein Rucksacklabel ist alles“. Sie ist schlicht darauf hereingefallen, ein Statussymbol besitzen zu wollen, das sie ohne fremde Hilfe nicht hätte besitzen können. Andererseits gönne ich wirklich von Herzen jedem jedes vermeintliche oder tatsächliche Statussymbol und, Hand aufs Herz, wer von uns hat sich nicht schon ein Auto oder einen Partner geleistet, der seine Verhältnisse so ein klein wenig überstieg? So funktioniert nun einmal unsere Gesellschaft: Wir kaufen uns Dinge, von denen wir glauben, sie machten uns glücklicher oder wenigstens die anderen Mütter im Müttertreff in der Goethestraße neidisch und erleben dann manchmal einfach Schiffbruch. Weil Glück und das Leben eben zwei Scherzkekse sind. Luxus ist wichtig, denn er macht das Leben einfach ein bisschen interessanter und lässt uns gelegentlich aus der Masse unserer Mitmenschen herausragen – hier ging es schief. Und, seien wir ehrlich, jede von uns dachte sich doch schon einmal, dass ein Louis-Vuitton-Rolex-Submarine-Träger mit Montblanc-Kuli ein richtig erfolgreicher Typ sein muss, wie er sich da so schön aus dem Porsche faltet… Erst später sehen wir dann hinter die Kulissen und in die Leasing-Verträge. „Nicht jeder, der im Porsche prahlt, hat ihn mit barem Geld bezahlt…“
Der in irgendeiner dunklen Ecke meiner Seele verborgene Sozialist sagt: „Komm, Louis, schiebe eben noch einmal eine Tasche über den Tresen, dir tun die 2.000 Euro weniger weh als Jennifer Enpunkt“, aber warum sollte andererseits Louis Vuitton die Naivität und das bitter enttäuschte Gottvertrauen von Jennifer N. noch honorieren? Weil es einfach eine menschliche Geste wäre? Und beim nächsten Kandidaten mit ähnlicher Geschichte dann lieber nicht, weil, wenn das funktioniert, dann noch mehr Kunddoppelpunktinnen auf die gleiche Idee kommen?
1.940 Euro für eine bittere Lektion
Andererseits: Wie kann es sein, dass Louis Vuitton die Tasche erst am 22. Oktober labelt, wenn doch UPS schon ausgeliefert haben soll? Wenn hier aber ein Betrug vorliegt: Wie konnte Louis Vuitton die Tasche erst am 22. Oktober „im Lager labeln“ und hätte die Tasche dann nicht am 23. Oktober verschickt werden müssen? Entweder hat also Louis Vuitton das Geld für die Tasche erhalten und muss dann seiner Lieferverpflichtung nachkommen oder aber den Kaufpreis rücküberweisen. Hat Louis Vuitton das Geld nicht bekommen – wieso labeln sie dann die Tasche fünf Tage nach der Bestellung? Weder Louis-Vuitton noch UPS wollten der B.Z. oder der BILD eine Auskunft geben, was irgendwie auch zumindest seltsam ist.
Daher ist der Fall Jennifer N. gleich in zweierlei Hinsicht bedauernswert: Sie hat einen Haufen Geld für nichts ausgegeben, weil sie sich selbst mit der Tasche boostern wollte. Wer ihr Bild in einer der beiden obigen Quellen sieht, erkennt jedoch, dass sie dies eigentlich nicht nötig hat. Oder wenigstens haben sollte. Zornig steht sie in einem kunterbunten Chaos, entweder zu Hause oder an ihrem Arbeitsplatz. 1.940 Euro. Das entspricht in etwa einem Nettomonatsverdienst (ich habe den Klappstuhl abgezogen, den hat sie ja. Immerhin.). Weg. Für eine unangenehme Lektion.
Ist es böse, zu sagen, Jennifer N. sollte auf ihrem roten Campingklappstuhl mal ein paar Minuten darüber nachdenken, worauf es wirklich im Leben ankommt? Und: Sollten wir uns nicht alle einmal gelegentlich auf einen roten Campingklappstuhl setzen und darüber sinnieren, was uns im Leben wirklich wichtig ist und wer wir sind und wie und worüber wir uns definieren? In meinen letzten Minuten werde ich mich sicher fragen, ob mein Leben es wert war, gelebt zu werden. Ob es ein gutes Leben war. Meine Uhr oder mein Rucksack oder mein Auto werden dabei ganz sicher keine Rolle spielen. Unser allerletztes Auto ist sowieso ein Kombi.
(Weitere nachdenkliche Artikel des Autors unter www.politticker.de)
Von Thilo Schneider ist in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro.