Peter Grimm / 06.02.2020 / 07:53 / Foto: Pixabay / 130 / Seite ausdrucken

Der Dammbruch ist fünf Jahre alt

Manche Reaktionen nach der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum thüringischen Ministerpräsidenten waren beinahe hysterisch. Die einen warnten vor Faschisten, die jetzt mitbestimmten, wer regiert, die anderen beklagten einen Dammbruch wegen der Annahme einer Wahl, bei der auch AfD-Abgeordnete für den neuen Landes-Premier gestimmt hatten, während sich Berliner CDU- und FDP-Politiker um Distanz zum Treiben ihrer thüringischen Parteifreunde bemühten. Doch der Dammbruch fand in Erfurt schon fünf Jahre früher statt und hat dazu geführt, dass seit der letzten Landtagswahl alle klassischen demokratischen Parteien zusammen nur noch eine Minderheit der Abgeordneten in Erfurt stellen.

Nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten am Mittwochmittag herrschte ein paar Stunden Schockstarre in der deutschen Polit-Landschaft außerhalb von Thüringen. Doch dann brach der Sturm der Entrüstung los. Zumindest in der Medienübermittlung sah, hörte und las man ein wahres Trommelfeuer an Kritik. Schien der Tweet von Grünen-Chefin Annalena Baerbock, in dem sie Kemmerichs Rücktritt oder den Ausschluss der Thüringer Landesverbände von CDU und FDP aus ihren Bundesparteien forderte, zunächst wie ein überspannter Schnellschuss, so wurde alsbald deutlich, dass sie damit nur die Tonlage getroffen hatte, in der auch namhafte Vertreter von CDU, CSU, SPD und Linken auf die überraschende Wahl reagiert hatten.

Von Vertretern der SPD, den Grünen und den Linken wurde gern von einem „Pakt“ mit „Nazis“ oder gern auch „Faschisten“ gesprochen. Linken-Vorsitzender Bernd Riexinger beklagte, dass sich FDP und CDU mit ihrem schändlichen Verhalten zum „Steigbügelhalter“ der AfD gemacht hätten. Zu sehr liebt der Genosse offenbar die mit der „Machtübernahme“ von 1933 verbundene Metapher des Steigbügelhalters, dass er übersehen hat, dass – um im Bild zu bleiben – allenfalls die AfD der Steigbügelhalter war, denn im Sattel sitzt ein FDP-Ministerpräsident.

Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer und ihr Generalsekretär Paul Ziemiak – sonst nach jeder Landtagswahl die Sprechblase „das entscheiden die Parteifreunde vor Ort, da mischen wir uns nicht ein“ nutzend – verkündeten nun in alle Mikrophone, dass die Thüringer Parteifreunde ausdrücklich gegen ihren Rat, ihre eindringlichen Empfehlungen und Bitten gehandelt hätten, als sie für den FDP-Kandidaten stimmten.

„Dammbruch“ und „Tabubruch“

Auch der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident beeilte sich, diese Wahl zu verurteilen und sprach von einem „Dammbruch“. „Dammbruch“ und „Tabubruch“ dürften die Worte der zweiten Tageshälfte jenes 5. Februar 2020 gewesen sein, denn auch die Vertreter der anderen Parteien nutzten sie inflationär. Vor allem CDU und CSU verbanden ihre Kritik mit der Forderung nach Neuwahlen.

Niemand scheint verwundert ob dieser Hysterie, dabei dürften wohl nicht einmal seine Kritiker dem gewählten Ministerpräsidenten oder seiner Partei ernsthaft unterstellen, nicht in den Reigen der Demokraten zu gehören. Wäre der bis heute Mittag amtierende Amtsvorgänger wiedergewählt worden, hätte das nahezu niemanden im politisch-medialen Soziotop sonderlich erregt, obwohl doch die Zugehörigkeit der SED-Nachfolgepartei zur Gemeinschaft überzeugter Demokraten mindestens fragwürdig ist. Sollte das den Beobachter nicht vielleicht etwas stutzig machen?

Es gab einen Dammbruch und einen Tabubruch in Erfurt. Aber den gab es nicht am 5. Februar 2020, sondern am 5. Dezember 2014. An diesem Tag wählte der Thüringer Landtag Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten. Es war das erste Mal, dass die SED-Nachfolgepartei seit Ende der SED-Diktatur wieder eine Regierung anführte. SPD und Grüne dachten damals nicht daran, eine ungeliebte Koalition mit den anderen zweifelsfrei demokratischen Parteien einzugehen, um den Marsch der Linken an die Spitze des Landes zu verhindern. Das, was sich CDU, SPD und Grüne in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg heutzutage als sogenannte Kenia-Koalitionen zumuten, um die AfD von der Macht fernzuhalten, wurde in Bezug auf die SED-Nachfolger nicht in Erwägung gezogen.

