Die Politisierung des Lebens und der Wirtschaft schreitet weiter voran. Das unterhöhlt den gesellschaftlichen Wohlstand: Deshalb brauchen wir einen neuen Leitgedanken: „Weniger Politik wagen“. Der Wirtschaftshistoriker Michael von Prollius erläutert warum.
Dass die gängige Bezeichnung für die wirtschaftliche Ordnung in Deutschland noch immer „soziale Marktwirtschaft“ laute, ist für Michael von Prollius ein Etikettenschwindel. Das legt der Historiker, Publizist und Gründer des Forum Freie Gesellschaft in seinem dieses Jahr erschienenen Buch „Wirtschaftsfaschismus. Extremer Etatismus in Aktion“ dar. Denn weder habe das Wirtschaftssystem in Deutschland noch die seit langem praktizierte Wirtschaftspolitik etwas mit dem zu tun, wofür die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft einst eintraten (S. 26). Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Ludwig Erhard, Walter Eucken, Franz Böhm und auch Alfred Müller-Armack – alle lehnten, so von Prollius, „die uferlosen Eingriffe von Politikern und Bürokraten in die Lebensgestaltung der Bürger als Konsumenten, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, als Unternehmer und als Wähler ab“, weil sie „die langfristige Gefährdung von Marktwirtschaft und offener Gesellschaft und deren Kippen in autoritäre Formen“ erkannten.
Aus diesen prinzipiellen Gründen war der Wohlfahrtsstaat, den sie als Ausuferung des Sozialstaats betrachteten, ein wichtiges Ziel ihrer fundamentalen Kritik (S. 27). Nichts sei, so der damalige Bundewirtschaftsminister Ludwig Erhard, „unsozialer als der sogenannte ‚Wohlfahrtsstaat´, der die menschliche Verantwortung erschlaffen und die individuelle Leistung absinken lässt.“ Franz Böhm warnte bereits damals vor einer „Refeudalisierung der Gesellschaft“ durch den Druck privilegierter Sonderinteressen. Dadurch sterbe die Freiheit sanft und sukzessive im Namen umverteilter Gerechtigkeit.
Die neoliberale soziale Marktwirtschaft sei spätestens mit dem Wechsel zur sogenannten „aufgeklärten Marktwirtschaft“ unter Karl Schiller gestorben, denn mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 zog der Staat offiziell die Verantwortung für die Wirtschaft an sich und „etablierte endgültig das Mischsystem einer staatlich überformten Wirtschaft“, so von Prollius (S. 28). Die dennoch – aus etatistischer und linker Perspektive – übliche Etikettierung des heutigen wirtschaftlichen und politischen Systems und seiner Missstände als Neoliberalismus, wie auch andererseits die etwa von Liberalen vorgenommene Etikettierung des gleichen Systems als tendenziell oder sogar faktisch neosozialistisch, verdecke die tatsächliche Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie die echten Übelstände. Es dränge sich die bedeutende Frage auf: „In welchem politisch-ökonomischen System leben wir?“ (S. 26)
Etatismus
Dieser Frage spürt von Prollius in einer politökonomischen Analyse nach und schickt voraus, dass die heutige Wirtschaft und Wirtschaftspolitik oder jedenfalls in der Tendenz in Richtung eines extremen Etatismus weisen. Nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch das Leben insgesamt sei in der „post-neoliberalen Zeit“ von etatistischen Schüben gekennzeichnet, die den Staat sukzessive zum Instrument von Sonderinteressen machen und die typischerweise bereits ein Ergebnis dieser Sonderinteressen sein können und faktisch auch heute schon sind.
So beklagt von Prollius völlig zu Recht die Rettung der Banken während der Finanzkrise 2008 und der anschließenden Euro-Krise als „Finanzkrisen-Etatismus“, der zu einer Sozialisierung der Schulden bei gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne geführt hat. Auch das für eine funktionierende Wirtschaft fundamentale Haftungsprinzip wurde außer Kraft gesetzt. Dieser Etatismus zerstört jedoch nicht nur grundlegende wirtschaftliche Prinzipien und Regeln, etwa dadurch, dass die EZB mit Anleiheaufkäufen verbotene Staatsfinanzierung betreibt und Unternehmen finanziert, Klimapolitik ohne Mandat betreibt und mit ihrer Geldpolitik eine zentrale wirtschaftspolitische Rolle übernommen hat, obwohl ihre ausschließliche Aufgabe die Sicherung der Geldwertstabilität ist. Der heutige Etatismus bediene außerdem Partikularinteressen, wie etwa beim staatlich dirigierten Umbau der Energiewirtschaft mit gigantischen Umverteilungen und Subventionen oder durch die zutiefst antisoziale Geldpolitik, von der die Reichsten profitieren, während die nicht Vermögenden verlieren. Und er führt zudem zu volkswirtschaftlichen Gesamtergebnissen, die die Gesellschaft insgesamt schlechter stellen.
