Tamara Wernli / 13.10.2016 / 11:28 / Foto: Lviatour / 3 / Seite ausdrucken

Der irre Kampf der Social Justice Warrior

Neulich kursierte ein Video bei Youtube, das eine Frau bei einer Taxifahrt irgendwo in Amerika aufgezeichnet hat. Weil sie die Hula-Wackelpuppe auf dem Armaturenbrett als "beleidigend für Hawaiianer" hält, forderte sie den Fahrer zu deren Entsorgung auf. Indem er sich auf eine Diskussion einliess, sorgte er für seine Kündigung. Die Frau bedankte sich dafür auf Facebook mit dem Post "Wir haben gewonnen!" und erntete Applaus.

Vor einigen Tagen attackierte eine Studentin im kanadischen Calgary einen Kommilitonen, weil er einen Hut mit dem Slogan "Make America great again" trug. An einem öffentlichen Ort sei dieser Hut "bedenklich", denn der Slogan bedeute, dass "keine Migranten erlaubt sind und keine Menschen mit anderer sexueller Orientierung". Donald Trump benützt ihn für seine Wahlkampagne.

Eine Onlinepetition mit dem Hashtag #Wedonteattrees (wir essen keine Bäume) verlangte vergangene Woche die Entlassung einer Wettermoderatorin von The Weather Channel. Diese kündigte in ihrer Sendung den Orkan "Matthew" über Haiti an, dabei verglich sie das Land mit der Dominikanischen Republik, wo es "grüner" sei und sagte: "Die Haitianer reissen alle Bäume aus, verbrennen alle Bäume. Sogar die Kinder sind so hungrig, dass sie die Bäume essen." Laut der 21.000 Peditionsunterstützer ist die Äusserung "extrem menschenverachtend".

Mein erster Impuls zu #Wiressenkeinebäume war ein unbeherrschtes Lachen. Der Kommentar ist vor allem dämlich. Wenn er sich als Posse viral verbreitet und das Netz darüber gelacht hätte, wäre es lediglich eine Dumpfbacken-Story mehr im digitalen Unterholz. Hat er aber nicht. Menschen, die von der Anzahl her ein Fussballstadion füllen, verfielen wegen des Satzes in kollektiven Zorn – in den Sozialen Medien entlud er sich über die Moderatorin wie das Unwetter über Haiti. Wer in dem Masse gejagt wird, stellt ganz offensichtlich eine ernsthafte Bedrohung dar. Nur, für wen?

Ein Kampf, der zunehmend unverhältnismässiger wird

Die drei Beispiele zeigen, dass der Kampf der Social Justice Warrior zunehmend unverhältnismässiger wird. Social Justice Warrior – eine 1:1-Übersetzung gibt es nicht – ist ein aus dem amerikanischen stammender, laut Wikipedia ironischer Begriff für Menschen, die sich als Aktivisten gegen soziale Ungerechtigkeiten sehen, wobei es ihnen mehr um persönliche Bestätigung als um tiefsitzende Überzeugung geht.

Ja, die Meteorologin hat einen Fehler begangen (und sich dafür öffentlich entschuldigt). Sie hat eine dumme Bemerkung losgelassen, inhaltlich falsch obendrein, und angesichts der historischen Vergangenheit von Haiti und seiner Nachbarsrepublik kann der Kommentar für Betroffene beleidigend sein – man muss der Dame wohl die Kompetenz in Völkerkunde absprechen. Aber sie deswegen gleich öffentlich an den Pranger stellen? Ihre Entlassung erzwingen? Wird damit ein einziges Problem gelöst? Sie hat kein Gesetz geschrieben (und keines gebrochen). Sie hat niemanden absichtlich verletzt, niemandem geschadet. Das Leben von Haitianern ist durch ihren Kommentar weder schlechter noch besser geworden.

