Die Schwachkopf-Affäre ist fast schon wieder vergessen, aber sie ist keine Petitesse. Sie offenbart ein sprachliches Verwirrspiel und die Gefahren der Willkür.
Karl Valentin meinte, es sei schon alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem. Stimmt. Es ist noch nicht alles, aber doch schon recht viel gesagt worden zur sogenannten Schwachkopf-Affäre – nur noch nicht von mir. Na gut, dann mache ich das eben und zwar deshalb, weil mir fast alle Begriffe, die da verwendet werden, falsch vorkommen. Da werden Kategorienfehler gemacht, dass es nur so knirscht im Gebälk. Politik, Justiz und Presse haben einen Irrgarten aus Falschgeld-Formulierungen entstehen lassen, der den Blick verstellt.
Da heißt es zum Beispiel, es wäre ein Mann „bestraft“ worden, weil er etwas „veröffentlicht“ hätte, wodurch ein Politiker „beleidigt“ wurde. So sagen es viele, wenn sie zusammenfassend über den Fall berichten. Ich wiederum sage: So sollte man nicht darüber reden, denn so stimmt es vorne und hinten nicht. In der Mitte auch nicht. Das Wort „Beleidigung“ – vorne – passt nicht, und das Wort „bestraft“ – hinten – beschreibt den Vorfall auch nicht vollständig. Der Begriff „veröffentlicht“ kommt mir ebenfalls falsch vor. Es geht auch nicht nur um einen „Mann“, da ist obendrein noch ein Kind betroffen. Die Teile passen nicht richtig zusammen. Selbst wenn man auf der einen Seite von „Hassrede“ und auf der anderen von „Hausdurchsuchung“ spräche, fände ich das nicht angemessen. Also: Was ist passiert? Wie sollte man es beschreiben?
Vom Barbra-Streisand-Effekt spricht man, wenn just das eintritt, was man vermeiden wollte. Barbra Streisand wollte eine Berichterstattung über ihre Wohnverhältnisse unterbinden und klagte gegen die Veröffentlichung von Fotos ihrer Villa, was dazu führte, dass die Sache erst recht publik wurde und die Bilder große Beachtung fanden. So einen Effekt könnte man auf dem ersten Blick auch in der Schwachkopf-Affäre vermuten: Habeck wollte dagegen vorgehen, dass man ihn als Schwachkopf „beleidigte“, und sorgte damit erst recht für Aufsehen. Doch ich bleibe dabei, dass die Wortwahl an fast allen Stellen irreführend und der Sache nicht angemessen ist. Vorne nicht, hinten nicht, in der Mitte auch nicht. Ich fange vorne an.
Was stimmt vorne nicht? Was ist ein Kalauer?
Vorne heißt es, es ginge um eine „Beleidigung“. Aber ist es überhaupt eine Beleidigung? Eine, die bestraft werden muss? Oder ist es keine? Dann dürfte es auch keine Strafe geben. Wenn es aber keine Beleidigung ist, was ist es dann? Habeck selber meint dazu: „Natürlich ist jetzt ‚Schwachkopf‘ nicht die schlimmste Beleidigung, die jemals ausgesprochen wurde“. Das ist gut gesagt, mit Superlativ und dem kleinen Wörtchen „jemals“. Noch besser wäre, er hätte gesagt: „Schwachkopf“ ist mit Sicherheit die harmloseste Beleidigung seit Beginn der Temperaturaufzeichnungen. Das wäre inhaltlich entsprechend und hätte gut zu ihm gepasst. Damit wäre allerdings sofort deutlich, dass diese „Beleidigung“ so geringfügig ist, dass es dafür keine Maßeinheit gibt, auch nicht nach vielen hunderttausend Stellen (wie Annalena Baerbock vermutlich sagen würde) hinter dem Komma. Aber wenn es keine messbare Beleidigung ist, was ist es dann? Kritik? Satire? Polemik? Witz? Kalauer?
Auch nicht. Der Kalauer wurde bekanntlich von Karl Lauer erfunden, dem Bruder von Martin Lauer, dem berühmten Sportler und Schlagersänger. Andere Sprachforscher verweisen auf die Ortschaft Calau im Süden von Brandenburg, die als die „Heimat der Kalauer“ bezeichnet wird. (Das waren jetzt zwei Versuche, den „Kalauer“ mit einem Kalauer zu erklären nach dem Motto: selber einer). Beispiele für waschechte Kalauer sind das „Damenkloschwert“ und der „Architekt Gulasch“. Da erkennt man gleich, dass „Schwachkopf“ nicht in dieser Liga mitspielt; „Schwachkopf“ ist nicht einmal ein richtiger Kalauer. Dafür ist er zu schwach.
