Kardinal Reinhard Marx besuchte kürzlich die „Queer-Gemeinde“ Münchner Schwuler und Lesben. Diese bilden jedoch keineswegs die Meinung aller katholischen Homosexuellen ab. Und außerdem: Wann darf es mal wieder um den Glauben gehen?
Die katholische Kirche schwebt immer auf der Höhe des Zeitgeistes. Anstatt in wahrhaft bedrohlichen Zeiten die Hilfe des Heiligen Geistes und der Gottesmutter Maria auf die verunsicherten Menschen herabzurufen, erklären ihre Abgesandten Waffenlieferungen in heiße Kriegsgebiete für „ethisch vertretbar“. Und bald werden kirchliche Würdenträger beider Konfessionen den vielen neuen Panzern, Fregatten und Tarnkappenbombern, die angeschafft werden sollen, ihren Segen geben, natürlich ganz im Sinne der kirchlichen Friedensethik und im Geiste christlicher Nächstenliebe.
Ganz oben auf der Welle surft, wie so oft, Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof der Diözese München Freising und langjähriger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Seit er nicht mehr für die Gesamtheit seiner Amtsbrüder sprechen muss, hechtet er nach jedem Zeitgeist-Zipfel, den er zu fassen bekommt. Unlängst stellte er in einem Interview der Süddeutschen Zeitung den Pflichtzölibat infrage, ein heißer Wunsch aller Kirchengegner und Schon-lange-Ausgetretenen, die auch dann nicht wieder in den Schoß von Mutter Ekklesia zurückfinden, wenn der erste Transsexuelle auf dem Stuhle Petra (sic!) Platz genommen hat.
In der Münchner Pfarrgemeinde St. Paul zündete Marx jüngst eine weitere Stufe seiner „Wir-lieben-Euch-doch-alle“-Umarmungsoffensive. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens der dortigen „Queer“-Gemeinde entschuldigte sich der Kardinal mit einem lässigen „Sorry“ für den Umgang der katholischen Kirche mit „sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten“. Seine Kirche habe es vielen Homosexuellen schwergemacht, daraus seien „Leidensgeschichten“ entstanden. Aber nun gelte es, Verantwortung zu übernehmen. Jeder, der dem „Primat der Liebe“ folge, könne von Gott angenommen werden, sagte er in dem mit einer Regenbogenfahne geschmückten Gotteshaus.
Dass der Erzbischof mit seiner Annäherung an das „Queer“-Konzept en passant die von der Kirche seit Urzeiten zäh verteidigte traditionelle Vater-Mutter-Kind-Familie infrage stellte, sollten ihm seine Berater hoffentlich deutlich gemacht haben. Aber vielleicht findet es der Kardinal und enge Vertraute von Papst Franziskus ja schon längst völlig normal und unterstützenswert, wenn sich Männer- oder Frauenpaare von Leihmüttern in Drittweltländern „eigene“ Kinder austragen lassen, um ihre heiß ersehnten Regenbogenfamilien zu gründen.
Minderheit innerhalb einer Minderheit
Doch worum handelt es sich überhaupt bei der von Marx mit seinem episkopalen Besuch gebauchpinselten „Queer-Gemeinde“? Einer Selbstdarstellung im Internet ist zu entnehmen, dass sich in München seit 20 Jahren Lesben und Schwule regelmäßig zu speziell auf sie zugeschnittenen „Queergottesdiensten“ versammeln. Wie kam es dazu? „Der Leidensdruck“, so lese ich, „bestand darin, in keinen Gottesdienst gehen zu können, der angemessen zur Sprache bringt, was die Initiatoren und Initiatorinnen bewegt: die Freude am eigenen Schwul- oder Lesbischsein, an der eigenen Transidentität und gleichzeitig das Leiden an der Kirche, die diese Freude nicht teilen will.“
Zunächst traf sich die „Queer-Gemeinde“ in St. Stephan in der Münchner Trabantenstadt Neuperlach, heute versammelt man sich, innenstadtnäher, in St. Paul, einem neugotischen Prachtbau nahe der Theresienwiese, unter dem Dach des „Pfarrverbandes München-West“. Etwa 40 Gläubige, meist schwule Männer, erschienen durchschnittlich zum monatlichen Gottesdienst, heißt es auf der Webseite. „Die Motivation speist sich vor allem aus der Erfahrung von Diskriminierung in der Kirche. Sie ist das Feuer, aus dem sich immer wieder Initiativen ergeben.“ Mit dem Besuch von Reinhard Marx sei jetzt ein Traum in Erfüllung gegangen.
