Parlaments-Anträge, die eine Zweidrittel-Mehrheit erfordern, sind nach aktueller Lage in den nächsten vier Jahren tabu, die AfD könnte ja dafür sein. Was aber ist, wenn die Weltlage etwa wegen eines Krieges, Derartiges erfordert? Hier bricht sich fahrlässige Dummheit Bahn.
Wir stehen vor einer Legislaturperiode der völlig neuen Art. In der ein ungeschriebenes Gesetz herrschen wird, eine Einschränkung für die Bundestagsabgeordneten, der sich etwa drei Viertel von ihnen aus eigenen Stücken unterworfen haben. Dies, obwohl sie sich dadurch in einer – womöglich auch mal kriegsentscheidenden Frage – selbst in eine Zwangsjacke gesteckt haben. Ein wichtiges parlamentarisches Instrument schmeißen sie einfach weg, ohne Not. Und bislang unausgesprochen. Doch die besagte Änderung steht wie ein Elefant im parlamentarischen und im medial-öffentlichen Raum.
Wir stehen auch in einer globalen Umbruchsituation, in der Herausforderungen auf die Tagesordnung kommen könnten, wie wir sie in der Nachkriegszeit noch nicht erlebt haben. Der Westen ist mindestens im Um-, wenn nicht im Zusammenbruch. Der Krieg aus dem Osten könnte immer näher zu uns heranrücken. Die weltweite Migrationskrise, von der auch Deutschland stark betroffen ist, verlangt neue, grundsätzliche Antworten. Dazu kommen weitere, vor allem hausgemachte Probleme der Wirtschaft und der Energieversorgung.
Die wahre Angst der „Demokraten“ ist eine andere
All das müssen wir die kommenden vier Jahre bewältigen. Dabei aber ab sofort hoffen und bangen, dass keine fundamentalen Entscheidungen im Bundestag getroffen werden müssen. Auf jeden Fall keine, für deren Lösung eine Zweidrittel-Mehrheit erforderlich wäre. Anträge oder Initiativen, die auf solche Entscheidungen hinausliefen, sind für Union, SPD und Grüne ab sofort tabu.
Nein, nicht, weil sie fürchteten, dass diese Mehrheit wegen der seit der Wahl gegebenen Sperrminorität von AfD und Linken nicht zustande käme. Obwohl man gerade das ja dieser Tage aus der Diskussion um die Schuldenbremse herauslesen kann, oder besser: soll. Zwischen den Zeilen aber und aus der Erfahrung der letzten zwei Monate heraus darf man sich selbst zusammenreimen: Die weit größere Furcht besteht darin, dass solche Vorstöße ganz im Gegenteil erfolgreich sein könnten, also mit über zwei Dritteln der Stimmen aller Abgeordneten zu Gesetzesänderungen oder Beschlüssen führen könnten.
Also: Finger weg, wird die Devise lauten. Könnte doch eine erfolgreich erreichte Zweidrittelmehrheit bedeuten, dass womöglich die rechte AfD entscheidende Ja-Stimmen beigesteuert hätte. Oder die Kommunisten, Stalinisten, hiesige Vertreter der Hamas und wer sich noch alles tummelt in der Partei der Linken. Wobei letzteres wohl noch eher akzeptiert würde als ersteres. Die Brandmauer wäre jedenfalls dahin und damit „das Tor zur Hölle“ geöffnet, durch das SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich im Januar schon mal geblickt hatte, als die AfD einer Initiative der Union einmal zustimmte.
Einen Vorgeschmack auf diese wohl anstehenden vier Jahre ganz grundsätzlich ohne Zweidrittel-Entscheidungen erleben wir gerade dieser Tage. Im Zuge der Debatte darüber nämlich, ob man nicht kurz vor Toresschluss noch die Schuldenbremse modifizieren könnte. Und dafür – entgegen allen demokratischen Gepflogenheiten – schnell den am vergangenen Sonntag abgewählten Bundestag noch einmal wiederbeleben sollte.
Obwohl der am 11. Februar bereits mit einer letzten Sitzung feierlich verabschiedet wurde, wenn auch noch nicht aufgelöst. Politiker aus der CDU, der SPD und der Grünen, sogar welche der aus dem Parlament geflogenen FDP wollen jetzt ganz schnell noch einmal die alten Mehrheitsverhältnissen aktivieren und nutzen. Ganz so als entsprächen sie weiterhin dem Willen des Volkes – um die neuen Verhältnisse noch ein paar Wochen ignorieren zu können.
So haben sich die Väter des Grundgesetzes das nicht gedacht
In der Tat: Die Verfassung erfordert die ununterbrochene Existenz eines beschlussfähigen Parlaments, auch zwischen einer Wahl und der Inauguration des neuen Bundestages, seiner ersten Sitzung. Ungeschrieben doch aber allein für den Fall unaufschiebbarer, unvorhergesehener Notsituationen. So geschehen etwa bei der eiligen Entscheidung 1998 über den Nato-Einsatz im Kosovo-Krieg, als es auf Tage ankam. Jedenfalls ganz sicher nicht für die Möglichkeit, in dieser Interimszeit noch trickreich nach altem Proporz vollendete Tatsachen zu schaffen, nur weil sich abzeichnet, dass es bei den neuen Verhältnissen schwierig würde mit der keine Mehrheit. So haben das die „Väter des Grundgesetzes“ nicht gedacht mit dieser Interimszeit.