Selbst wenn. Kalauer verweisen auf eine Welt außerhalb unserer geregelten Vorstellung von Kommunikation. Ein Kalauer führt uns in eine absurde Gegenwelt, in der sein semantischer Gehalt dem phonetischen untergeordnet ist. Der Kalauer macht keine Aussage, die ernst genommen werden will, er will lediglich auf die klangliche Ähnlichkeit von zwei Ausdrücken verwiesen. Mehr nicht. Wir kennen das von „missheard lyrics“. „The only one who could ever reach me was the son of a preacher man”, heißt es in dem Song und nicht: „the only one who could ever feed me was the son of a pizza man”. Es klingt ähnlich, doch das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Deshalb finden wir das witzig. Doch der Witz verpufft sofort wie eine Fehlzündung, weil überhaupt keine Aussage gemacht werden sollte, über die man nachdenken und sich aufregen kann. Mit dem Witz ist keine Schmähung einer Religion verbunden, auch nicht die Werbung für einen Pizza-Service. Da ist nichts dran.
Kinder lieben Kalauer
Kalauer liefern grundsätzlich keine belastbaren Urteile. Sie gelten nicht. Wer hier schwergewichtige Begriffe auffährt wie „Beleidigung“, „Majestätsbeleidigung“, „falsche Tatsachenbehauptung“, „Staatsgefährdung“, „Delegitimierung des Staates“, „Hassrede“ oder „Volksverhetzung“, der weiß nicht, was ein Kalauer ist, was – außer ihm – ansonsten jedes Kind weiß. Kalauer sind Kinderkram. Kinder lieben solche Sprachspiele. Sie gehören zum Kinderglück. Kinder lassen sich Ausdrücke, die sie zum ersten Mal hören, auf der Zunge zergehen wie ein Lutschbonbon und kosten alle phonetischen Varianten und Ähnlichkeiten aus.
In unserem Fall muss man die Gedanken nicht besonders weit schweifen lassen: ein Haarpflegemittel und die intellektuellen Leistungsfähigkeit seines Nutzers liegen nah beieinander. Das zeigt sich an einem Kompliment, das zwar alt geworden, aber immer noch im Umlauf ist: Wenn man jemanden als besonders klug loben und das indirekt formulieren will, sagt man: „Also, der hat seinen Kopf nicht nur zum Haareschneiden“ – oder nicht nur „zum Haarewaschen“.
Wir kommen der Sache näher, wenn wir von „Neckerei“ sprechen. Was sich liebt, neckt sich. Das weiß der Volksmund, und das wusste man früher, als man zur Lösung von Eheproblemen noch nicht nach psychologischer Betreuung rief, sondern eine Kissenschlacht empfahl. Vergleichbare Tipps geben auch Verführungsprofis, die einem helfen wollen, fremde Frauen anzusprechen und womöglich Beziehungen aufzubauen. Sie empfehlen, den Partner nicht nur mit Komplimenten zu überschütten, sondern immer auch ein wenig zu sticheln und mit einem Lächeln Schwächen und Defizite ansprechen. Es darf also – und es sollte auch – gefrotzelt werden.
Trump?
Ich bin sicher, dass sich folgende Szene unzählige Male so oder ähnlich abgespielt hat: Ein Mann steht unter der Dusche sagt seiner Geliebten oder seinem Kind: Reich mir doch bitte mal mein Haarpflegemittel, du weißt schon: Schwarzkopf. Worauf die Geliebte oder das Kind sich die Bemerkung nicht verkneifen kann: Bitte schön, du Schwachkopf, nimm das! Es ist einfach viel zu naheliegend. Bei dem Marken-Namen „Schwarzkopf“ ist die Bedeutung „Schwachkopf“ schon wie eine verbotene Schmuggelware als Beiladung enthalten, sie ist im Preis inbegriffen. Man kann die Assoziation gar nicht vermeiden. Sie war immer schon ein Teil der Botschaft – wenn auch kein offensichtlicher. Bei „Schwarzkopf“, denkt man automatisch „Schwachkopf“ mit. Oder hat es früher als Kind mitgedacht.