"Die moderne Menschheit hat zwei Arten von Moral: Eine, die sie predigt, aber nicht anwendet, und eine andere, die sie anwendet, aber nicht predigt", sagte der Philosoph Bertrand Russel. Keine Frage, es muss in einer fortschrittlichen Gesellschaft möglich sein, abfällige Kommentare oder ungeliebte Meinungen zu kritisieren. Indem die Social Justice Warrior aber jeden Menschen nach einer missglückten Äusserung moralisch verurteilen und sich wie in Orwells bekannten Roman 1984 als korrigierende, totalitäre Welt-Instanz in Szene setzen, stellen sie sich selbst über alle anderen – und roden dabei ihre eigenen, vielbeschworenen Ideale der Toleranz und Aufgeklärtheit.

Unhöfliche, herabsetzende, dumme Kommentare – ja, sie tun weh. Möchten wir uns aber wegen jedes kränkenden Satzes eines Mitmenschen auf dieser Welt beleidigt fühlen – wir kämen aus dem Beleidigtsein nicht mehr heraus. Man sollte sich dort gegen Missstände einsetzen, wo es nötig ist, reale Bedrohungen bekämpfen. Wegen unbedeutenden Bemerkungen Revolten anzetteln, kann nicht die Lösung sein. Es gibt Dinge, da muss man einfach drüberstehen.

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst.  In ihrer Rubrik „Tamaras Welt“ schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen

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Ulrich Baare / 14.10.2016

“Man sollte sich dort gegen Missstände einsetzen, wo es nötig ist, reale Bedrohungen bekämpfen. Wegen unbedeutenden Bemerkungen Revolten anzetteln, kann nicht die Lösung sein. Es gibt Dinge, da muss man einfach drüberstehen.” —> Es gibt und gab aber schon immer Menschen, die sich wegen irgendetwas aufregten in ihrer Umwelt. Ob es die alte Jungfer war, der die Rockfarbe eines jungen Mädchens nicht züchtig genug war, ob es der Mann war, dem der Gamsbart am Hute eines anderen Mannes zu wenig deutsch war, die Frau, die sich darüber aufregt, weil ihr Nachbar Sonnenblumen neben Rosen im Garten pflanzt oder was auch immer… man muss einfach nur genug Menschen haben, und es wird sich wohl zu jeder Sache einen finden, der sich darüber aufregt. Und hat man noch mehr Menschen,  dann hat man noch mehr, die sich darüber aufregen. Und dank der social-medien’ finden sich diese Leute auch…. wie sich wohl zu allem irgendwelche Leute finden. Und treten diese durch die Einfachheit der Kommunikation aufgrund der social medien geschlossen auf, dann erscheinen sie als eine Masse - obwohl es genau genommen nur ein paar weltweit verstreute Spinner sind. Wir sind es aber aufgrund der Kommunikationserfahrungen der reellen Welt gewohnt, ein paar hundert oder gar tausend Menschen als einen gewaltigen Auflauf wahrzunehmen. Vergessen aber, dass wir es mit der Kommunikation von hunderten Millionen Menschen zu tun haben bei den social medien - aus denen heraus sich diese paar hundert oder tausende sich gerade mal gefunden haben. Ein Nichts im vergleich all derer, die dieser ‘Aufregung’ völlig gleichgültig gegenüberstehen. Und ein Nichts im Vergleich zu vielen Ereignissen, die ganz andere Zahlen an Interessierte anlocken.

Peter Zentner / 13.10.2016

Gruezi, Frau Wernli! Sie vermissen eine praktikable (und möglichst wörtliche) deutsche Übersetzung von “Social Justice Warrior”? Als langjähiger Übersetzer belletristischer und wissenschaftlicher Werke aus dem Englischen und Französischen biete ich Ihnen an, fast 1:1: “Krieger für soziale Gerechtigkeit”.  Von mir aus auch “Kämpfer ...”, etwas milder. Die deutschen Begriffe haben den Vorteil, sowohl Singular als auch Plural abzubilden — was den atemlosen Gründern des US-Originals nicht so wichtig erschien. Martialisch bleibt der Verein sowieso. Wie so vieles, was Sie präzise schildern. Vielen Dank und herzliche Grüße!

Bertram Scharpf / 13.10.2016

Wie soll ich diesen selbsternannten Menschenfreunden ihre Menschenfreundlichkeit abkaufen, wo sie es doch auf nichts anderes abgesehen haben, als berufliche Existenzen zu zerstören?

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