Ausgerechnet der deutsche Botschafter warnt, in den USA sei die Medienfreiheit in Gefahr. Wie viel kognitive Dissonanz kann man ertragen? Das Problem am deutschen Zeigefinger in Sachen Demokratie und Freiheit ist nicht die deutsche Vergangenheit, sondern die deutsche Gegenwart.
Ach, würden wir doch nur die Weisheit bedenken, die in unseren Redensarten schlummert! Eine solche kluge Redeweise lautet: Wer mit dem Finger auf einen Anderen zeigt, auf den zeigen drei Finger zurück. An diese Redeweise denke ich jedes Mal, wenn ich wieder lese, wie die Deutschlanddarsteller auf der Weltbühne moralische Ratschläge vortragen.
Aktuell lesen wir von der neuesten Peinlichkeit aus dem Auswärtigen Amt, und es ist nicht einmal die Trampolinspringerin, die uns jene neue, typisch neudeutsche Art der doppelten Scham einflößt: das Fremd- plus Nationalschämen.
Der deutsche Botschafter in den USA (ein Herr Andreas Michaelis; siehe Wikipedia) diente als Diplomat unter anderem unter Joschka Fischer. Er arbeitete im Auswärtigen Amt, unter anderem unter Steinmeier (der Trump als "Hassprediger" verunglimpfte) und Maas (der Trump auslachte, als dieser vor der Abhängigkeit von russischem Gas warnte).
Während die gesamte Welt – oder zumindest ihr rationaler Teil – gerade bemüht ist, bei Donald Trump gut Wetter zu machen, trampelt Deutschland weiter als germanischer Ochse durch den diplomatischen Weltgarten.
Der Unabhägigkeit beraubt?
Herr Michaelis, der Botschafter Deutschlands in den USA, hat am 14. Januar 2025 ein Papier unterzeichnet (so die aktuelle Berichterstattung), in welchem denkbar düstere Prognosen für Amerika unter Trump formuliert werden, und dieses Papier wurde nun wohl "geleaked". Technologieunternehmen erhielten "Mitregierungsgewalt", so zitiert welt.de, 19.1.2025, daraus. Strafverfolgung werde zum Instrument der Politik. Es wird vor "Notstandsregelungen" unter Trump gewarnt, die dieser zum Sichern seiner Macht einsetzen könnte.
Diese Warnungen vor kommenden Zuständen in den USA schreiben nicht linke Aktivisten, also Menschen, die ganz natürlicherweise ohne jeglichen Sinn für Ironie und Selbstkritik ihr Leben bestreiten, sondern wohl Beamte im Außenministerium, mit Unterschrift des Botschafters. (Ich hoffe sehr, dass diese Kombination von "nicht" und "sondern" auch wirklich noch einen Unterschied und Gegensatz beschreibt.)
Extra schlimm finden die aber offenbar: "Legislative, Gesetzesvollzug und Medien würden ihrer Unabhängigkeit beraubt"! Wirklich? Unter Trump in den USA würden die Medien ihrer Unabhängigkeit beraubt?! Es zwingt sich geradezu auf, diese Schwurbelei durchzugehen, Punkt für Punkt. Die "drei Finger", die stets auf den Zeigenden zurückweisen, lassen uns ungläubig fragen: Sind deutsche Funktionäre, die solche Befürchtungen bezüglich der USA aufs digitale Papier bringen, wirklich für die Verhältnisse in Deutschland blind?
Besser seinen Bademantel zurechtlegen
In den USA regieren Unternehmer mit, schreibt die Diplomatie und meint natürlich Elon Musk. Deutsche Politiker und Diplomaten hatten wenig Skrupel, sich mit Milliardären wie dem berüchtigten George Soros zu beraten (@GermanyUN, 5.11.2018). Der US-Milliardär und Pharma-Kumpel Bill Gates „beriet“ sich nicht nur mit Politikern in Europa, er durfte sogar in den Tagesthemen im Orwell-Stil seine Panikmache ans deutsche Volk verkünden wie ein Super-Weltenlenker (Tagesthemen 12.4.2020, via YouTube, ab ca. 29:30).
Dass US-Milliardäre am wirtschaftlichen Suizid Deutschlands im Namen des Klimaschutzes mitschreiben, dass sie NGOs zur Beeinflussung der deutschen Politik finanzieren, dass sie die für Deutschland und Europa verheerende Schlepperhilfe unterstützen, all das ist eigentlich modernes Allgemeinwissen – außer man ist deutscher Botschafter in den USA, offenbar.
Strafverfolgung werde zum Instrument der Politik. Aha. In Deutschland ist es ein neues geflügeltes Wort, dass, wer sich kritisch über die Regierung äußert, besser seinen Bademantel zurechtlegt. Das ist eine sarkastisch-bittere Dokumentation der Tatsache, dass in Deutschland die „strafende Hausdurchsuchung“ am frühen Morgen längst ein Mittel der außer-rechtsstaatlichen Verfolgung kritischer Meinung ist.