Kein Wunder, dass pfiffige Kommunikations-Experten vermuten, dass sich die Beleidigung (die ja im Grunde keine ist) langfristig in ein Lob umwandelt und sich vom Kopf auf die Füße stellen wird, so dass die Sache als Image-Werbung letztlich einen positiven Effekt hat. Da könnte was dran sein, denn da war noch etwas. Das Wort „Schwachkopf“ steht nicht alleine. Das Gesamtpaket der Botschaft besteht aus einem Bild, das einen durchaus sympathischen Habeck zeigt und aus zwei Wortaussagen: „Schwachkopf“ und „Professionell“. Die Aussage ist also zu zwei Dritteln positiv.
Die allzu naheliegende Ähnlichkeit von „Schwachkopf“ zu „Schwarzkopf“ führt dazu, dass die negative Bedeutung „Schwachkopf“ vernachlässigt wird, als wäre sie sowieso nur versehentlich in das Ensemble hineingeraten und nicht ernst zu nehmen, weil sie da immer schon irgendwie drinsteckte und keine Neuigkeit bringt. Ein alter Hut sozusagen. Neu ist das Bild von dem freundlichen Habeck in Verbindung mit der Wertung „Professionell“. Inzwischen kann man sich ein T-Shirt kaufen mit der Aufschrift „Schwachkopf“. Doch wenn man genau hinschaut, erkennt man weder das bekannte Schwarzkopf-Profil, noch das von Habeck, sondern das von Trump. Nanu? Wer hat da denn etwas verwechselt? Und warum?
Was stimmt in der Mitte nicht?
Ich sagte eingangs, dass die Begriffe vorne und hinten nicht stimmen – auch in der Mitte nicht. In der Mitte steht „veröffentlicht“. Der „Mann“, um den es hier geht (der außerdem mit einem Kind lebt, um das es mir geht), hat dieses „meme“, wie man es nennt, „retweeted“. Aber, aber: Ist retweeten = veröffentlichen? Ist das richtig übersetzt? Wird damit der Vorgang richtig verstanden und angemessen bezeichnet? Wie hieße es denn auf Deutsch? Vielleicht so: Ein Mann hat eine Bild-Wort-Collage weitergegeben.
Dieser Mann, der eine Hausdurchsuchung erleben musste, hat nicht einfach nur das Wort „Schwachkopf“ benutzt, er hat vielmehr ein kleines Gesamtkunstwerk – dieses „meme“ – weitergereicht, er hat zur Verbreitung beigetragen. Wenn wir da von „Veröffentlichung“ sprechen, geraten wir in einen Nebel. Bei einer „Veröffentlichung“ stellen wir uns vor, dass es einen Autor gibt, einen Urheber, der eine Aussagen machen will oder ein Kunstwerk erschaffen hat, dem er ein möglichst großes Publikum wünscht. So ist es hier nicht. Unser Mann ist nicht derjenige, der das „meme“ geschaffen hat, er hat es „retweeted“.
Es ist ein Unterschied, ob jemand „seinen Mist“ „veröffentlicht“ oder jemand den „Mist“ eines anderen weitergibt. Es wäre eine Veröffentlichung ganz neuer Art, nämlich eine, bei der keine Eigenleistung vorliegt. Unser Mann hat lediglich etwas 1-zu-1 übernommen und könnte nicht einmal sagen: Seht her, dieser Beitrag ist zwar nicht auf meinem Mist gewachsen, aber ich habe immerhin etwas dazu beigetragen, etwas ergänzt. Denn das hat er nicht. Dieses „retweeten“ wird hier mit falscher Bedeutung aufgeladen. Es ist näher am „zitieren“ als am „veröffentlichen“. Und es ist beides nicht.
Welches Schweinderl hättens gern?
Was hat unser Mann gesagt? Was wird ihm vorgeworfen? Was wollte (und was konnte) er mit seiner verhängnisvollen Tat – dem „Retweeten“ – überhaupt zum Ausdruck bringen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten:
1. Er sieht die Leistungen des Ministers Habeck als Minderleistungen an, die er sich mit mangelnder Intelligenz erklärt, und erkennt in der Bild-Wort-Collage, die er zufällig im Netz gefunden hat, gut zusammengefasst genau das, was er nicht besser sagen könnte und was er mit Ausrufezeichen weitergibt, als wäre es seine eigenes Urteil.
2. Es könnte auch sein, dass er unabhängig von einer Kritik an der Leistung des Wirtschaftsministers dessen Selbstdarstellung nicht mag. Dass er Habeck für übermäßig eitel hält und findet, dass er zu viel Geld für seine Image-Pflege und für seine Fotografen ausgibt, und sich so zu einer Art Poster-Boy macht, die dem Amt nicht angemessen ist.
