Der gesunde Menschenverstand steht auf verlorenem Posten

Seit fünfzig Jahren straft uns ein zorniger Gott, indem er die Wünsche der 68er erfüllt. Mit dem berühmten Marsch durch die Institutionen begann damals eine Kulturrevolution, die sich im Lauf der Jahre nicht etwa abgeschwächt, sondern sogar dramatisch verschärft hat. Über „n-Geschlechter“ und „Transgender“ hätte Rudi Dutschke noch den Kopf geschüttelt – heute sind sie regierungsoffizielle Grundbegriffe. Und seither steht der gesunde Menschenverstand auf verlorenem Posten. Es gibt nichts Selbstverständliches mehr.

Man könnte das als Verlust der Normalität bezeichnen. In allen Lebensbereichen sind die traditionellen Standards fragwürdig geworden. Man denke nur an die faktische Unmöglichkeit, in der Schule einen Lektürekanon durchzusetzen. Goethes Faust, Brechts Maßnahme oder ein Comic Strip – alles ist gleichermaßen möglich. Dass ein Sonett von Shakespeare wertvoller sein könnte als ein Song von John Lennon, leuchtet heute kaum mehr jemandem ein. Und das passt durchaus ins Bild der westlichen Kulturentwicklung: Erst, nämlich in der Moderne, werden die Standards abgesenkt und dann, nämlich in der Postmoderne, werden sie ganz aufgegeben.

So leben wir heute in einer geistlosen Konjunktion von Relativismus und Universalismus. Der Relativismus behauptet, dass alle Kulturen gleich viel wert sind. Und der Universalismus präsentiert sich als ein unpolitischer Humanitarismus, für den es nur noch Menschen gibt – ohne weitere Bestimmung.

Die Normalität wird abgeschafft

Die Universitäten, deren Geisteswissenschaften schon immer Brutstätten der Realitätsfremdheit waren, spielen in dieser Dynamik des Normalitätsschwunds eine Schlüsselrolle. Natürlich gibt es auch heute noch viele Geisteswissenschaftler, die in ihrem Fach Hervorragendes leisten. Aber sie sind von zwei Seiten bedroht.

Da gibt es zum einen die Gefälligkeitswissenschaftler, die den Studenten politisch korrektes Denken beibringen und genau die „Gutachten“ produzieren, die die Regierung braucht. Und da gibt es zum anderen die Zauberer und Magier, die vollkommen neue Wesenheiten erfinden. Solche Voodoo-Science entsteht, wenn man vorwissenschaftliches Wissen, das kein normaler Mensch bezweifelt, „wissenschaftlich“ in Zweifel zieht – z.B. dass es einen natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt.

Doch wie soll man ohne Normalität leben? Sollen wir alles immer wieder neu aushandeln? Diese Politik der Verständigung um jeden Preis verdrängt die Frage nach dem Richtigen. Gerade die regierungsoffizielle Kultur der sogenannten Diversity sieht keine Unterschiede mehr. Mit ihrem Diskriminierungsverbot tabuisiert sie die Unterscheidung von normal und pathologisch. Dadurch wird die Neurose zum Identitätsentwurf aufgewertet.

Der Neurotiker klammert sich an seine Angst und wird darin von den Warnern und Mahnern in den Medien bestätigt. Das einschlägige Stichwort lautet hier: Identitätspolitik. Im Klartext bedeutet das, dass Hysteriker nicht mehr psychoanalytisch behandelt, sondern politisch geadelt werden. So verlangt jeder Wahn heute Respekt.

Schlechte Zeiten für Leute mit gesundem Menschenverstand. 

Norbert W. Bolz, Prof. emeritus für Medienwissenschaft und Kommunikationstheorie, hat sich einen Namen als Kritiker der political correctness gemacht. Dieser Beitrag erschien zuerst in der Würzburger Tagespost.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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armin wacker / 15.11.2018

Zwei der zentralen Funktionen in der Geisteswissenschaft sind die Mathematik,als Sprache und die Logik. Leider wurden diese aufgegeben.

Sabine Schönfelder / 15.11.2018

Irre ist Zeitgeist. Irrsinn als eine Spielart einer überzüchteten Gesellschaft, dekadent, wirklichkeitsfremd, emotional. Die Wirtschaft bedient diesen Irrsinn, zur Befriedigung der eigenen Profitgier. Vegan, Bio, der Hund als selbstlose Streicheleinheit verwöhnter, urbaner Egozentriker. Die Tätowierung wird zur Mutprobe und Kennzeichnung einer verweichlichten Jugend. Die Begegnung mit der Realität wird nicht ausbleiben. Sie wird von unserer politischen Führung mit Vehemenz in Form von Millionen jungen Muslimen in unser Land katapultiert. Westliches Weichei trifft auf testosterongesteuerten,wenig zimperlichen Einwanderer. Auf den Fußballplätzen der Welt kann man bereits heute mutmaßen, wer am Ende den Sieg davon tragen wird.

