Im Deutschen gibt es dieses kleine Sprichwort, das besagt, dass aller Anfang schwer sei. Nun wissen die meisten Menschen, dass dieses Sprichwort nur die halbe Wahrheit beschreibt. Mark Twain entlarvte die andere Hälfte der Wahrheit, als er meinte, dass mit dem Nicht-Rauchen anzufangen, kinderleicht sei: „Das habe ich schon hundertmal geschafft“.
Vor allem in der westlichen Zivilisation, in der es um Überwindung und Sublimation geht, ist nicht der Anfang das Schwere, sondern das Weitermachen. In ihm liegen viele ethische Implikationen begründet, die nicht zuletzt auch eine moralische Verurteilung des Selbstmords beinhalten. Geboren zu werden, ist leicht, jeden Tag aufs Neue sich fürs Leben zu entscheiden und trotz aller Absurditäten weiterzumachen - das ist das Schwere.
Sisyphos, der bekanntlich dazu verdammt war, einen Felsblock jeden Tag aufs Neue einen Berg hinaufzuschleppen, tat dies in dem Bewusstsein, dass eben dieser Fels ihm kurz vor Erreichen des Ziels entgleiten und den Abhang wieder hinunterrollen würde. Jeden Tag aufs Neue. Dass man sich, nach Albert Camus, Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen muss, ist neben vielem anderen auch die Rechtfertigung unserer Arbeitsethik, ohne die Kapitalismus nicht funktionieren würde.
Die stirbt zuletzt - trotz aller gegenteiligen Erfahrung
Im Umkehrschluss bedeutet der Mythos von Sisyphos, dass Aufhören keine Alternative ist. Aufhören wäre Aufgeben, wäre das Eingeständnis des Scheiterns, die Kapitulation. Das klingt natürlich jetzt alles sehr existentiell und bombastisch, aber jeder kennt diesen psychologischen Effekt aus seinem eigenen, kleinen Leben.
Man liest ein Buch und stellt nach 100 Seiten fest, dass es einfach grottenschlecht ist. Und kann es trotzdem nicht zur Seite legen. Man hat schon soviel Zeit und Muße investiert, dass man sich diese Verschwendung nicht eingestehen mag. Und die Hoffnung, dass sich das Buch noch zum Vergnüglichen wenden möge, stirbt zuletzt - trotz aller gegenteiligen Erfahrung. Auch funktionieren viele Paarbeziehungen nach genau diesem Motto: nun sind wir schon so lange zusammen, da kann man sich doch nicht einfach trennen. Der Held erweist sich erst als Held im Durchhalten. In der Wirtschaftspsychologie spricht man von der „sunk-cost-fallacy“, also der Täuschung, dass man bereits so viel Geld in ein Projekt investiert hat, dass es doch gar nicht sein könne, daraus nicht doch noch einen positiven Effekt herauszuziehen. Und es wird weiter fleißig Geld hineingesteckt.
Am Beispiel einer Werbekampagne lässt sich das anschaulich verdeutlichen: ein Unternehmen investiert in die Entwicklung einer Kampagne und budgetiert eine Million Euro zur Schaltung der Anzeige in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen. Nachdem nun die erste Hälfte des Betrags geflossen ist, kommt die Monitoring-Abteilung des Unternehmens zu dem Schluss, dass die Kampagne keinen positiven Effekt erzielt. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kampagne nun sofort gestoppt wird und die 500.000 Euro als Fehlinvestition verbucht werden? Und wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Vorstand sogar das Budget noch erhöht, weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Manche Unternehmen sind daran schon zugrunde gegangen.
