Es gehört fast schon zum Allgemeinwissen: Der größte und gefährlichste Teil eines Eisbergs befindet sich unter Wasser – unsichtbar, aber doch vorhanden. Die sprichwörtliche „Spitze des Eisbergs“ stellt dagegen unter normalen Umständen keine Gefahr dar. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Bedrohung seitens des Islam. Die kleine gewaltbereite Minderheit ist gut sichtbar, begeht Terroranschläge und andere Gräueltaten. Wie viele diese Minderheit wirklich bilden, weiß niemand. Aber selbst wenn sie in die Hunderttausende geht, bleibt es bei rund 1,5 Milliarden Anhängern dieser „Religion des Friedens“ eine Minderheit.
Doch ist die große Mehrheit deshalb automatisch entlastet? Stellt sie keine Bedrohung für unsere westliche freiheitliche Ordnung dar? Ich sehe es genau umgekehrt. Den islamischen Terror können wir bekämpfen: Präventiv, indem Anschläge durch gute internationale Zusammenarbeit der beteiligten Sicherheitsdienste vereitelt werden. Oder repressiv, indem begangene Verbrechen schnell und umfassend aufgeklärt und die Täter verurteilt werden, wenn sie sich nicht selbst in die Luft gesprengt haben oder von der Polizei erschossen wurden.
Wie das Pfeifen im Wald
Nach jedem Anschlag frage ich mich allerdings, was Politiker und Medien veranlaßt, dem Terror tagelang einen derart großen Raum zu widmen? Auch seriöse Zeitungen und Zeitschriften füllen vier, wenn nicht sechs Seiten mit den kleinsten Details, das Fernsehen berichtet nicht nur ausführlich in den Nachrichten, sondern bringt „Spezials“, und Politiker jeder Färbung werden nicht müde, die Taten zu verurteilen und zu betonen, dass es den Terroristen niemals gelingen werde, uns zu einer Änderung unserer westlichen Lebensweise zu veranlassen (vgl. dazu den Beitrag von Clara Hagen). Mich erinnert das immer an das bekannte Pfeifen im Wald. Wenn es nach mir ginge, sähe die Berichterstattung über einen islamischen Anschlag etwa so aus:
„Am Montag, dem 21. August raste ein Kleinlaster in X-Stadt in eine Menschenmenge. Zwölf Personen wurden getötet, mehrere Dutzend verletzt. Die Polizei vermutet einen islamischen Terroranschlag.“
Schluss. Ende. Es ist unnötig wie ein Kropf, dass Politiker die Verbrechen geradezu rituell verurteilen. Denn nur ein Irrer dürfte in diesem Zusammenhang an den römischen Rechtsatz denken: "Qui tacet consentire videtur" ("Wer schweigt, scheint zuzustimmen"). Allerdings stünde es staatlichen und kommunalen Repräsentanten gut an, die Überlebenden der Anschläge und die Angehörigen der Todesopfer ohne großen Medientross zu besuchen und ihnen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie benötigen.
Aber diese Vorstellung ist unter den Gegebenheiten unseres Medien- und Politikbetriebs absolut unrealistisch, ja naiv. Und so bekommen die Verbrecher nach jedem Attentat die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie sich wünschen. Lediglich die schlimmsten Grausamkeiten werden uns vorenthalten, sind aber im Internet gleichwohl zu besichtigen.
Und als wenn das alles nicht schon genug wäre, folgt dann regelmäßig die obligate Relativierung, dass die Tat selbstverständlich nichts mit dem Islam zu tun habe, die überwältigende Mehrheit der Muslime (bei uns und anderswo) friedlich sei und der Terror nicht für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werden dürfe.