J. Schad / 15.11.2018

“Normalität” und “gesunder Menschenverstand” sind eine komplizierte Angelegenheit. Um “Normalität” mit seinen vielfältigen und sich vielfältig wandelnden Phänomenen zu erfassen, muss der “gesunde Menschenverstand” unentwegt rege sein und fähig sein, Lücken zuzulassen. Ideologien sind hier hilfreich, sich die Welt übersichtlicher zu machen. Da aus leicht nachzuvollziehenden Gründen die national-sozialistische Ideologie desavouiert war, nahm man 20 Jahre nach der Katastrophe einfach die andere, die sozialistische. Wie gut es klappte, sich mit dieser Ideologie die Welt übersichtlicher zu machen, konnte man an der anmaßenden Selbstgewissheit der 68-er ablesen. Aber die Sache hatte einen Haken: Es machte schon etwas Mühe, sich die Basics dieser linken Ideologie draufzuschaffen. Also: Diese Selbstgewissheit war nicht mehrheitsfähig. Das ist heute anders. Die ideologische Grundlage der “anmaßenden Selbstgewissheit” der 68-er ist inzwischen heruntergebrochen auf zwei Ideologeme: “keine Ausgrenzung” und “offene Grenzen” resp. “offene Gesellschaft” (Popper kann sich gegen diese Verballhornung des von ihm dargestellten Begriffs nicht mehr wehren). Jetzt ist es wirklich übersichtlich, jetzt ist es mehrheitsfähig. Jetzt ist nur noch das nicht so ganz übersichtliche Recht des Rechtsstaates störend. Die Entsorgung dieses Handicaps gebiert den “Gutmenschen”. Und die Eigenarten der menschlichen Psyche bringen das alles jetzt richtig in Schwung, als da sind: Die Neigung zur Konformität (siehe Konformität-Experiment von Asch, wo offensichtliche Fehlmeinungen der Mehrheit den Hang zur Konformität des Einzelnen nicht unterbinden können). Der Wegweiser für diese Neigung ist der Zeitgeist. Dann die Neigung, sich Autoritäten zu beugen (siehe Milgram-Experiment, wo zwei Drittel immer bei der Autorität waren). Die Rolle der Autorität hat heute das politische und mediale Establishment. ... Und jetzt rollt der Zug - jenseits von Normalität und gesundem Menschenverstand. ...Das wird böse enden.

Wolfgang Richter / 15.11.2018

Aktuell wird die Digitalisierung als das Bildungs- und Menschheitserrettungs Medium der Gegenwart gefeiert. So heute vernommen von einem Lehrenden,  daß z. B. die NRW-Schulen mit digitalen “Tafeln” ausgestattet werden, auf die aus dem Netz alle möglichen bunten Kacheln mit sämtlichen gewünschten Bildungsinhalten aufgespielt werden können, alles zu spiegeln über die Smartphones der Schüler. In die Begeisterung des Erzählenden fragte ich nach der Wissensaufnahme u. -bereitschaft der Schüler - Stille. Auf meine weitere Frage, ob die bunten Bilder die Schüler von “Büffeln” von Grammatik, Vokabeln, mathematischen oder ggf. chemischen Formeln zukünftig entbinden - Schulterzucken. Willkommen in der schönen bunten neuen Welt auf Niveau der Teletubbies, die ja offenbar als Ergebnis der letzten Wahlen und Zähl- oder besser Auslaßergebnisse auf dem gesellschaftlichen Vormarsch sind.

Gabriele Schulze / 15.11.2018

@Wiebke Lenz: ein sehr, sehr wichtiger Punkt: “Worte werden einfach gebraucht, ohne den eigentlichen Sinn”. Wortgeklingel, Hauptsache, die Richtung stimmt. Zur Erörterung empfielt sich Susanne Baumstarks Artikel auf der Achse vom 02.08.18: “John Locke: Prahlen mit Lauten”!

Karl Wagenknecht / 15.11.2018

Le Bon “Psychologie der Massen”, die letzten zwei Seiten lesen, und schon erscheint alles in einem anderen Bild.

Anders Dairie / 15.11.2018

Der Gedanke hat was,  dass sich Gender-Professoren einst beim zuständigen Imam melden und die Theorie mit dem Koran abgleichen müssen.  Ob sie den Weg zur Moschee lebend schaffen?  Wer nie die Diktatur von innen kannte,  weiss nicht,  was ihm entgangen ist.  Diktatur ist,  wenn die Polizei tatsächlich losknüppelt und bis in den Knast nicht wieder aufhört. Wenn sie Rache-Anlässe sucht.  In 1989 wurde in der DDR nur deswegen nicht gemordet, weil alle heil und straflos in die sozialen Netze der BRD springen wollten.  Diesmal gibt es solche Bremsen nicht.  Der Islam ist nicht am Ende.  Der ganze Westen bietet sich als fette Beute.

R. Nicolaisen / 15.11.2018

Dieser “Universalismus ” meint obendrein, die Evolution negieren zu können und zeigt damit gefährliche Einfalt.

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