Nibelungentreue hatte einmal einen deutlich schlechteren Ruf als heute
In der Politik nennt man das Phänomen der „sunk-cost-fallacy“ auch den Concorde-Effekt, benannt nach jenem Überschall-Passagierflugzeug, das zuletzt nur noch zwischen London/Paris und New York eingesetzt wurde. Die Planung der „Königin der Lüfte“ begann bereits 1962 und wurde trotz Ölkrise 1973 und fehlender Lande- und Überfluggenehmigungen im Zuge der hohen Geräuschentwicklung nicht abgebrochen. Die Concorde ging 1976 in den von Beginn an unrentablen Betrieb und fand am 25. Juli 2000 ihr unrühmliches Ende, nachdem eine Maschine beim Start in Paris in Flammen aufgegangen war und 113 Menschen in den Tod gerissen hatte. Der ehemalige britische Finanzminister nannte die Concorde rückblickend „eine riesengroße Geldverschwendung“. Es war ein Prestigeobjekt der französischen und englischen Regierung und, wie so oft im staatlichen Sektor, ein Milliardengrab.
Es liegt nur wenig Forschungsmaterial zum Concorde-Effekt und der „fragwürdigen Persistenz“ (Ausdauer) vor. Warum halten Menschen auch dann noch an Zielen fest, wenn sie längst wissen, dass sie sie nie erreichen werden? Es ist eine Form der sturen Unvernunft, die sich aus Überheblichkeit, Machtgebaren, falschem Ehrgefühl und Angst vor Gesichtsverlust speist. Vor allem fehlen die objektiven Markierungen, ab welchem Punkt Ausdauer überhaupt als fragwürdig zu gelten hat.
Auf die aktuelle Lage übertragen: auch nach den krachend verlorenen Landtagswahlen bekräftigt die deutsche Bundeskanzlerin natürlich ihren Kurs in der Flüchtlingspolitik. Viele Menschen im Land halten diese Persistenz für höchst fragwürdig. Andere, zumeist die Wasserträger der Kanzlerin und die Medienvertreter, sehen in der Ausdauer ein Zeichen von Stärke. Nibelungentreue hatte einmal einen deutlich schlechteren Ruf als heute.
Nur funktionierende Institutionen können den Concord-Effekt besiegen
Nun kann man der Demokratie zugute halten, dass spätestens nach vier Jahren ein Spuk auch wieder vorbei ist. Frau Merkel mag das Symbol dieses Spuks sein, eine Verengung allein auf die Kanzlerin wäre jedoch naiv. Dass es seit einem Jahr in einer der größten und reichsten Demokratien der Erde keine tatkräftige Opposition mehr gibt, kann man als Zufall deuten und als Zeichen, dass die Kanzlerin das Richtige tut. Man kann es aber auch als deutsches Menetekel deuten, dass wir nur allzu gerne bereit sind, der guten Moral mehr zu vertrauen als dem demokratischen System der „checks and balances“.
Denn die einzige Garantie, dass der Concorde-Effekt sich nicht bis zum bitteren Ende durchzieht, liegt im Funktionieren der Institutionen, die geschaffen wurden, Amtsanmaßung und Machtmissbrauch zu kontrollieren und zu begrenzen. Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesverfassungsgericht, Landesregierungen - sie alle mögen in die Moralfalle der Kanzlerin getappt sein. Dass sie es weiterhin nicht schaffen, das Symbol einer restlos gescheiterten und gefährlichen Politik abzuwählen oder abzusetzen, lässt den Schluss zu, dass sich der Concorde-Effekt von der Kanzlerin auf alle demokratischen Institutionen übertragen hat. Inzwischen kann niemand mehr ernsthaft opponieren, ohne selbst das Gesicht zu verlieren.
Es gibt wenig gelungene Beispiele, dass der Concorde-Effekt freiwillig gestoppt wurde. Meist führt nur ein Unglück wie das am Flughafen Paris-Charles-de-Gaulle vom 25. Juli 2000 zu einer Änderung des Verhaltens. Welches Unglück könnte zu einer Verhaltensänderung unserer politischen Klasse führen? 21 Prozent für die AfD sind für die Kanzlerin und ihre Adepten offensichtlich noch nicht Unglück genug. So bleibt nur, weiter abzuwarten und am Himmel dem Vorbeiziehen der Flugzeuge zuzuschauen. Dass es wieder krachen wird, scheint die politische Klasse schon eingepreist zu haben.