Lieber Herr Wegner, ich schätze Ihre Texte sehr und doch möchte ich eine kritische Anmerkung machen. Der häufige Gebrauch von Links schmälert den Lesegenuss doch beträchtlich. Sicher braucht man die Verweise hin und wieder, um Quellen zu belegen und es ist mitunter auch wunderbar einfach und zeitsparend für uns, derart weitergeleitet zu werden, aber trauen Sie Ihren Lesern ruhig zu, dass sie den einen oder anderen Sachverhalt selbst vertiefen.
Apropos “Sind Sie schon zu Tränen gerührt?” Der ZDF-heute-journal Moderator Christian Sievers (auch mehrfacher Preisträger) brachte auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle aus Ungarn 2015 einen bewegenden Bericht über einen kleinen Jungen, der da an der Grenze mitlief: “Schauen Sie auf die kleinen Füßchen des Jungen, wie wund sie sind, abgewetzte Socken, kaputte Schuhchen, trauriges Gesicht, abgemagerte Gestalt. Und der muss jetzt immer weiter laufen. Keiner hilft ...” Spätestens an dieser Stelle heulte meine Beste wie ein Hund und rannte dann später mit einem Essenskorb zum Bahnhof .... Heute ist mir klar, was die unter “Qualitätsjournalismus” und “Pressefreiheit” verstehen. Die SPIEGEL-fake-story ist doch nur die Spitze des Eisbergs. In der SZ hat vor Wochen der frühere SPIEGEL-ChRed Mascolo, heute “ARD-Terrorismus-Experte”, einen rührseligen Artikel der Selbstkritik über Qualitätsjournalisten, zu denen er sich selbstverständlich auch zählt, verfasst. Hat mich auch fast zu Tränen gerührt. Seine SZ macht aber weiter wie bisher.
@Fritz Lehmann-“Mittlerweile gibt es diese Stories nicht mehr. ” Leider falsch, habe erst vor ein paar Tagen etwas ähnliches auf web.de gelesen, Wei einmal lügt, .....
Ein begnadeter Geschichtenerzähler war er. Meinte auch der Spiegel in seiner “Selbstanzeige”. Die Frage ist jedoch: Ist Relotius ein Einzelfall? Das wage ich zu bezweifeln. M.E. ist der Journalismus der MSM bereits durchrelotiunisiert. Dabei denke ich spontan an die Berichterstattung zu Silvester 2015 in Köln und an die Story des “Lynch-Mobs” von Chemnitz, Auch da wurden uns keine Nachrichten präsentiert sondern Geschichten erzählt, die sich von Relotius’ Vorgehen nicht wirklich unterscheiden. Die dort präsentierten Geschichten sind mindestens so gut, vielleicht nicht ganz so blumig erzählt, wie “1.000 € von Syrer gefunden und bei Polizei abgeliefert” oder “das Löwenkind verweigert das Selbstmordattentat”. Warum ist da der Spiegel nicht auf die Barrikaden gestiegen? Warum haben sich da die rechtschaffenen MSM nicht echauffiert? Warum halten die Leser diesen Fake-Produzenten, auch wenn der Fake noch so offensichtlich ist, noch immer die Nibelungentreue? Weil wir Geschichten mögen. Realität kann Jeder - das ist ja soo deprimierend. Aber eine zu Tränen rührende Geschichte erzählen - das ist eine Kunst. Die mögen wir. Und “die” wissen, was wir mögen. Und damit fangen sie uns. Jeden Tag wieder von Neuem.
Nichts Neues unter der Sonne. Die Pressefreiheit ist eine der Nebelbänke der Aufklärung. Siehe Noam Chomsky und sein Propagandamodell, oder diese Rede von John Swinton aus 1883: “So etwas wie eine unabhängige Presse gibt es in Amerika nicht, außer in abgelegenen Kleinstädten auf dem Land. Ihr seid alle Sklaven. Ihr wisst es und ich weiß es. Nicht ein einziger von euch wagt es, eine ehrliche Meinung auszudrücken. Wenn ihr sie zum Ausdruck brächtet, würdet ihr schon im Voraus wissen, dass sie niemals im Druck erscheinen würde. Ich bekomme 150 Dollar dafür bezahlt, dass ich ehrliche Meinungen aus der Zeitung heraushalte, mit der ich verbunden bin. Andere von euch bekommen ähnliche Gehälter um ähnliche Dinge zu tun. Wenn ich erlauben würde, dass in einer Ausgabe meiner Zeitung ehrliche Meinungen abgedruckt würden, wäre ich vor Ablauf von 24 Stunden wie Othello: Meine Anstellung wäre weg. Derjenige, der so verrückt wäre, ehrliche Meinungen zu schreiben, wäre auf der Straße um einen neuen Job zu suchen. Das Geschäft des Journalisten in New York ist es, die Wahrheit zu verdrehen, unverblümt zu lügen, sie zu pervertieren, zu schmähen, zu Füßen des Mammon zu katzbuckeln und das eigene Land und Volk für sein tägliches Brot zu verkaufen, oder, was dasselbe ist, für sein Gehalt. Ihr wisst es und ich weiß es; Was für ein Unsinn, einen Toast auf die ‚Unabhängigkeit der Presse‘ auszubringen! Wir sind Werkzeuge und Dienstleute reicher Männer hinter der Bühne. Wir sind Hampelmänner. Sie ziehen die Fäden und wir tanzen. Unsere Zeit, unsere Fähigkeiten, unser Leben, unsere Möglichkeiten sind alle das Eigentum anderer Menschen. Wir sind intellektuelle Prostituierte.” Zuerst kommt halt das Fressen ...