Jetzt ist die Sorge groß, dass eine von fast allen gewünschte Aufstockung der Mittel für die Bundeswehr im neugewählten Parlament womöglich nicht so durchzusetzen sei, wie dies bisher ablief, nämlich mit der „Mitte“ unter sich. Für beide dafür notwendige Varianten – Aufweichung der Schuldenbremse oder Einrichtung eines Sondervermögens – wäre eine Zweidrittel-Mehrheit nötig.
Aber wovor besteht die Angst nun? Wirklich davor, dass die Zweidrittel-Mehrheit nicht zustandekommt, wie es jetzt alle schreiben und sagen? Nach dem unfassbaren Theater um die Unions-Anträge in den letzten Januarwochen, im Zuge derer die Union die Zustimmung der AfD „in Kauf nahm“, wie man ihr absurderweise vorwarf, dürfen die aufgeweckteren unter den politischen Beobachtern mit Fug und Recht eher annehmen, dass die weit größere Furcht doch wohl davor besteht, dass die AfD zustimmt. Und das bei einer Frage, die das Grundgesetz angeht, man stelle sich vor. Das wäre, nach der Logik des Geschreis im Januar nicht mehr das Tor zur Hölle. Es wäre die Hölle selbst.
Die AfD-Strategen lesen auch Zeitung
Dass die aus Sicht der „Demokraten“ mildere Variante, also die erforderlichen zwei Drittel mithilfe der Linken, ist auszuschließen. Ebenso, dass AfD und Linke beide zustimmen, und dadurch die AfD-Stimmen nicht entscheidend wären, was man sich ja unter Umständen noch schönreden könnte (die Hamas-Freunde wären ja noch hofffähig). So oder so: Die Linke wird niemals für höhere Mittel für die Bundeswehr stimmen, schon gar nicht, wenn es erklärtermaßen um die Unterstützung der Ukraine gegen Russland geht.
Bei der AfD dagegen wäre eine Ablehnung keineswegs sicher. Erstens fordert die seit Jahr und Tag, auch im Programm, eine Aufstockung der Mittel im Wehretat. Zweitens hat sich Weidel im Wahlkampf keineswegs so eindeutig pro-russisch und anti-ukrainisch positioniert, wie dies aus der Partei noch vor einiger Zeit zu vernehmen war. Und drittens haben auch die AfD-Strategen in den letzten Januarwochen Zeitung gelesen und mitbekommen, wie sie punkten können, wenn sie mal mit den anderen mitstimmen.
Weidel und ihre Freunde einfach mal fragen
Natürlich wäre ein positives AfD-Votum Stand heute unsicher. Sowas wäre in der Partei auf allen Ebenen zumindest hochumstritten. Allerdings: auch die Taktik wäre dabei ein Kriterium. Das Naheliegendste wäre, es kommt einem fast blöd vor, darauf hinweisen zu müssen: Merz, auch Klingbeil könnten ja Weidel und ihre Freunde einfach mal fragen, wie sie das einschätzen, wohin würde hierbei die Reise wohl gehen?
Doch ganz offenbar wollen die „demokratischen Parteien“ der AfD innerparteiliche Diskussionen, die so etwas gewiss auslösen würde, ersparen. Man will die Partei lieber hinter der Brandmauer in ihrer heilen Welt ungestört das Geschehen beobachten und abwarten lassen, wie sie aus all dem ohne Zutun erneut weitere Wählerstimmen für den nächsten Urnengang generieren könnte.
Soll das jetzt die ganze kommende Legislaturperiode so weitergehen? Volksvertreter, die ein Fünftel der Wähler repräsentieren, anhaltend als Aussätzige links liegen lassen? Grundsätzlich keine Zweidrittel-Entscheidungen mehr auf den Weg bringen? Auch keine, die etwa das Wahlalter auf 16 senken würde, mithin eine Grundgesetzänderung? Halt, die steht ja wohl sowieso nicht mehr an, seit feststeht, wie sehr davon gerade auch die AfD profitieren konnte (erst jüngst auch die Linke).
Wie lange wollen sich Schwarz, Rot, Grün – und nun auch Dunkelrot – selbst in ihrer Brandmauer einschließen, um nichts hören, sagen und sehen zu müssen, mit nur einer Nutznießerin: die AfD? Eines steht fest: Die Mauer wird dauerhaft keinen Bestand haben, keine vier Jahre. Was sich allerdings alle Beteiligten klarmachen sollten: Je länger diese Spaltung geradezu krampfhaft aufrechterhalten wird, desto schwieriger wird die Position derjenigen, die dann über die Trümmer der Mauer mit der AfD ins Gespräch kommen wollen – nein, dann: müssen. Ob sie wollen oder nicht.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.