Warnt die deutsche Diplomatie also davor, dass es in den Trump-USA bald so wenig demokratisch zugehen könnte wie in Deutschland? Hmm. Es wird vor "Notstandsregelungen" gewarnt. Was genau meinen die Diplomaten damit? Meinen sie so etwas wie eine Ermächtigung des Parlaments an sich selbst, Grundrechte auszuhebeln?
Anführungszeichen des Ekels
Und dann … Medien würden ihrer Unabhängigkeit beraubt. Wer genau aber würde seiner Unabhängig beraubt? CNN gehört WarnerMedia und die wiederum AT&T. ABC gehört Disney. MSNBC gehört Comcast. Die Washington Post gehört dem Amazon-Gründer Jeff Bezos, und die New York Times ist ein börsennotiertes Unternehmen, in welchem die Ochs-Sulzberger-Dynastie durch eine spezielle Aktienstruktur die Mehrheit der Stimmrechte hält.
Welches dieser Medien ist „unabhängig“ zu nennen? Und: Sollte man als Deutschland mit seinen ARDs und ZDFs und Correctivs und den „Kooperationen“ und all den Journalisten mit Staatshonoraren wirklich die Unabhängigkeit von Medien in anderen Staaten einfordern?
Ausgerechnet Deutschland, wo der durch Skandale watende und doch von seinen Jüngern als Sonnengott verehrte Wirtschaftsminister den Journalisten vorschreibt, was sie fragen dürfen und was nicht – und die Journalisten halten sich daran (welt.de, 20.01.2025)?
Ausgerechnet Deutschland, wo unliebsame Magazine einfach so mal von der Regierung verboten und vorübergehend enteignet werden können (um später dann doch wieder erlaubt zu werden)?! Ausgerechnet Deutschland, wo Meinungsfreiheit inzwischen in den Anführungszeichen des Ekels geschrieben wird, hält moralische Belehrungen in Sachen "Freiheit" gen USA?
Dem deutschen "Elfenbeinturm" (wie ein Ulf Poschardt gern seine Kollegen und soziale Schichtgenossen bewertet) gelingt es tatsächlich, Elon Musk verbieten zu wollen, wegen zu viel Meinungsfreiheit auf X – und zugleich vor Trump zu warnen, weil dieser angeblich die Meinungs- und Medienfreiheit einschränken wird. (In dieser aggressiv ausgelebten kognitiven Dissonanz verraten die aber, was sie wirklich wollen: Freiheit für ihre Meinung – und Freiheit von der abweichenden Meinung.)
Das Problem ist nicht die deutsche Vergangenheit, sondern die deutsche Gegenwart
Natürlich sollten Menschen einander in moralischen Angelegenheiten korrigieren, die Rechtfertigung ihrer Handlungen vorlegen können, zumindest vor sich selbst. Moral ist anstrengend, aber ganz ohne Moral geht all das kaputt, was uns wichtig ist.
Ich las dieser Tage, dass es die deutschen Eliten geradezu rasend macht, wenn ein Elon Musk sich in internationale Debatten um Moral und Politik einmischt, denn Einmischung in internationale Debatten und Politik ist laut deutschen Eliten ausschließlich deutschen Eliten gestattet.
Natürlich sollen auch Völker mit "problematischer" Geschichte einander grundsätzlich bei der Besserung unterstützen. Wenn jeder, der je Dummes oder sogar Schlimmes unternahm, sein prinzipielles Grundrecht auf den moralischen Zeigefinger verlieren würde, dann dürfte niemand mehr irgendetwas zur Moral sagen, denn für jeden von uns findet sich ein Sand, in den sich sein Name schreiben ließe. Das Problem am deutschen Zeigefinger in Sachen Demokratie und Freiheit ist nicht die deutsche Vergangenheit, sondern die deutsche Gegenwart.
Das große Problem am deutschen Moralzeigefinger bleiben also die drei Finger, die zurück aufs heutige Deutschland und die heutige deutsche Postdemokratie weisen. Wenn man schon andere Staaten moralisch kritisiert, sollte man darauf achten, nicht zugleich und immer mehr selbst auf laute und aggressive Weise genau das zu praktizieren, was man dem Gegenüber vorwirft.
Solange wir Deutschen nicht klüger geworden sind, solange unsere Debatte auf dem knöchelhohen Niveau von Philosophie-Erstsemestern, Staatsfunkmoderatoren und Grünenfunktionären geführt wird, solange sollte von Deutschland kein moralischer Zeigefinger erhoben werden.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. Seine Website und das Blog-Magazin, auf dem dieser Beitrag zuerst erschien finden Sie hier.