Der Unterschied zwischen Menschen und Ideologien
Ich vertrete seit jeher die Auffassung, dass zwischen einer Ideologie und ihren Anhängern unterschieden werden muss. Sonst hätte ich als Kommunismus-Gegner, der während des Mauerbaus ins Berlin studiert hat, niemals eine jahrzehntelange Freundschaft mit einem Kommunisten aus Sarajewo pflegen können oder als Islam-Kritiker seit über 50 Jahren mit einem iranischen Moslem. Menschen sind facettenreiche Individuen, die sich nicht durchweg auf die Ideologie, der sie anhängen, reduzieren lassen. Sonst hätten der palästinensische Muslim Ismael al-Chatib und seine Frau Abla die Organe ihres versehentlich von einem israelischen Soldaten getöteten Sohnes Ahmed (12) niemals für sechs israelische Kinder spenden können (s. dazu aber auch die filmische Umsetzung). Nur wenn sich die Ideologen vollständig mit ihrer Ideologie identifizieren (Hitler, Stalin, Mao, Bin Laden, al-Baghdadi usw.), löst sich die Unterscheidung auf. Es gibt nur einen Islam, dessen Grundlagen der Koran und die Sunna, die Worte und Taten des Religionsgründers Mohammed bilden (vgl. § 1 Absatz 5 der Geschäftsordnung des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland vom 28. März 2007). Allerdings existieren zahlreiche Lesarten und Interpretationen dieser Grundlagen, die man alle bedenken muss, wenn man Fragen stellt wie: „Gehört der Islam zu Deutschland?“ oder „Ist der Islam mit unserer westlichen Lebensweise vereinbar?“
„Es ist schwer, in Europa einen Ort zu finden, an dem Muslime sich erfolgreich assimiliert haben“, sagt Daniel Pipes im Gespräch mit der "Achse des Guten". Kein Wunder, hat doch der Sultan vom Bosporus in seiner berüchtigten Rede in der Köln-Arena 2008 Assimilation als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. Doch weder Assimilation noch Integration sind erforderlich; denn: „Die türkische Gemeinschaft und der türkische Mensch, wohin sie auch immer gehen mögen, bringen nur Liebe, Freundschaft, Ruhe und Geborgenheit mit sich. Hass und Feindschaft können niemals unsere Sache sein. Wir haben mit Streit und Auseinandersetzung nichts zu schaffen.“
Da kann man mit dem Vater der Türken nur jubeln: „Welch ein Glück, sagen zu können: Ich bin ein Türke.“ Muslimische Türken kann er damit allerdings schwerlich gemeint haben, wie hätte derselbe Atatürk, „der unsterbliche Führer und einzigartige Held“, wie ihn die Verfassung der Türkei immer noch nennt, sonst sagen können: „Der Islam, diese absurde Theologie eines unmoralischen Beduinen, ist ein verwesender Kadaver, der unser Leben vergiftet” (Jacques Benoist-Méchin: "Mustafa Kemal. Begründer der neuen Türkei", Eugen Diederichs Verlag 1955, Seite 290).
Doch selbst Integration schützt uns nicht vor islamischer Radikalisierung, wie wir seit 9/11 wissen und nach fast jedem islamischen Terroranschlag zu hören bekommen. So hieß es beispielsweise nach dem jüngsten Anschlag von Barcelona: „Die Verantwortlichen der Terroranschläge in Spanien geben Rätsel auf: Sie waren jung und recht gut integriert“.
Kraft der Religion unterschätzt
In „Migration und Politik“ (secolo Verlag, Osnabrück 1995, Seiten 305 ff.), seiner Habilitationsschrift, weist Johannes-Dieter Steinert nach, dass die offiziellen Stellen in Deutschland seinerzeit keinerlei Interesse an der Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei und anderen außereuropäischen Staaten hatten. Man sah durchaus die zu erwartenden Probleme aufgrund der völlig andersartigen Kultur. Ein Vertreter der Türkei machte jedoch deutlich, „daß seine Regierung eine Ablehnung [ihres Arbeitskräfteangebots] als eine ‚Zurücksetzung’ des NATO-Mitglieds Türkei besonders gegenüber Griechenland betrachten müsse“. „Damit waren die Würfel bereits gefallen, denn diesem außenpolitischen Argument konnte sich die Bundesregierung nicht entziehen. Jetzt ging es ... nur noch darum, zu versuchen, die befürchteten Folgewirkungen möglichst gering zu halten“. Und so kam es zu dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen vom 30. Oktober 1961.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie sogar gebildete Menschen die prägende Kraft der Kultur, insbesondere der Religion, unterschätzen. Die Gene bestimmen Aussehen und Eigenschaften des Individuums, die Kultur die Ansichten und Verhaltensweisen des Kollektivs. Natürlich ist das keine zwangsläufige Gesetzmäßigkeit, der sich niemand entziehen kann. Dazu ist der Mensch zu vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, die bei einem eben in dieser und bei einem anderen in die genau entgegengesetzte Richtung wirken können. Das erklärt auch die – dem Umfeld als „plötzlich“ erscheinende – Radikalisierung gerade junger Menschen, die noch auf der Suche nach ihrer Position gegenüber den existentiellen Fragen des Lebens sind.
