Wollen Politiker etwas veranlassen, tun oder durchsetzen, ohne sich weiter um die Gesetzeslage und die Meinung des Volkes zu kümmern, verfallen sie gern auf die Methode Juncker: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt“, so Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission von 2014 bis 2019.
Der gewiefte Staatsmann kannte sich aus. Für ihn stand ohnehin fest: „Wenn es ernst wird, muss man lügen.“ Keine Frage, der alte Schluckspecht war ein Schlitzohr; ein Feigling war er nicht. Er sprach aus, was die anderen in der Hoffnung taten, dass es nicht weiter auffallen würde. Auf die Schliche sollte ihnen niemand kommen. Unterdessen jedoch gibt es auch dafür eine Strategie der Abwehr: die Methode Spahn, sozusagen eine Ergänzung der Methode Juncker als Mittel politischer Täuschung,
Was es damit auf sich hat, demonstrierte der Bundesgesundheitsminister, als ihm Theo Koll am vergangenen Sonntag in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ peinlich auf den Zahn fühlte. Statt, wie üblich, die Fragen zu überhören, um sich selbst über den grünen Klee zu loben, ging Spahn schnurstracks in die Offensive, indem er, kaum dass Koll von den „unverzeihlichen Fehlern bei der Impfstoffbeschaffung“ sprach, wissen wollte, wie es zu dem deutschen Impf-Chaos kommen könnte – warum denn andere, Israel, die USA, Großbritannien, so viel weiter sind als wir, was wo falsch gelaufen sei, wer versagt und die Verantwortung zu tragen hat.
Die Lage ist viel zu ernst
Um über all das zu sprechen, beschied der Minister den Journalisten, sei die Lage doch viel zu ernst. In der „Akutphase der Pandemie müssen wir jetzt erst einmal die Probleme des Tages lösen“, belehrte Spahn seinen Gesprächspartner. Sollte heißen, alle hätten gefälligst zusammen- und stillzuhalten, sich hinter der Regierung einzureihen. Klappe halten, lautete die Ansage an den Interviewer.
So leicht, so arrogant und dreist wollte der sich diesmal aber nicht für dumm verkaufen lassen. Dafür sah er die Lage seinerseits zu ernst. Statt der Majestät wie im ZDF üblich zu salutieren, nervte er durch Nachfragen. Kam damit jedoch nicht weiter. Es sollte dabei bleiben, dass es sich nicht gehört, in der Krise nach der Schuld derer zu fragen, die sie heraufbeschworen haben, durch blinden Aktionismus einerseits und zögerliches Zuwarten andererseits, vor allem beim Ankauf der Impfstoffe.
Natürlich, räumte Spahn ein, hätte man auf allen möglichen Ebenen, in Berlin, in den Ländern sowie in Brüssel manches früher entscheiden können. Nur sei das mittlerweile Schnee von gestern. Jetzt müsse man nach vorn schauen, auf das, was schon mehrfach nichts brachte: ein neues „Verordnungsverfahren“, eine „ordentliche Ressortabstimmung“. Dass dabei wiederum jene am Tisch sitzen würden, die schon bisher nichts Gescheites zustande brachten, blieb ungesagt.
Nachfragen gehört sich nicht
Im Gegenteil konnte man den Eindruck gewinnen, dass es moralisch verwerflich, geradezu unverantwortlich sei, überhaupt nach den Ursachen des Desasters, des Missmanagements zu fragen. Dass sich versündige, wer die Schuldigen öffentlich beim Portepee packen wolle. Mit dem Verweis auf die bedrohliche Lage, die zu guten Teilen auf sein Konto geht, verbat sich der Gernegroß jegliche Nachfrage: Erst Schaden verursachen oder wenigstens nicht hinreichend abwenden und dann die Schwere des angerichteten Desasters vorschützen, um die Kritik daran abzubügeln.
Kaum vorstellbar, dass ein Politiker noch dreister auftrumpfen könnte, um sich aus der Affäre zu schwindeln. Sich derart arrogant zu versteigen, dazu bedarf es einer besonderen Veranlagung, dafür muss einer schon ziemlich schief gewickelt sein, wie der nackte Kaiser im Märchen, geblendet vom narzisstischen Gefallen an der eigenen Rolle und Figur.