Wie von Prollius ausführt, haben die vermeintlich neutralen Technokraten in den Zentralbanken unter der Führung der US-Zentralbank Fed, die jedoch „längst Akteure einer Interessenpolitik“ geworden seien, nach der geplatzten Dotcom-Blase im Jahr 2000 keine Krisenbereinigung zugelassen und damit letztlich die „Systemlogik geändert“. Denn anstatt die in einer Marktwirtschaft von Zeit zu Zeit erforderlichen wirtschaftlichen Krisen mit der einhergehenden Kapitalbereinigung zuzulassen und dadurch das kapitalistische System wieder zu stabilisieren, hat man diesen Prozess ausgehebelt.
Um die wirtschaftliche Bereinigung abzumildern, die vor allem weniger produktive und daher kaum wettbewerbsfähige Unternehmen aus dem Markt gedrängt hätte und zum Leidwesen der Eigentümer große Kapitalvermögen entwertet oder sogar vernichtet hätte, wurden die Zinsen in dieser wie auch in allen darauffolgenden Krisen immer weiter abgesenkt und nicht wieder auf das jeweilige Vorkrisenniveau angehoben. Mit Hilfe dieser Geldpolitik und unterstützt durch Protektionismus, Industriepolitik, Regulierung und Subventionen wurde ein wirtschaftliches Umfeld geschaffen, in dem auch weniger produktive Unternehmen dauerhaft überleben und besser aufgestellte Unternehmen sich ohne Produktivitätsverbesserungen wettbewerblich behaupten können. So ist sinkendendes Produktivitätswachstum, das sich inzwischen – jedenfalls in Deutschland und weiten Teilen der EU – zu einer Stagnation verfestigt hat, zu einem Merkmal der westlichen Wirtschaftsordnung geworden und das Wohlstandswachstum zum Erliegen gekommen.
Um zu zeigen, wie weit dieser Etatismus bereits vorangeschritten ist, rekurriert von Prollius auf den amerikanischen Ökonomen Randall G. Holcombe, der das neue Wirtschaftssystem des Westens als das eines „Politischen Kapitalismus“ beschreibt, also als eine politisch überformte Wirtschaft. Denn nicht etwa seien nur politische Korrekturen an der Marktwirtschaft vorgenommen worden, sondern es habe sich vielmehr ein „eigenständiges System“ herausgebildet, indem die Wirtschaft einem „umfassenden Primat der Politik unterworfen wurde, der ökonomischen und politischen Elite eines Landes, öffentliche Politik nach ihren Interessen und zu ihrem Vorteil zu gestalten“. Auch den Begriff des Neo-Feudalismus hält von Prollius für eine adäquate Beschreibung des heutigen politisch-ökonomischen Systems mit einer privilegierten Finanzelite und einem informellen Bündnis zwischen Big Business und Big Government.
Extremer Etatismus
Ausgehend von der Erkenntnis, dass sich das politisch-ökonomische System in Richtung Etatismus nicht nur eine quantitative, sondern qualitative Veränderung durchgemacht hat, analysiert von Prollius extreme Etatismen, die in der neueren Geschichte aufgetretenen sind. So widmet sich der Autor in jeweils einem Kapitel dem extremen Etatismus des italienischen Faschismus, des deutschen Nationalsozialismus und der sozialistischen Planwirtschaft. Im Zentrum stehen jeweils die wirtschaftliche Entwicklung und die Fragen, welche Bedingungen die jeweiligen Regime überhaupt ermöglicht haben, wie die Wirtschaft umgestaltet wurde, wie weit dieser Transformationsprozess tatsächlich gegangen ist und ob oder welche Muster dieses extremen Etatismus sich wiederholen könnten.
Über seine Analyse des italienischen Faschismus und den Nationalsozialismus kommt von Prollius zu der eindringlichen Mahnung, dass in ohnehin krisengeschüttelten Ordnungen die „Eroberung von Institutionen […] in rasender Geschwindigkeit erfolgen“ kann, was die Frage aufwerfe, wodurch Krisen der Demokratie existenziell werden. (S. 123). Könnte eine derartige Krise etwa durch die Politik der Klimatransformation und eine entsprechende Gegenreaktion entstehen oder ist sogar eine nicht lösbare Krise denkbar, eine „Krise ohne Alternative“ wie sie von Historikern für die späte römische Republik konstatiert wurde. Damals hätten die herrschenden Eliten und die sie stützenden Bürger eine Ordnung zerstört, indem sie diese perpetuieren wollten, während die Unzufriedenen und diejenigen, die Lösungsalternativen vorschlugen, machtlos waren, so von Prollius.