Ein – leider nicht unbedingt typisches – Beispiel war der „Sinnsucher“ (Zeltmacher) Barino Barsoum, Sohn einer katholische deutschen Lehrerin und eines koptischer Christen aus Ägypten. Er fand die Antwort auf seine Fragen im Islam und konvertierte mit 18 Jahren, indem er bekannte: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Mohammed sein Prophet ist“ (s. dazu "Vorsicht mit Bekenntnissen!"). Doch mit dem Ratschlag „Denke nicht, sonst verlierst Du den Glauben“, kommt er auf die Dauer nicht klar. Er will denken. Das führt ihn irgendwann zu der Erkenntnis (über Mohammed): „Niemand, der auch nur einen Funken Menschlichkeit in sich trägt, kann an diesen Mann als einen von Gott gesandten Propheten glauben.“ Und so gelangt er nach Jahren schließlich zum Glauben des Jesus von Nazareth: „Ihm kann ich ganz vertrauen. Jesus ist das, wonach mein Herz strebt.“
Gewissheiten gesucht, die es nicht gibt
Junge Menschen, wie viele Menschen überhaupt, wollen sich allerdings nicht mit Zweifeln herumschlagen, sondern suchen Gewissheiten. Wer selbständig denken kann, weiß, dass es sie nirgendwo gibt, nicht einmal in den exakten Wissenschaften. Doch mit dieser Erkenntnis zu leben, ist nicht jedermanns Sache. Und so findet eine Religion, die für alle Fragen des Lebens behauptet: „Der Islam ist die Lösung“, immer wieder neue Anhänger und hält die alten bei der Stange, das heißt in der Furcht des Herrn: „Diejenigen aber, die ungläubig sind und unsere Zeichen verleugnen, sind die Bewohner der Hölle. Sie sollen in dem Feuer auf ewig verweilen“ (Sure 2, 39). Und: „Die Gläubigen sind nur diejenigen, die an Allah und seinen Gesandten glauben“ (Sure 24, 62). Die Bibel (Jesus höchst selbst) bedient sich übrigens der gleichen Drohung mit Höllenqualen.
Es ist nun keineswegs so, dass Politiker den verborgenen Teil des islamischen Eisbergs nicht erkannt hätten. Aber sie scheuen sich – unter anderem wohl aus Rücksicht auf die vielen säkularen Muslime – all die negativen Erscheinungsformen der Religion des Islams zuzuordnen, sondern verweisen diese in den Bereich der Ideologie des „Islamismus“ oder des politischen Islams, ohne zu erkennen, dass der Islam von Anfang an immer mehr war als „nur Religion“:
„In Abgrenzung zur Religion ‚Islam‘ bezeichnet der Begriff ‚Islamismus‘ eine religiös verbrämte Form des politischen Extremismus. Zentraler Bestandteil dieser Ideologie ist der propagierte allumfassende Geltungsanspruch des islamischen Rechts, der Scharia, in einer totalitären, sämtliche Lebensbereiche betreffenden Auslegung. Die islamistische Ideologie versteht die Scharia als eine von Gott gesetzte verbindliche, unantastbare und unabänderliche Ordnung des menschlichen Lebens in allen Bereichen von Staat, Recht und Gesellschaft.