3. Es könnte ebenfalls sein, dass er einfach nur den Witz mochte, dass ihn der Kalauer an Kindertage erinnert, dass er unwillkürlich lachen musste, obwohl er ein traditioneller Grünen-Wähler ist. Das ist nicht einmal abwegig. Unser Mann würde nämlich, wie er erklärte, gerne CDU wählen, er hätte nur Bedenken wegen Merz. Kurz: Hier könnte die reine Freude am Witz ausschlaggebend sein, unabhängig vom politischen Standort. Ich kann mir vorstellen, dass auch so mancher aus dem Kreis der renitenten Grünen-Wähler oder der Aktivisten im Team Habeck hinter vorgehaltener Hand kichern musste.
4. Genauso gut könnte auch gar keine Zustimmung gemeint sein. Nur ein neutrales Zitieren. Es würde dann soviel sagen wie: Seht, auf welchem Niveau heute die Kritik an der Regierung angelangt ist, wie altbacken die Witze sind, wie schmutzig der Wahlkampf – was meint ihr dazu? In dem Fall wäre es keine Zustimmung mit Ausrufezeichen, sondern eine offene Frage.
„Bestrafung“ durch „Hausdurchsuchung“
Es kann schon deshalb kein „Zitieren“ sein, weil es niemanden gibt, den man zitieren könnte. Der Künstler, der diese Collage geschaffen hat, ist unbekannt. Ein Witz hat keinen Urheber. Ein Kalauer ist Allgemeingut, er gehört allen. Niemand kann dafür das Copyright beanspruchen (ich vermute zwar, dass „Damenkloschwert“ eine Erfindung von Martin Betz ist, der besteht jedoch nicht auf einer Urheberschaft). Wir sind vorsichtig geworden, wir lehnen uns nicht gerne aus dem Fenster. Wir veröffentlichen lieber nichts, weil wir fürchten, dass es uns schaden kann. Doch wir „retweeten“ und „liken“ gelegentlich, oder? Sind wir damit schon in der Gefahrenzone? Kann man mir vorwerfen, dass ich mit der wiederholten Erwähnung des Damenkloschwertes eine transphobe Hassrede veröffentlicht hätte, eine Kritik an dem Recht auf Selbstbestimmung der Geschlechtszugehörigkeit und auf Nutzung der entsprechenden Toilette?
Warum gerade ich? So könnte sich unser Mann aus dem Landkreis Haßberge fragen (Bitte jetzt keine Wortspiele mit Eigennamen). Er wird nicht der einzige gewesen sein, der diesen Schwachkopf-Post weitergeleitet hat. Warum trifft es nicht ebenso alle anderen, die dasselbe gleichzeitig oder erst im Nachhinein getan haben? Befinden sich womöglich unter den Lesern dieses Textes weitere „Mittäter“, die immer noch frei herumlaufen, für die aber das Motto gilt: mitgegangen, mitgehangen? („Mittäter“ passt nicht, denn sie haben nicht nur „mit“-gemacht in dem Sinne, dass sie unseren Mann unterstützt hätten, jeder von ihnen hat sich exakt derselben Straftat schuldig gemacht). Es trifft nur einen.
Damit kommen wir zum hinteren Teil, nämlich zur „Bestrafung“ durch „Hausdurchsuchung“, und damit zu einer Maßnahme, die willkürlich und unverhältnismäßig ist: Sie ist schlimmer als eine durch ein Gericht verhängte Strafe (falls es überhaupt zu einer Verurteilung kommt) jemals sein könnte. Die Strafverfolger wissen sehr wohl, dass sie unrechtmäßig handeln, dass sie die Falschen treffen und sie über die Maßen schädigen, sie berauben und traumatisieren. (ich kann es mir schwerlich anders vorstellen, mir fällt nichts ein, womit ich das Vorgehen entschuldigen könnte). Mein Vater wurde 1945 als 14-Jähriger von russischen Soldaten aufgegriffen, als er zu Fuß unterwegs nach Berlin war. Er sollte seinen Namen buchstabieren, und als er nach dem „L“ und dem „A“ arglos „SS“ sagte, wurde er unter Flüchen und Beschimpfungen – „Du SS“ – verprügelt, so dass er sich bis ins hohe Alter angewöhnt hat, bei einer Nachfrage nach der Schreibweise des Nachnamens stets von „Doppel-S“ zu sprechen.