In seiner vor allem auf die Wirtschaft fokussierten Analyse der extremen Etatismen zeigt von Prollius, dass „das Koordinationsproblem, das die Marktwirtschaft so überlegen macht“ unter diesen Regimes massiv beeinträchtigt wird. Auch das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten konnte dieses Problem nicht lösen, denn durch Preis- und Lohnfestlegungen wurden die realen Knappheitssituationen verzerrt, und „folglich konnten auch Unternehmen trotz der verbliebenen Handlungsspielräume ihre Hauptfunktion in einer Marktwirtschaft nicht mehr ausüben: die Organisation ökonomischer Aktivitäten mit der bestmöglichen Nutzung verfügbarer Ressourcen für das Gemeinwohl“ (S. 110).
Die derartigen, etwa zur Verfolgung politischer Ziele erforderlichen, staatlichen Eingriffe der Nationalsozialisten führten zu immer neuen Krisen, die wiederum erneute bürokratische Eingriffe notwendig machten, so von Prollius. „Die Transformation der Wirtschaft erfolgte als Bürokratisierung, unter Mitwirkung von Staatsbürokratie und Unternehmen […]. Die Organisation als typisches Mittel der Bürokratie, kann per se nicht die Komplexität bewältigen, wie es in einer offenen Gesellschaft und in einer Marktwirtschaft geschieht. Eine autoritäre Steuerung der wenigen […] führt zwangsläufig zu immer neuen Krisen und vollmundigen Kampfmaßnahmen“ (S. 125). Der Interventionismus des extremen Etatismus führe zu einer „Sklerose als Folge der politischen Steuerung der Wirtschaft“ (S. 127). Dies jedoch unterhöhle den gesellschaftlichen Wohlstand, was sich wegen der Verbindung wirtschaftlicher und politischer Krisen auch zu einem Legitimationsproblem entwickeln und die Fundamente von Gesellschaft und Staat erschüttern kann (S. 177).
Weniger Politik wagen
Mit der vorliegenden Studie ist von Prollius ein wertvoller Paradigmenwechsel gelungen. Denn indem er den extremen Etatismus zum Fokus seiner vor allem wirtschaftlichen Analyse macht, zeigt er auf, worin sich das Muster des politisch-ökonomischen System, in dem wir heute leben, von dem des Faschismus, Nationalsozialismus und in sozialistischen Planwirtschaften gleichermaßen unterscheidet, wie es andererseits aber auch Ähnlichkeiten aufweist. Insbesondere wird deutlich, dass sich der heute erkennbar zunehmende Etatismus im extremen Etatismus des Faschismus und des Nationalsozialismus spiegelt und sich nicht etwa zu einer sozialistischen Planwirtschaft zu entwickeln droht.
So mahnt von Prollius zu mehr Wachsamkeit, denn „Politisierung und Bürokratisierung des Lebens bleiben nicht folgenlos“. Zwar gelte: „Politik ist nicht per se das Problem, der Staat ist nicht und entwickelt sich nicht per se zu einem extremen Etatismus und Bürokratie ist nicht Bürokratismus.“ Jedoch scheine es in der gesamten westlichen Welt niemanden zu geben, der diesen gordischen Bürokratieknoten durchschlagen kann, denn „Regulierungen werden immer detaillierter, verknäulter, potenzieren sich in ihrer Wirkung.“ (S. 176) Um dem extremen Etatismus die Stirn zu bieten, müsse erkannt werden, „dass die von Bürokraten und Politikern übernommenen und ihnen von erheblichen Teilen der Bevölkerung zugesprochenen Aufgaben Erwartungen an Staat und Politik außerhalb ihrer Kompetenzen und ihrer Systemlogik liegen“. Um realistische Erwartungen an die Politik zu stellen, sei ein Perspektivwechsel notwendig und ein neuer Leitgedanke: „Weniger Politik wagen“ (S. 173).
Michael von Prollius, Wirtschaftsfaschismus: Extremer Etatismus in Aktion, 206 Seiten, Books on Demand, 2024.
Alexander Horn ist selbstständiger Unternehmensberater und lebt in Frankfurt am Main. Er publiziert mit Fokus auf wirtschaftspolitische Themen und hat seine politische Heimat beim Politikmagazin Novo. Mehr von Alexander Horn lesen Sie in seinem aktuellen Buch „Die Zombiewirtschaft - Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“ mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan.
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