Weil die Scharia nach islamistischer Vorstellung sämtliche Lebensbereiche umfassend und abschließend regelt, ist kein Platz für demokratische Mehrheitsentscheidungen und wenig Raum für selbstbestimmtes Handeln. Eine Ordnung in diesem Sinne ist insbesondere mit zentralen Verfassungsprinzipien wie vor allem der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten unvereinbar.“
Dabei ist die Scharia mitnichten eine Domäne des islamistischen Extremismus, sondern zentraler Bestandteil der Religion. Wie anders hätte sonst der seinerzeitige Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Mustafa Cerić, die Scharia als „ewig, nicht verhandelbar und unendlich“ bezeichnen können? (Die Fundstelle im Journal European View ist mittlerweile gelöscht, ein Sekundärhinweis findet sich hier.) Wenn dieser Cerić ein radikaler Islamist wäre, hätte ihn die Theodor-Heuss-Stiftung wohl kaum am 12. Mai 2007 in Stuttgart mit dem 42. Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet, zusammen mit der Bundestagspräsidentin a.D., Prof. Dr. Rita Süssmuth (CDU), und durch eine Laudatio von Prof. Dr. Gesine Schwan (SPD) geehrt.
Inzwischen scheint auch die CDU kapiert zu haben, dass die ignorante Wulff-Sentenz „Der Islam gehört auch zu Deutschland“, den die Kanzlerin noch nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" und den jüdischen Supermarkt in Paris in ihrer Regierungserklärung vom 15. Januar 2015 ganz bewusst zitiert hatte, nicht länger zu halten ist. Stattdessen liest man jetzt im Regierungsprogramm der Union (Seite 73): „Die in Deutschland lebenden Muslime tragen mit ihren Ideen und ihrer Arbeit seit langem zum Erfolg unseres Landes bei und gehören deshalb zu unserer Gesellschaft.“ (s. dazu "CDU-Regierungsprogramm aus der Raumkapsel") Weiter heißt es: „Wir wollen helfen, dass sich der friedliche und integrationsbereite Islam in Deutschland auf dem Boden des Grundgesetzes so organisiert, dass er Verhandlungs- und Dialogpartner von Staat und Gesellschaft sein kann.“
Leider erfährt man nicht, ob der von Aiman Mazyek, Bekir Alboğa und Co. vertretene Islam diesen Anforderungen genügt. Ebenso wenig ist erkennbar, ob die folgende am 15. Januar 2015 geäußerte Forderung der Kanzlerin bereits realisiert wurde: „Die Menschen fragen mich, welcher Islam gemeint ist, wenn ich diesen Gedanken [von Wulff] zitiere. Sie wollen wissen, warum Terroristen den Wert eines Menschenlebens so gering schätzen und ihre Untaten stets mit ihrem Glauben verbinden. Sie fragen, wie man dem wieder und wieder gehörten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem Islam zu tun haben sollen. Ich sage ausdrücklich: Das sind berechtigte Fragen. Ich halte eine Klärung dieser Fragen durch die Geistlichkeit des Islam für wichtig, und ich halte sie für dringlich. Ihr kann nicht länger ausgewichen werden" (Hervorhebung von mir).
Im so genannten TV-Duell am 3. September 2017 hat Merkel an diese Äußerung angeknüpft und erklärt (ab 19:23): „Und deshalb habe ich auch deutlich gemacht, dass die Geistlichkeit des Islam hier sehr viel stärker noch sagen muss, dass das [die dramatischen terroristischen Anschläge im Namen des Islam] mit dem Islam nichts zu tun hat.“ Leider hat keiner der vier Moderatoren nachgefragt, wen die Kanzlerin mit der „Geistlichkeit des Islam“ meint und warum die vor über zweieinhalb Jahren angemahnte Klärung der berechtigten und dringlichen Fragen, denen nicht länger ausgewichen werden könne, nicht schon stattgefunden hat, und warum die Terrorakte nichts mit dem Islam zu tun haben. So werden wir, wie (in Anlehnung an die Vergesslichkeit von Ludwig Thomas Dienstmann Alois Hingerl) die Bayerische Regierung vergeblich bis heute auf die göttliche Eingebung wartet, wohl auch auf die ersehnte Klärung „durch die Geistlichkeit des Islam“ warten.