Hier hat eine Verwechslung, die auf rein klanglicher Ähnlichkeit beruht, zu heftigen Auswirkungen geführt, die man auf die verständlichen mangelnden Sprachkenntnisse der russischen Soldaten und auf die angespannte Lage nach Krieg zurückführen und entschuldigen kann. Ausreden, die Habeck nicht geltend machen kann. Es handelt sich auch nicht mehr um „Hausdurchsuchungen“, wie wir sie kennen. Die hatten noch einen konkreten Zweck: Man suchte nach Drogen oder nach einer Tatwaffe. Doch was will man bei jemandem suchen, der etwas „veröffentlicht“ hat? Der Begriff stimmt einfach nicht mehr, er hat seinen Zweck eingebüßt.
Die Macht zeigte ihr wahres Gesicht
Heute dient so eine „Hausdurchsuchung“ zur Einschüchterung, zur öffentlichen Beschämung, zur Demütigung, zur Abschreckung und zur Beschlagnahme von Computern, Tablets und Mobilfunkgeräten – also von „Tatwaffen“, die man nicht ernsthaft als Tatwaffen ansehen kann. Die „Hausdurchsuchung“ ist zur auftrumpfenden Demonstration einer Willkürherrschaft geworden, mit der nicht nur die Prinzipien des Rechtsstaates und die bisher gültige Definitionen von wichtigen Begriffen, die wir zur Verständigung benötigen, sondern auch grundlegende Errungenschaften des zivilisatorischen Fortschritts verabschiedet werden. So eine „Hausdurchsuchung“ gilt als weiße Folter.
Es war nicht etwa eine geheimnisvolle Schwachstelle, ein „leak“, durch das wir quasi versehentlich erfahren haben, was für Zustände im Foltergefängnis Abu Ghraib herrschten. Nein, die Macht zeigte vorsätzlich ihr wahres Gesicht, sie zeigte Stärke. Sie konnte es sich leisten und stellte sich demonstrativ hinter die Foltermälde, die keinerlei Konsequenzen fürchten mussten. Sie taten nur ihre Pflicht. Die Grausamkeiten sollten einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden.
Möglichst viele sollten davon wissen und mit einbezogen werden wie bei einer schmutzigen Bombe, die nicht zielgenau wirkt, sondern stark streut. So hat bekanntlich der Polizeieinsatz in der Compact-Affäre nicht nur den mit dem inzwischen berühmten Bademantel bekleideten Jürgen Elsässer aus dem Schlaf gerissen, der mit ansehen musste, wie sein Büro vor laufenden Kameras leergeräumt und dabei nicht bloß Computer, sondern auch Bürostühle als „Tatwaffen“ mitgenommen wurden; man hat gleichzeitig seine Ehefrau, die, wie die Presse zu berichten weiß, unbekleidet im Bett lag, im Schlafzimmer überrascht.
Die Schostakowitsch-Notwehr
Frauen und Kinder sind ausdrücklich mit einbezogen. Unser „Täter“, der das Schwachkopf-meme verbreitet hatte, musste sich den Polizisten stellen: „Wegen dem Schwachsinn kommt ihr jetzt her?“, hatte er verdutzt gefragt. Der Beamte soll geantwortet haben, dass er das „jetzt nicht gehört haben will“. Eben. Es wurde kein Gehör gewährt. Recht auf Anhörung, fairer Prozess, Unschuldsvermutung … das war einmal.
Gleichzeitig musste der arme Mann zusehen, wie er seine Tochter Alexandra beruhigen konnte. Ihr kam das Auftreten des Polizeikommandos wie ein Horrorfilm vor – wie ein Horrorfilm, der Wirklichkeit wird.
Ein solches Drama wollte Dimitri Schostakowitsch verhindern. Er war bei Stalin in Ungnade gefallen und hatte fest damit gerechnet, dass er eines Tages in aller Herrgottsfrühe abgeholt und in ein Lager verbracht würde. Er hielt das für unausweichlich. Er konnte nur noch eins tun – und das tat er auch. Er stellte sich jeden Morgen in aller Frühe mit einem kleinen Koffer, in dem das Nötigste verstaut war, draußen vor die Tür. Wenn sie kommen würden, um ihn abzuholen, dann wäre er darauf vorbereitet. Er stand bereit. Er wollte nur noch eines sicherstellen; es wäre das einzige, das er in seiner Situation noch tun könnte: Er wollte seiner Familie ersparen, dass sie mit ansehen muss, wie er abgeführt wird.
Bernhard Lassahn schreibt schon lange für die „Achse“ und produziert seit mehr als zwei Jahren die Sendereihe „Unter Freunden“ für den Kontrafunk. Er ist Schriftsteller und – wie Robert Habeck – auch Kinderbuchautor.