Wie immer ein Genuss Ihr gesamter Text, Herr Wegner. Bei Ihnen kann man Berichtsobjekt und eigene Gedanken, wie auch mal Wünsche meistens gut und leicht unterscheiden. Vieles an der Art, wie in den Medien berichtet wird, dürfte Kenner (Liebhaber wie ich) des Genres Mockumentary (fiktionaler Dokumentarfilm) regelrecht in Verzückung setzen. Seit sich die gebenedeiteste Politikerin als Kanzlerin persönlich, mit Allmacht und Freude, der Zerstörung eines funktionierenden Industrielandes samt formellen und informellen Gewohnheiten des Gemeinwesens befasst, war absehbar, was passieren wird. Zumal Sie höchst selbst das postfaktische Handeln als Regierungschefin beschrieb. Regierungsziel höhere Moral! Nun stehen wir da. Als Adressat von Informationen hilflos, wie in einer Diktatur, einen Großteil der Reste kindlichen Urvertrauens im Erwachsenenalter schlagartig verloren zu haben ist bitter. Die unterbewusste, evolutionäre Strategie dagegen, höheres Misstrauen gegen andere und die Bereitschaft Gedanken, Ziele und Wünsche selbst zu verheimlichen hat jeden erfasst! Das nudging wirkt! Niemand kann sich ohne große Nachteile zu erleiden entziehen. “Alles gut? Ja.” An diesem mittlerweile gewohnten Kurzdialog zum Befinden des Anderen, lässt sich wohl exemplarisch heutiges ablesen. Die Spürnase Relotius, hat diesen Trend früh erkannt, er wird auch beim nächsten Mal mit vorne sein. Die hohe kriminelle Energie sehe ich eher nicht, gefährlicher ist das unterschwellig an der Grenze bleiben. Hier werden die MSM weitermachen, nach Gesetzen des Krieges, wo eigene Opfer nicht automatisch Niederlage bedeuten. Bin persönlich gespannt, wer bei der Trennung Spiegel / Relotius Geld zahlt, und wer nicht. Persönlicher Tipp; Spiegel, wobei Herr Relotius beim Blick auf die Abrechnung vielleicht denken mag:” Bitte sanktionieren Sie mich bald wieder.”
“Was ist denn für uns die Lehre aus dem Fall Claas Relotius? – Ich habe es schon früher gesagt, ich sage es jetzt und werde es wiederholen: Prüfe alles, glaube wenig, denke selbst!” Das kann man nicht oft genug wiederholen !! Wenn man an die Hitlertagebücher zurückdenkt, steckt dahinter die gleiche Denkweise. Man, also der mainstream, fühlt sich bestätigt in seinem “Denken”. Da fehlen nur noch die Tränen von Klaus Kleber. Der, der “nüchtern” analysiert und versucht aus verschiedenen Blickwinkeln “zu beleuchten”, hat in diesem System der permanenten, gewollten sich selbst erfüllenden Prophezeiungen verloren. Es wird das produziert was man hören will. Und wenn dann noch die Kanzlerin zum Kaffee einlädt, wechseln Anschauungen per Osmose zum Journalisten. Dann wird man auch nächstes Jahr eingeladen und das ist einigen sehr wichtig für ihr Ego.
Ich habe mir mal die Mühe gemacht und nachgelesen, wie in der Vergangenheit die Reaktionen - gerade auch von Journalisten - auf Relotius-Artikel waren. Da war viel von Emotion die Rede. Viele sagen, sie hätten geweint beim Lesen der Reportagen. Es war ein regelrechter Wettbewerb im Ergriffensein. Dabei war das Muster von Relotius oft dasselbe: Er bestätigte nicht nur Klischees (etwa über US-Amerikaner usw.) sondern verstärkte diese dann noch in einem fast bizarren Ausmaß. So sehr, dass man sich fast an eine Art von Serien-Kriminellen erinnert fühlt, die bei jeder Tat dreister werden - als narzisstischer Kick und als “Beweis”, dass sie cleverer sind als ihre Gegner. Er scheint sich sogar geradezu über seine eigene Dreistigkeit zu amüsieren, etwa als er in einer seiner Reportagen schreibt, dass diese Geschichte auch von Franz Kafka hätte erdacht sein können. Um Fakten ging es nur subaltern bei Relotius noch bei seinen ergriffenen Fans: Es ging wohl am Ende in erster Linie um Steigerungen von Rührseligkeiten, die ein heimeliges Gefühl bestätigen, auf der “richtigen Seite” zu stehen. Oder das, was Journalismus-Preisträgerin Anja Reschke kürzlich sagte: Um Haltung. Haltung braucht keine Fakten. Haltung kann man zusammenflunkern wie die Märchenfee.
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