Natürlich hatte Bodo Ramelow selbst nichts mit der SED zu tun und hat auch versucht, mehr als Landesvater denn als Genosse zu erscheinen. Doch war diese Aufweichung der Grenze zwischen zweifelsfrei demokratischen Parteien aller Couleur und einer Partei, die Träger eine Diktatur war und kein zweifelfrei positives Verhältnis zu einer freiheitlich-demokratischen Ordnung hat, ein Damm- oder Tabubruch. Und der hatte zur Folge, dass es im letzten Jahr ein Wahlergebnis in Thüringen gab, bei dem erstmals im demokratischen Nachkriegsdeutschland die traditionellen demokratischen Parteien zusammen in der Minderheit waren. Das bedeutet: Niemand kann im Thüringer Parlament mehr eine Mehrheit unter Beigehaltung der althergebrachten weißen demokratischen Weste erreichen. Der Dammbruch vom Dezember 2014 und auch einige andere Dammbrüche in den Folgejahren waren es, die dafür gesorgt haben, dass Thüringer Demokraten in dieser unkommoden Situation sind.

Kemmerich wäre zunächst handlungsfähig

An diese Dammbrüche möchten deren Verursacher vielleicht nicht so gern erinnert werden. Wieviel leichter ist es doch, jetzt gegen die Thüringer FDP und CDU zu polemisieren und die Linke einfach als vollkommen unproblematische Partei anzusehen.

Nun könnte man immerhin ja mit Kramp-Karrenbauer und Ziemiak zusammen Neuwahlen fordern und hoffen, dass diese ein kommoderes Ergebnis bringen. Doch da hat der neue Ministerpräsident Kemmerich wahrscheinlich recht, wenn er gestern Abend im Interview im ARD-Brennpunkt sagte, dass Neuwahlen kaum ein wesentlich einfacheres Ergebnis bringen würden, als das des letzten Urnenganges.

Ob Ministerpräsident Kemmerich dem Druck standhält und nicht zurücktritt, wie es viele fordern, und ob er ein funktionsfähiges Kabinett bilden kann, ist noch nicht klar. Aber wenn, dann ist er zunächst handlungsfähig, auch wenn ihm eine Weile lang noch konsequent jede Stimme von anderen Parteien außerhalb von CDU, FDP oder AfD verweigert wird. Bodo Ramelow hatte noch vor der Wahl mit seiner damaligen parlamentarischen Mehrheit einen fragwürdigen Doppelhaushalt auch für dieses Jahr beschließen lassen. Damit wollte er sich Handlungsfreiheit für den Fall einer Minderheitsregierung sichern. Davon kann nun Kemmerich profitieren. Für den Genossen Ramelow ist das sicher besonders ärgerlich.

Die Frage bleibt, ob ihn nach den Interventionen aus Berlin die Thüringer CDU-Politiker als Unterstützer verlassen. Aber möglicherweise scheren sie sich nicht um die Forderungen aus der Bundeszentrale. Denn Neuwahlen sind für etliche Thüringer CDU-Abgeordnete kaum attraktiv, denn sie könnten ihr Mandat verlieren. Und die Bundesspitze kann wahrscheinlich auch nicht allzu vielen Erfurter Christdemokraten eine hinreichend lukrative Perspektive bieten, die sie zum Umdenken bringt.

Aber das ist jetzt reine Spekulation. Wie man gestern lernen konnte, kann Thüringen überraschen. Nur war diese Überraschung nicht der beschworene Dammbruch, sondern die Folge früherer Dammbrüche.

Foto: Pixabay

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Heinrich Wägner / 06.02.2020

Als ich 1990 in die Bundesrepublik Deutschland "Geschuppst" wurde hätte ich es nicht für möglichgehalten was ich gestern erlebt habe. Ein Blumenstrauß vor den Füßen des gewählten Kandidaten. Ich war früher sehr oft in Thüringen, bei Grossmutter in den Ferien als Kind und auchspäter noch. Sie liebten dieses, ihr Thüringen, ihre Ruhla Produkte und viele Andere die für kleinesGeld in alle Welt verhökert wurden . Ihren Herbert Roth , der sie in der Welt bekannt machte. Die Uhr lässt sich nicht rückwärts drehen. Herbert Roth ,er ist nicht mehr. Und so kann ich denThüringen nur wünschen. Die PARTEI , hat euch Jahr zehnte gesagt und befohlen was ihr zu tunund zu lassen habt,wie ihr leben müsst. Ich wünsche euch das ihr eure Heimat Verbundenheitleben könnt ohne das euch Partei'en wieder vorschreiben wie ihr zu leben habt. Das ist nun einmal so,mit den Parteien wie es immer war. Sie möchten entscheiden was gut und böse, was richtig und falsch und was wahr und und unwahr ist. Sie werden diese ihre Parteien Kulturverteidigen ,bedeutet sie doch Macht und das schöne Geld des Steuer Zahler's in ihren Taschen.Die Schnappathmung geht durch die Reihen derer die ihre Felle davon schwimmen sehen. In den Kommentaren vor mir wurde fast alles gesagt. Bis auf, viel Glück ihr Thüringer .Ihr werdetes sein , die über eure Zukunft entscheidet.