Persönlich sei das jedem, auch Jens Spahn, unbenommen. Wie er sich in den vier Wänden seiner eigenen Villa gibt, geht niemanden etwas an. Im Kabinett einer Regierung, die über die Geschicke von mehr als 80 Millionen Menschen entscheidet, sollte für Seinesgleichen jedoch kein Platz sein. Für die Bürger, die als Steuerzahler aufbringen müssen, was Ihro Gnaden für die Selbstinszenierung verbraten, ist der Minister eine Zumutung.
Eine gestammelte Drohung
Gleichwohl sollte niemand glauben, dass die „Methode Spahn“ keine Schule machen würde. Von der Leyen, Altmaier, Söder oder Laschet, die männliche Mutation unserer weiblichen Kanzlerin, werden dem Fingerzeig zum Ausweg aus der Verantwortung der angerichteten Misere schnell und gleichsam instinktiv folgen. Merkel stammelte bereits drohend: „Ich glaube, wenn wir später sehr vielen Menschen ein Angebot gemacht haben können zum Impfen, und dann sagen manche Menschen, jetzt möchte ich nicht geimpft werden, dann muss man vielleicht schon solche Unterschiede machen und sagen, okay, wer das nicht möchte, der kann vielleicht auch bestimmte Dinge nicht machen.“
Will sagen: Wer nicht mitzieht beim Vorgehen der Ratlosen, darf auch nicht wieder reisen, ins Restaurant gehen, Kino, Konzerte oder Theater besuchen, nicht mit den Kollegen in der Firma zusammenarbeiten. Söder hat seinen Wirtschaftsminister bereits zurückgepfiffen, als der es wagte, die Öffnung von Hotels und Skiliften nach dem vorläufigen Ende des Lockdowns Mitte Februar zu fordern, obwohl sogar ein weiterer Parteifreund, Georg Nüßlein, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, dasselbe fordert. Genauso Sachsens MP Michael Kretschmer (CDU). Der Zweifel sickert in die eigenen Riehen.
Gleichwohl werden immer mehr unserer politischen Laienspieler versuchen, ihre Köpfe aus der Schlinge zu ziehen, indem sie die Kritik am eigenen Tun moralisch diskreditieren, als ein ungehöriges Ausscheren aus der „Volksgemeinschaft“.
Das Blaue kommt vom Himmel
Denn ist das Chaos erst groß genug, können sich sogar seine Verursacher unter dem Schutzschirm der Notlage wegducken. Sind doch die Gutgläubigen im Volk seit jeher zufrieden mit den Kerls, die ihnen das Blaue vom Himmel herunter versprechen, zuerst eine Impfung noch im vergangenen Jahr, dann bis Ostern und nun bis zum Ende des Sommers. Perspektiven, die nicht glaubwürdiger sind als jede banale Lüge.
Wenigstens für diese Erkenntnis sei dem Gesundheitsminister Dank, zumal sich die Einsicht langsam herumzusprechen scheint. Unter den Bürgern greift Unwillen um sich. Nur noch sieben Prozent der Deutschen sind laut einer Spiegel-Umfrage mit „dem Start der Corona-Impfungen“ zufrieden, während zugleich ständig mehr Menschen gegen den Lockdown auf die Straße gehen, zuletzt mehrere tausend bei einem Autokorso durch Pforzheim. Nicht zu reden von der Stimmung im Ausland. Allein in Wien waren am Wochenende 10.000 auf der Straße, während in Brüssel 500 und in Amsterdam gar 600 festgenommen wurden, weil sie sich an verbotenen Versammlungen gegen die Corona-Beschränkungen beteiligt hatten.
Dass sie die Geschichte im Griff hätten, war stets ein fataler Irrtum derer, die sich machtpolitisch aufspielen. Vielleicht wäre es besser, Jens Spahn schaute einmal über die Zinnen seiner Beamtenburg, hinunter auf die Straße. Dort nämlich könnte Gefahr im Verzug sein. Die Hütte brennt, noch nicht lichterloh, aber schon an einigen Ecken.
Die 50 Rechtsanwälte, für deren Beschäftigung der Minister im vorigen Jahr 30 Millionen ausgegeben hat und im laufenden weitere 33 locker machen will, werden nicht ausreichen, das Feuer des Zorns zu löschen. Fassen doch auch die Journalisten jetzt wieder Mut, der Majestät über den Mund zu fahren; auch sie sind es leid, vor der angemaßten Kompetenz und ihrem Machgetue zu kuschen.
Theo Koll hat dies in „Berlin direkt“ so deutlich gezeigt, dass dem Minister in der Sendung bloß die Blamage vor den Zuschauern blieb. Yes, Minister, weiter so!