Möglicherweise glaubt Marx, mit seinem Umarmungs-Coup die Gesamtheit der sich noch als katholische Christen definierenden Homosexuellen angesprochen zu haben. Doch bei der Queer-Gemeinde handelt es sich nicht um so etwas wie eine Interessenvertretung homosexueller Katholiken, sondern um eine Minderheit innerhalb einer Minderheit, die allerdings in besonderer Weise auf sich aufmerksam macht und vermutlich selbst auf die Idee kam, den medienaffinen, immer um gute Presse bedachten Geistlichen einzuladen.
Nichts mehr fürchten als Normalität
Dagegen dürften sich die allermeisten Homosexuellen, die der Kirche noch nicht den Rücken gekehrt haben und hin und wieder noch einen Gottesdienst besuchen, nicht die Spur eines Gedankens darüber machen, warum der Priester vorne am Altar nicht die Freude am eigenen Schwul-, Lesbisch- oder Sonstwassein „angemessen zur Sprache bringt“. Ein Priester zelebriert nach allgemeiner Anschauung den Ritus und predigt, hoffentlich, nur über das, was zuvor in den Lesungen und Evangelien vorgestellt wurde. Und ein Gottesdienst ist, wie der Name schon sagt, auch kein Ort, um mehr oder weniger exzessiv seine private Identität zu zelebrieren, sondern um die Worte der Heiligen Schrift zu hören und in demütiger Hingabe dem Allerhöchsten zu dienen.
Anders als es die oft staatlicherseits geförderten oder als Angestellte von Schwulenzentren oder Gleichstellungsstellen sogar fest besoldeten Aktivisten gerne hätten, existiert so etwas wie eine queere Community gar nicht. Oder, genauer gesagt, nicht mehr. Als Homosexualität noch strafbar und ein gesellschaftlicher Makel war, schlossen sich Menschen beiderlei Geschlechts zusammen, um gemeinsam für Gleichberechtigung zu kämpfen. Damals gab es noch eine „Szene“ und ein Gemeinschaftsgefühl, das soziale und bildungsmäßige Unterschiede und möglicherweise divergierende politische Haltungen in den Hintergrund treten ließ.
Doch in Zeiten, in denen volle rechtliche Gleichstellung bis zur „Homoehe“ erreicht wurde und abweichende sexuelle Orientierungen in der öffentlichen Wahrnehmung – zumindest der autochthonen Mehrheitsgesellschaft – mehr oder weniger normal geworden sind, ist dieser Kitt weggefallen. Jetzt zeigt sich wieder, dass die Lebenswelten Homosexueller genauso vielfältig sind wie die der „Heteros“. Den Aktivisten ist das natürlich nicht geheuer. Sie sind es, die nichts mehr fürchten als Normalität, weil es ihnen die Geschäftsgrundlage entzieht.
Fast schon protestantisch
Diese Vielfalt zeigt sich natürlich auch in Glaubensfragen. Während sich wohl eine Mehrheit der ihren Glauben noch regelmäßig oder zumindest sporadisch praktizierenden Homosexuellen gar nicht die Frage stellt, ob sie in einem Gottesdienst der Amtskirchen willkommen sind oder nicht, sondern einfach daran teilnehmen, haben andere bei alternativen Glaubensgemeinschaften eine spirituelle Heimat gefunden.
In München trifft man viele Schwule und Lesben in den Gottesdiensten der Altkatholiken. Diese Abspaltung der römisch-katholischen Kirche lehnt unter anderem das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma ab sowie die Transsubstantiationslehre, wonach sich Brot und Wein während der Heiligen Messe in Leib und Blut Christi verwandeln. Altkatholische Priester unterliegen keinem Pflichtzölibat, zudem sind Frauen zum Weihesakrament zugelassen; schon lange Zeit möglich ist auch die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare. Im Grunde genommen stehen die Altkatholiken da, wo irgendwann die römisch-katholische Kirche stehen könnte, würde der von Bischöfen wie Marx eingeschlagene Weg konsequent weiterverfolgt. Einer Wiedervereinigung mit den Protestanten stünden dann wohl nur noch ein paar Lässlichkeiten im Weg.
Auf der anderen Seite gibt es eine signifikante Zahl von Homosexuellen, die den Traditionalisten von der den „tridentinischen“ Ritus pflegenden Pius- oder Petrusbruderschaft nahestehen. Sie hängen ihre sexuelle Orientierung nicht an die große Glocke, zumindest nicht im kirchlichen Umfeld. Sie buhlen nicht ständig um Toleranz und Akzeptanz auf allen Ebenen, für sie ist alles, was sich unterhalb der Gürtellinie abspielt, Privatsache, weswegen sie bei den meist linken Aktivisten („Das Private ist politisch“) im Ruf der „Selbstdiskriminierung“ stehen. Zwischen ihnen und den Angehörigen einer „Queer“-Gemeinde liegen Welten, nicht nur liturgisch. Ob das dem sich so beherzt für sexuelle Minderheiten in die Bresche schlagenden Münchner Kardinal überhaupt bewusst ist?