Steffen Huebner / 06.02.2020

Es erhärtet sich der Eindruck, dass die BRD mit freien Wahlen ähnliche Probleme hat, wie die ehemalige DDR. Wenn das Egebnis nicht passt, gibt`s Wählerschelte und wird passend gemacht - Genosse Putin und Herr Xi freuen sich schon jetzt klammheimlich auf den nächsten Staatsbesuch aus Deutschland und Merkels Belehrungen...

Fritz Gessler / 06.02.2020

pardon, ganz abgesehen davon, dass mit knappesten 5% die FDP ganz sicher NICHT den wählerauftrag hat, just den regierungspräsidenten zu stellen - mit wem will herr kemmerich denn seine 'anti-Afd'-expertenregierung bilden? nur mit FDPlern? :))...wahlbetrug hat viele gesichter: der schwenk des liberalen herrn kemmerich, der seinen wahlkampf explizit GEGEN die AfD führte, um sich jetzt von ihr ins amt hieven zu lassen, ist eines davon.faschismus? nein: verschissmus! :))

Hans-Jörg Jacobsen / 06.02.2020

Die FDP war in einer typischen Catch22-Situation: Hätte sie wegen des „Risikos“, mit Stimmen der AFD ihren Kandidaten wählen zu lassen, diesen zurückgezogen, hätten dieselben, die jetzt von Tabubruch belfern, der Partei vorgeworfen, sich von der AFD die Agenda bestimmen zu lassen. Hätte Kemmerich die Wahl nicht angenommen, wäre von dem juste milieu der Vorwurf gekommen, FDP verweigere sich wieder der Verantwortung, siehe platzen der Jamaica- Verhandlungen. Interessant wäre im Übrigen die Frage, wie Ramelow reagiert hätte, wäre er mit Stimmen der AFD gewählt worden.

michel o. neland / 06.02.2020

Phantastisch! Je mehr Sand in das Getriebe des Linksstaates und die von Kommunisten unterwanderten bürgerlichen Parteien, desto besser. Holen wir uns wenigsten die ,,Bonner Demokratie" zurück, wenngleich man weiß, dass auch das keine ,,Volldemokratie" war.

Klaus U. Meyerhanns / 06.02.2020

Nun muß man mit erschreckender Deutlichkeit zur Kenntnis nehmen, daß nahezu alle Repräsentanten der etablierten und auch weniger etablierten Parteien massive Nachhilfe in Sachen Demokratie benötigen. Eine nicht verbotene Partei, die nahe zu 1/4 der Wähler vertritt und in dieser Rolle natürlich immer völlig legitim an allen parlamentarischen Entscheidungen im Land mitwirkt, wird pauschal zum "Schmuddelkind" erklärt. Und in widersprüchlichster Weise erblöden sich die Konkurrenzparteien bis hin zur Kanzlerin nun darin, daß alle Entscheidungen, die durch Mitwirkung dieser AfD zustande kommen "unerträglich" seien und irgendwie ausgehebelt werden müßten. Aber all dies scheint auf dem vermeintlich alternativlosen Weg in die Öko-Diktatur und in den EU-Sozialismus bei den Etablierten inzwischen zum völlig unreflektierten Kollateralschaden ("Wo gehobelt wird, fallen eben nun mal Späne ...") zu gehören. Anstatt froh darüber zu sein, daß endlich die Linke als unmittelbare SED-Nachfolge, die bekanntlich an der ehemaligen DDR-Grenze - woran sich inzwischen offenbar nur noch einzelne erinnern - auf eigene reisefreudige Landsleute scharf schießen ließ, wie es ihr gehört, aus dem Ministerpräsidentenamt gejagt wurde.

Wally Karl / 06.02.2020

Der sechsfach Familienvater Kemmerich wird die Attacken der versammelten Linke wohl nicht überstehen und zurücktreten, zumal ihm seine eigene Partei aus völlig unerfindlichen Gründen die Rückdeckung versagt. Die Generalsekretäre der ehemaligen Volksparteien CDU und SPD sprechen in ihren Interviews schon gar nicht mehr von der AfD sondern nur noch von Nazi`s und zwar unwidersprochen. Da kommt die Verrohung der Sprache her. Bisher wurde der Ministerpräsident nur verbal angegriffen aber wir wissen alle das da noch der militante Arm der versammelten Linke die Antifa im Anmarsch ist und da wird Kemmerich wohl spätestens kapitulieren.Die versammelte Linke hat das Land bereits total im Griff, dem sind die Konservativen nicht gewachsen, bei Neuwahlen wird allerdings so steht zu vermutet die AfD die Gewinnerin sein.

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